Ausblick verpflichtet: ein Balkon, der einen Park überblickt, zwei rote Klappstühle und ganz viel Zeit. Grund genug, das Geschehen zu dokumentieren. Denn es gibt immer noch viel zu sehen.
Langsam gehen die Ansteckungen zurück, ein Ende der Kontaktsperre ist in Aussicht und Hefe ist auch schon wieder im Supermarktregal. Garniert mit Sonne, viel Selbstgemachtem und der richtigen Playlist kommt so durchaus gute Laune auf den Balkontisch.
I would walk 500 miles
Dienstag, 13:10 Uhr
Irgendwann im Laufe der vergangenen zwei Wochen hat sich die Stadt scheinbar kollektiv auf eine klare Regel bezüglich social distancing geeinigt: Wer kein Bananenbrot gebacken hat, war nicht dabei. Aber man muss ja nicht jeden blöden Trend mitmachen, dachte ich mir, und backte (buk?) – ganz individualistisch – ein Apfelbrot. Generell haben mein Freund und ich das Osterwochenende größtenteils gut essend und videotelefonierend auf dem Balkon verbracht. Entsprechend eng sitzt an diesem Dienstag im Homeoffice die Business-Jogginghose. Während einer sehr langen Videokonferenz, die eine sehr kurze E‑Mail hätte sein können, öffne ich die App, die meine Schritte zählt. Heute: unterer, zweistelliger Bereich. Nicht gut. Ich schalte die Kameraübertragung aus („Sorry, Leute, das Internet…“) und bestreite den Rest der Konferenz gehend. Auf dem Balkon. Wie ein Tiger in einem Käfig streife ich auf und ab, bis ich die belächelnden Blicke von den Spaziergehenden unten auf der Straße förmlich spüren kann. Nach weiteren zwanzig Minuten, die drei Zeilen hätten sein können, checke ich nochmal die App. Viel ist da nicht passiert. Außer dass mein Ehrgeiz geweckt wurde. Ich tigere weiter von Klappstuhl zu Klappstuhl. Nach knapp 5.000 Schritten wird mir schwindelig. Und das obwohl ich das Glück habe, einen relativ langen Balkon zu haben. Da geht mir plötzlich ein Licht auf – und meinem Laptop eins aus, weil ich ihn kurz entschlossen zuklappe. Wenig später erklimme ich die letzten Stufen und schaue ausnahmsweise von oben herab auf meine eigene Beobachtungsplattform. Ich stehe ganz oben auf dem Flakturm im Humboldthain: quasi ein Balkon, den sich ganz Wedding teilt und dessen Besuch Schrittzähler und Stimmung sofort in die Höhe treibt.
Tiny Dancer
Donnerstag. 16:15 Uhr
Ich glaube fest daran, dass das Wundern eine Alterserscheinung ist. Irgendwann legt man das Staunen ab – und wundert sich nur noch. So wie ich, als ich die beiden Jungs im Park erblicke. Sie tun etwas, was man Halbstarke dieses Alters (denn solche gibt es in jedem Alter) nur selten tun sieht: Sie tanzen. Als total hipper Medienmensch ist mir natürlich sofort klar, dass das nur ein Tik-Tok-Tanz sein kann. Was mich wundert, ist die Disziplin dahinter. Es werden verschiedene Einstellungen ausprobiert, die Choreografien leicht angepasst, die Dance Moves mit und ohne Jacke ausprobiert. Nach jedem Cut evaluieren die beiden über das Smartphone gebeugt die Aufnahmen. Der Tanz selbst wirkt eigentlich ganz einfach. Ich schmunzle über die Perfektionisten da unten und schaue mir eine Tik Tok Dance Compilation auf YouTube an. (Man hat ja sonst nichts zu tun.) Schnell habe ich meine persönliche Lieblingschoreo gefunden – als total hipper Medienmensch ist es natürlich eine Hommage an die „Tiger King“-Doku auf Netflix. Schon tanze ich selbst vor dem Badezimmerspiegel. Und bin mit der Komplexität der Tik-Tok-Moves haltlos überfordert. Mir wird klar, dass die eiserne Disziplin der beiden Jungs nicht völlig übertrieben, sondern schlichtweg unerlässlich ist. Da habe ich dann nicht schlecht gestaunt.