Aprilscherz Das Zeitgefühl ist perdü. Manch einer weiß nicht, welcher Wochentag gerade ist. Und noch weniger Menschen haben registriert, dass sie seit der Nacht von Sonnabend auf Sonntag in der falschen Stunde leben. Vom Wedding unbemerkt hat die Europäische Union in diesem Jahr wegen wichtigerer Sorgen die Zeitumstellung gestoppt. Jetzt ist der Wedding asynchron, ist aus der Zeit gefallen – aber will er überhaupt zeitgemäß sein?
Vielen Menschen ist bislang überhaupt nicht aufgefallen, dass sie der falschen Uhrzeit folgen. Grund: sie verlassen derzeit kaum ihre Wohnung und schon gar nicht Wedding. „Weil Klein Lily-Marlene nicht zur Schule muss, schauen wir morgens sowieso nicht mehr auf die Uhr“, sagt Vater Arndt Pauker. Offenbar tun die beiden dies auch den Rest des Tages nicht. „Seitdem ich Stubenbüro aufgebrummt bekommen habe und ich nicht mehr meine U‑Bahn siebzehn nach um schaffen muss, ist mir die Uhrzeit egal“, sagt Notargehilfin Sheyda Filkür. Auch habe nichts in der Zeitung gestanden. Dafür entschuldigt sich Tomislav Bucec, der die Weddinger Allgemeinen Zeitung herausgibt. Er sagt: „Wir wissen, dass die Weddinger außer unserem Blatt kaum eine andere Informationsquelle haben. Doch leider kam die Nachricht, die Uhren in Ruhe zu lassen, erst nach Redaktionsschluss.“ So haben die Weddinger ganz dem Takt der letzten Jahre folgend die Uhrzeit eine Stunde vorgestellt.
Viele Weddinger sind aber jetzt nicht bereit, die Zeiger wieder zurückzustellen, um sich mit dem Rest der Welt zu synchronisieren. Die Rebellen auf Zeit treffen sich beim Rebel Room Burger in der Seestraße. Sie wollen an der Sommerzeit festhalten und sagen: „Das ist unsere Zeit. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie spät es ist.“ Das wiederum ruft sogar die EU auf den Plan. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wendet sich mit einem aufwühlenden Appell direkt an die Weddinger: „Stellen Sie die Uhr zurück! Der europäische Zeitgeist steht auf der Kippe.“
Auch die Bezirkspolitik will gleichgültige und ablehnende Haltungen nicht hinnehmen. Bürgermeister Stephan von Dassel möchte schnell einen Zeitbeauftragten einstellen. Dieser soll erstmalig einen bezirklichen Zeitplan aufstellen. Zudem soll er Zeitfragen koordinieren. „Der neue Beauftragte wird darauf achten, dass bei allen Beschlüssen die Belange der Zeit berücksichtigt werden.“
Als Sofortmaßnahme verfügte von Dassel, dass ab sofort auf öffentlichen Spielplätzen ein generelles Uhr-Umstellungsverbot gilt. Außerdem dürfen nur noch maximal zwei Armbanduhren in der Öffentlichkeit getragen werden. Von Zeitreisen, und sei es auch nur nach Reinickendorf, solle vorübergehend abgesehen werden.
Die christlichen Kirchen wollen mit ihren Mitteln die Menschen zur Umkehr bewegen. Pfarrer Peter Paul (86 Jahre) von der Heiligkeits-Gemeinde hat sofort das Zeitliche gesegnet. Auch die muslimischen Glaubensvereine engagieren sich: “Alles, jeder Schritt im Allag, ist eine Frage der Zeit”, mahnt Iman Mohamad Frai Tak.
Es gibt auch Weddinger, die die Entwicklung vorausgeahnt haben. Joachim Faust, Gründer des Weddingweisers, wusste schon immer: „Im Wedding ticken die Uhren anders“. Auch für die Kunst ist das Thema Zeit kein neues. Die Galerie Wedding im Rathaus Müllerstraße habe schon früher temporäre Ausstellungen gemacht, so Kuratorin Sabine Graphyk.
Chronologe Dr. sec. Gegenward fordert die Menschen auf, das Problem ernst zu nehmen: „Wir stehen erst am Anfang einer Pantemporie.“ Das Weddinger Original Kalle vom Prime Time Theater redet den Menschen deshalb ins Gewissen. Sie sollen sich auf die allgemein gültige Zeit einstellen: „Dat üben wa’ jetz ma’. Wen oder wat stell’ ick?“*
Dominique Hensel und Andrei Schnell haben immer wenig Zeit, schmunzeln aber trotz allem gern.
*Für Nicht-Weddinger: Die Antwort lautet „Mir“.
Nach zeitlich unabhängigen Quellen, soll der Sachstand derzeit folgender sein:
Da die Bestellung eines Zeitbeauftragten aus eigenem Personalstamm derzeit nicht in so kurzer Zeit realisiert werden kann, wird zurzeit geprüft, ob diese Stelle nicht zeitnah durch einen Angestellten einer Zeitarbeitsfirma auf Zeit besetzt werden kann. Eine Abrechnung auf Stundenbasis wird nicht angestrebt, da bekanntlich Zeit Geld ist.
Susanne und Micha