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Wedding als Metapher für Nahost / Buchkritik

11. Dezember 2018
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Buchcover
Cover des Buches “Der neu-deut­sche Anti­se­mit”. Gra­fik: Hentrich-Hentrich-Verlag

11.12.2018: Nein, mit der Laub­sä­ge puz­zelt Arye Sharuz Shali­car nicht am Brett vor dem Kopf sei­ner Leser her­um – er wirft die ben­zin­ge­trie­be­ne Ket­ten­sä­ge an. Sein Buch “Der neu-deut­sche Anti­se­mit – Gehö­ren Juden heu­te zu Deutsch­land?” ist nicht für das abwä­gen­de Semi­nar gedacht. Es dient der schnel­len Dis­kus­si­on auf der Stra­ße, in der U‑Bahn oder im Büro. Für die­sen Zweck sind die pro­vo­kan­ten Behaup­tun­gen, knap­pen Argu­men­te und kur­zen Zusam­men­hän­ge grob geschnitzt. Ein Buch, wie wenn einer mit der Faust auf den Holz­tisch schlägt, dass es nur so kracht.

Und es kracht gewal­tig. Ohne Umstän­de bret­tert er in die Wohl­fühl­zo­ne: “Das Wort Isra­el­kri­tik gehört aus dem Duden gestri­chen.” Ohne Aus­ru­fe­zei­chen, damit der Satz noch mehr knallt. Und ehe der Leser Luft holen kann, um zu über­le­gen, ob das wirk­lich so gemeint sein kann: “Staat­li­che Leit­me­di­en , die wei­ter­hin über den Nah­ost­kon­flikt berich­ten, in dem die Juden die Haupt­rol­le spie­len, soll­ten Kür­zun­gen bekom­men.” Wer da nicht schnappt, der bekommt zu hören: “Sind rich­ti­ge Juden nur die Juden, die sich wie Scha­fe abschlach­ten las­sen? Nein danke.”

Israel ist wie ein einzelner Jude im Wedding

Pankstraße
U‑Bahn­hof-Pank­stra­ße. Foto: Weddingweiser

Um zu erklä­ren, wie die­se Sät­ze zu ver­ste­hen sind, schil­dert Arye Sharuz Shali­cars sei­ne Kind­heit im Wed­ding. Eine Kind­heit, die außer­halb sei­nes Eltern­hau­ses alles ande­re als Gebor­gen­heit bereit hielt. Sei­ne Rück­bli­cke berich­ten von Gewalt. “Mei­ne Jugend­jah­re waren ein ein­zi­ger Kampfs ums Über­le­ben. Ein Spieß­ru­ten­lauf. Die Angst beglei­te­te mich. Ich wuss­te, dass jeder Tag mein letz­ter sein könn­te.” Es geht kaum dra­ma­ti­scher. Um eine per­sön­li­che Auf­ar­bei­tung, eine bio­gra­phi­sche Ver­ar­bei­tung ist es ihm nicht zu tun. Es geht ihm um den Ver­gleich. Der Wed­ding der 1990er Jah­re dient ihm als Anschau­ung für die heu­ti­ge Situa­ti­on in Nah­ost. Er erzählt, wie ihn eine Paläs­ti­nen­ser-Gang am U‑Bahnhof Pank­stra­ße  ernied­rig­te und bru­tal schlug. So wird kon­kret, was er meint, wenn er sagt, dass für ihn “Isra­el im nahen Osten der ein­zi­ge jüdi­sche Staat”, weil auch er “damals im Wed­ding der ein­zi­ge Jude war”.  Es wird klar: Alles was die Exis­tenz Isra­els in Fra­ge stellt, so wie sein Leben in Fra­ge gestellt war, ist antisemitisch.

Israelkritik und Israelinteresse

Schild der Jerusalem-Bibliothek
Wie groß ist das Israelin­ter­es­se? Foto: And­rei Schnell

Falls sich jetzt jemand in sei­nen Ohren­ses­sel zurück­leh­nen woll­te (ach so, um die Paläs­ti­nen­ser geht es ihm), dem scheucht er auf: “Ich wun­de­re mich, wie manch einer zu behaup­ten wagt, dass die Zuwan­de­rer am neu­en deut­schen Anti­se­mi­tis­mus schuld sind”.

Aber wie ist das gemeint, wenn Arye Sharuz Shali­car Isra­el­kri­tik ver­bie­ten will? Muss man zu allem Ja und Amen sagen, was er als Pres­se­spre­cher der israe­li­schen Armee vor­trägt? Natür­lich nicht. Aber das Körn­chen Wahr­heit, das in die­sem Buch steckt, ist die Fra­ge: Wer zeigt eigent­lich Israelin­ter­es­se? Wer infor­miert sich über die Mei­nungs­viel­falt, die in Isra­el zu einer für deut­sche Ver­hält­nis­se sehr kom­ple­xen Par­tei­en­land­schaft geführt hat? Wer liest dar­über zum Bei­spiel bei der neu­tra­len Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung nach?

Ob Israelin­ter­es­se das Gegen­teil von Isra­el­kri­tik ist, dafür bleibt Arye Sharuz Shali­car auf den 164 Sei­ten sei­nes Büch­leins kei­ne Zei­ut. Als einer von vie­len offi­zi­el­len Spre­cher der israe­li­schen Armee hat er gelernt, auf den Punkt zu kom­men, wenn man dicke Bret­ter boh­ren möch­te. Und sein Punkt ist, dass alles anti­se­mi­tisch ist, was die Exis­tenz sei­nes Staa­tes in Fra­ge stellt. Leser, die das ver­stan­den haben, die kön­nen sich von ihm aus anschlie­ßend gern an die Laub­sä­ge­ar­bei­ten einer fun­dier­ten Dis­kus­si­on über israe­li­sche Tages­po­li­tik machen.

Weiterführende Links

Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung bie­tet aus­führ­li­che Infor­ma­tio­nen zum The­ma Isra­el
Arye Sharuz Shali­car stößt mit sei­ner offi­zi­el­len Face­book-Sei­te als Pres­se­spre­cher immer wie­der Dis­kus­sio­nen an

Anga­ben zum Buch:
Arye Sharuz Shali­car, “Der neu-deut­sche Anti­se­mit. Gehö­ren Juden heu­te zu Deutsch­land? Eine per­sön­li­che Ana­ly­se”, 164 Sei­ten, ISBN: 978−3−95565−271−5, erschie­nen 2018, 16,90 €
Link zur Eigen­dar­stel­lung des Buches im Ver­lag Hentrich und Hentrich
Sein vor­her­ge­hen­des Buch heißt Ein nas­ser Hund ist bes­ser als ein tro­cke­ner Jude

Autorenfoto Andrei Schnell

Für And­rei Schnell war das Buch “Der neu-deut­sche Anti­se­mit” kein leicht ver­dau­li­ches Lesehäppchen.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

2 Comments

  1. Dan­ke für die Rezen­si­on. Es ist die­ses Exis­ten­zi­el­le, die­ses “Leben oder Ster­ben”, was du gut beschreibst, und das ich auch aus den Dis­kus­sio­nen mit einem israe­li­schen Freund ken­ne. Aber das ist eben die Sicht des Mili­tärs, so wie bei uns im kal­ten Krieg. Inzwi­schen gibt es ja auch in Isra­el Men­schen, die das hinterfragen.

    • Du hast recht, er geht aufs Gan­ze, Zwi­schen­tö­ne sind nicht sein Ding. Freund oder Feind, Du gehörst zu mir oder du bist gegen mich. Das hat mich auch ver­wirrt. Aber sei­ne Fra­ge im Buch trifft auch einen Punkt: Wer kennt sich in den zahl­rei­chen Kon­flik­ten in und um Isra­el im gesam­ten Nahen Osten wirk­lich aus, obwohl er eine kla­re Mei­nung zur israe­li­schen Sied­lungs­po­li­tik hat?

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