Liebhaber ist so ein schönes altmodisches, mehrdeutiges Wort, dass nicht mit "mein Freund" in die heutige Zeit übersetzt werden kann. Für Waltraud Schwabs ersten Roman "Brombeerkind" müsste das Publikum Liebhaberpreise zahlen. Aber das Leben da draußen funktioniert nach eigenen Regeln. Eigen – schon wieder so ein Wort, das nicht für die WhatsApp-Kommunikation taugt, in der alles Doppelbödige getilgt werden muss. Wegen der drohenden Missverständnisse. "Brombeerkind" führt eine Kunst vor, die man untergegangen glaubte. Die Kunst der Wortwahl.
In einigen Weddingromanen wird geboxt, da erpressen Clanchefs andere Leute oder polieren junge Frauen ihr Instaprofil. Kurz: Es geht roh zu. Waltraud Schwab entdeckt in dem Wort roh neben der Wortbedeutung brutal weitere Bedeutungen. Zum Beispiel heißt roh auch unabgeschlossen. „Mein Bekenntnis ist roh‟, beginnt die Hauptfigur auf den ersten Seiten. Das Wie, das Warum, all das weiß sie selbst noch nicht. Maria F. „hat sich vorgenommen, alles roh zu erzählen, höchstens die Schale abgezogen, wie die einer Zwiebel‟. Roh, das heißt auch: ungekocht, direkt, ohne Schnörkel. Waltraud Schwab gelingt mit dem Roman eine unter Autoren vergessene Kunst. Sie formt ein Werk aus einzelnen, wohlgeprüften Worten. Auf diese Weise setzt sie eine Geschichte zusammen, in der jedes Wort, jeder Satz und sogar jedes Kapitel klar und verständlich sind. Und doch ist der gesamte Roman verschlungen, gleicht einem Dschungel, einem Großstadtdschungel zwischen Togostraße und Himmelbeet am Leo. „Wie war es wirklich damals?‟ Das ist das eine Motiv des Romans. Langsam entblättert sich die Antwort auf diese Frage und der Leser dringt am Ende tatsächlich zum Kern von allem vor. Gleichzeitig bleibt ungewiss, wie es nun alles wirklich war. Was ist am Gesagten Realität und was ist nur ausgedacht? „Maria F. hat gelernt, sich in ein Parelleluniversum hineinzudenken‟, heißt es vorab. Wie eine Warnung. Leser mit einem rohen Gemüt sagen vielleicht, dass die Hauptfigur ist verrückt. Aber so einfach ist es natürlich nicht.
Die Geschichte spielt im Wedding. Togostraße, Parkdeck des alten real-Supermarktes, Müllerstraße. Die Orte sind genau bezeichnet. Gleichzeitig spielt die Geschichte nur im Kopf von Maria F. Alles fängt damit an, dass Maria F., die Hauptfigur, am Fenster steht und ein junges Mädchen auf der Straße beobachtet. Das ist die Grünäugige. Maria F. erklärt, dass sie deren Geschichte herausfinden will. Gleichzeitig will sie ihre eigene Geschichte erzählen. Aber behutsam, sacht, langsam. Stück für Stück. Das Brutale, Gewalt, Tod, all das kommt nicht in den ersten zehn Minuten zur Sprache. Erst müssen die Worte gefunden werden. Die bedeuten oft vielerlei.
Maria F. sucht Worte, vertraut auf die Kraft, die die Wörter von allein mitbringen. Da gibt es keinen Paukenschlag und keinen Pop. Es ist ein stilles Buch, eine stille Geschichte, die behutsam Fahrt aufnimmt. Der Leser muss sich einlassen. Auf das Buch und auf Maria F., die Hauptperson. Können wir das heute überhaupt noch? Uns auf Leute einlassen, die leise sind? Die sich nicht mit dem pausbäckigen Instagram wohlfühlen? Maria F. ist eine Außenseiterin. Vielleicht eine Verrückte. Denn sie stellt sich Menschen vor, die nicht vorhanden sind. Spricht mit ihnen. Schleicht sich in das Leben von einer realen Teenagerin ein, die sie beobachtet. Das zum Glück nur in Gedanken.
Sprache ist präzise. Es soll Stacheldraht heißen, nicht stachliger Draht, erklärt die Hauptfigur. Und entscheidet sich dann doch für die andere Art des Sprechens, „die keine Grenzen setzt, die Fenster öffnet.‟ Denn: „Gäbe es diese Wildheit in der Sprache nicht, wären die Leute Gefangene ihrer eigenen Sätze‟. Ein rätselhafter Satz, der wie ein Kalenderspruch klingt und doch dunkel bleibt. Zunächst.
Waltraud Schwab: Brombeerkind. 192 Seiten. ISBN 978-3-89741-450-1. Erschienen im Ulrike Helmer Verlag. Das Buch kostet 16 Euro.
Danke für den Tipp, Andrei, und einen guten Rutsch ins Neue Jahr für euch.
Ich bin gespannt auf das Buch.