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Ü60-Kolumne – Interview mit Waltraud Schwab:
Erst Rucksackberlinerin, dann Weddingerin

13. März 2024
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Wal­traud Schwab hat einen im Jahr 2021 ver­öf­fent­lich­ten Roman geschrie­ben, der im Wed­ding spielt. Aber eigent­lich kommt Wal­traud Schwab aus der süd­deut­schen Pro­vinz. Sie ist eine Ü60 im Wed­ding und sagt über sich selbst, sie sei eine, die man frü­her Ruck­sack­ber­li­ne­rin genannt hät­te. Lebens­er­fah­ren in, durch und zwi­schen den sze­ni­gen Stadt­tei­len Kreuz­berg und Wed­ding: Wal­traud Schwab stellt sich vor als Redak­teu­rin bei der taz und erzählt über ihr schon lan­ges Leben im Wedding.

Wal­traud Schwab. Foto: privat

Was hat Sie wann nach Ber­lin geführt; wie wur­den Sie Ruck­sack­ber­li­ne­rin?
Wal­traud Schwab: Ich zog 1977 zum Stu­die­ren nach West­ber­lin, damals, als es noch die Mau­er, die DDR und den Kal­tem Krieg gab. Mei­ne Eltern in der süd­deut­schen Pro­vinz schlu­gen die Hän­de über dem Kopf zusam­men, aber ich woll­te nur weg, weit weg. Es ist viel­leicht nicht mehr so leicht vor­stell­bar, wie sehr in Dör­fern damals noch damit gerun­gen wur­de, an tra­di­tio­nel­len Vor­stel­lun­gen fest­zu­hal­ten. Vor allem, was die Rol­le von Frau­en und die Macht der katho­li­schen Kir­che betraf. Wer da in Wider­spruch gegan­gen ist, so wie ich, der konn­te eigent­lich nur gehen. Die gebür­ti­gen Ber­li­ner und Ber­li­ne­rin­nen nann­ten so eine Zuge­zo­ge­ne, so eine Pro­vinz­flüch­ti­ge wie mich, frü­her Rucksackberlinerin.

Sie leben heu­te im Wed­ding. Haben Sie auch in ande­ren Ber­li­ner Bezir­ken gewohnt?
Wal­traud Schwab: Ja, in Kreuz­berg. Zwan­zig Jah­re mei­nes Lebens in der süd­deut­schen Pro­vinz, zwan­zig Jah­re in Kreuz­berg, 25 Jah­re im Wed­ding. Gut, ganz kommt es nicht hin. Ich leb­te auch mal ein Jahr in Dub­lin und drei Jah­re in Lon­don. In Kreuz­berg war ich eine Zeit­lang in der Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung. Ich dach­te, immer nur schimp­fen, wie schlimm alles sei, reicht nicht, ich müs­se auch ver­su­chen, es bes­ser zu machen. Und ich sage Ihnen, es bes­ser zu machen, ist echt ein schwie­ri­ger Job.

Leben Sie ger­ne im Wed­ding?
Wal­traud Schwab: Eigent­lich schon. Wenn ich in Ber­lin bin, habe ich das Gefühl, ich wer­de mit dem ech­ten Leben kon­fron­tiert. Einem, in dem die gesell­schaft­li­chen Brü­che, Umbrü­che und Wider­sprü­che spür­bar sind. Wenn ich in der Pro­vinz bin, oder auch in Zehlen­dorf, kommt es mir vor, als wäre ich auf einem ande­ren Planeten.

Sie haben einen Roman geschrie­ben, der in unse­rem Stadt­teil Wed­ding spielt, genau­er: zu einem gro­ßen Teil in der Togo­stra­ße. Der Roman heißt „Brom­beer­kind“…
Wal­traud Schwab: …ich muss sagen, dass ich den Titel „Nach­rich­ten aus der to-go-Stra­ße“ favo­ri­siert hät­te. Von einer befreun­de­ten Leh­re­rin wuss­te ich, dass vie­le Kin­der unter „Togo­stra­ße“ eher eine „to-go-Stra­ße“ ver­ste­hen. Aber Titel sind Verlagsentscheidungen.

Wie kam es dazu, dass Sie sich die Auf­ga­be, einen Roman über den eige­nen Stadt­teil zu schrei­ben, vor­nah­men?
Wal­traud Schwab: Ich bin Jour­na­lis­tin und da beschäf­tigt mich immer wie­der die Erfah­rung, dass mir die Wirk­lich­keit fan­tas­ti­scher vor­kommt als die Fik­ti­on. Was mir Men­schen sagen, was sie erlebt haben, das ist groß­ar­ti­ger als jede erfun­de­ne Geschich­te. Trotz­dem woll­te ich unbe­dingt wis­sen, wie man eine Geschich­te erfin­den muss, die den­noch glaub­haft wirkt. Ich woll­te einen Roman schrei­ben, hat­te aber kei­nen kon­kre­ten Plan, was dar­in pas­sie­ren soll­te. Irgend­wann setz­te ich mich hin, fing an und da tauch­te ziem­lich schnell im Text eine Frau auf, die am Fens­ter steht und es stell­te sich für mich die Fra­ge: Was sieht sie? Ich bin selbst ans Fens­ter gegan­gen, ich woh­ne in der Togo­stra­ße, und habe aus­ge­hend von dem, was ich sah, die Geschich­te wei­ter ent­wi­ckelt. So kam die Togo­stra­ße in den Roman. Und mit der Togo­stra­ße der Wedding.

Hat sich der Stadt­teil in dem Vier­tel­jahr­hun­dert, in dem Sie hier woh­nen, ver­än­dert?
Wal­traud Schwab: Es wur­de immer gesagt: „Der Wed­ding kommt anders“. Seit­her war­te ich dar­auf. Orte ver­än­dern sich. Mir kommt der Wed­ding heu­te ärmer und ver­dreck­ter vor als vor 25 Jah­ren. So vie­le Leu­te haben kei­nen Bezug mehr zum Ort, wo sie leben. Anders kann ich mir nicht erklä­ren, war­um sie ihren Müll über­all abstel­len. Vie­le haben das Gefühl für die Gemein­schaft ver­lo­ren und kei­ne Wahr­neh­mung, dass man auch Ver­ant­wor­tung über­neh­men soll­te dafür. Aber abge­se­hen davon: Dass sich Kieze ver­än­dern, sieht man in mei­nem Roman „Brom­beer­kind“. So vie­les, was dar­in vor­kommt, gibt es nicht mehr. Inklu­si­ve des Flug­lärms. Weil der Flug­lärm die Leu­te im Kiez ter­ro­ri­sier­te, flie­gen in mei­nem Roman auch stän­dig Flug­zeu­ge über die Häu­ser und wenn sie das tun, muss man jedes Gespräch unter­bre­chen. So wie es in Wirk­lich­keit war.

Wel­ches ist Ihr liebs­ter Ort im Wed­ding?
Wal­traud Schwab: Eigent­lich der Plöt­zen­see. Bis unge­fähr vor zehn Jah­ren bin ich fast jeden Tag im Som­mer dort schwim­men gewe­sen. Meist im Strand­bad. Aber vor allem seit Coro­na fin­de ich, dass am Plöt­zen­see mehr Rück­sichts­lo­sig­keit als Erho­lung herrscht. Die Ufer wer­den zer­tram­pelt, die Ruhe wird mit Musik, vor allem mit Bäs­sen, die einem in die Magen­gru­be fah­ren, zer­stört. Mir ist nicht klar, war­um das Bezirks­amt hin­nimmt, dass so ein schö­ner Park zur Par­ty­lo­ca­ti­on ver­kommt. War­um müs­sen alle beschallt wer­den, auch die, die Ruhe wol­len? Und das Strand­bad ist ja mitt­ler­wei­le eben­falls Par­ty­mei­le und Park­platz für Cara­vans. Musik ohne Ver­stär­ker wäre für mich zumin­dest eine Anfang, wie mehr Rück­sicht mög­lich wäre.

War­um zeich­nen Sie so ein düs­te­res Bild?
Wal­traud Schwab: Oh, das ist nicht mei­ne Absicht. Aber es gibt die öffent­li­che Wahr­neh­mung, dass die Armut zunimmt, dass mehr obdach­lo­se Men­schen im Kiez leben, dass der Crack-Kon­sum die Abhän­gi­gen aggres­si­ver macht. Das sind kei­ne schö­nen Aus­sich­ten. Ich sehe aber, dass sich vie­le Initia­ti­ven dage­gen stemmen.

In Ihrem Roman geht es auch nicht direkt freu­dig zu.
Wal­traud Schwab: Nur dass die Zer­stö­rung, die dar­in beschrie­ben wird, inner­lich ist. Ich bil­de den lang­wie­ri­gen Pro­zess ab, wie eine Frau, der etwas wider­fah­ren ist, das sie mit Schuld belas­tet, sich trotz des Schuld­ge­fühls wie­der der Welt zuwen­det. Also eine Ent­wick­lungs­pro­zess durch­läuft, der sie wie­der zum Mit­glied einer Gemein­schaft macht. Mal ehr­lich, die meis­ten von uns haben irgend­wann im Leben etwas getan, das nicht wirk­lich in Ord­nung war. Sei es, dass er oder sie jeman­den unschön ver­las­sen hat. Sei es, dass man jeman­dem etwas weg­ge­nom­men hat. Sei es, dass man einen Unfall ver­ur­sacht hat, bei dem Men­schen zu Scha­den kamen. Etwas, das, wenn man dar­an denkt, ein Gefühl von Schuld aus­löst. In mei­nem Roman geht es um die Aus­ein­an­der­set­zung damit.

Sie arbei­ten seit 2001 als Redak­teu­rin bei der taz. Wie kam es zu Ihrer Mit­wir­kung beim taz-Team und was sind Ihre jour­na­lis­ti­schen Schwer­punk­te?
Wal­traud Schwab: Ich woll­te immer schrei­ben, aber ich dach­te, vom Schrei­ben kann man nicht leben. Also habe ich ande­re Sachen gemacht und neben­her geschrie­ben. Für den Frei­tag, die taz, und ande­re Publi­ka­tio­nen. Irgend­wann hat­te ich kei­ne Lohn­ar­beits­al­ter­na­ti­ve als zu schrei­ben und geriet unver­se­hens in den Ber­lin-Hype der Neun­zi­ger Jahr, als alle gro­ßen Zei­tun­gen Lokal­tei­le in der Haupt­stadt hat­ten. Plötz­lich war ich freie Mit­ar­bei­te­rin bei der Frank­fur­ter Rund­schau (FR) und der F.A.Z. und schrieb Por­träts und Repor­ta­gen aus Ber­lin, das, was ich am liebs­ten mache. Eine Redak­teu­rin der FR wech­sel­te zur taz und frag­te mich, ob ich mit­kom­men wol­le. Ich tat es, ich hat­te näm­lich gera­de kei­ne Lust mehr aufs Klin­ken­put­zen, was man als freie Jour­na­lis­tin tun muss. In der taz war ich zuerst im Lokal­teil, jetzt bin ich im Gesellschaftsressort.

Sie haben eine schö­ne schlich­te Inter­net­sei­te, auf der Sie vie­le Ihrer Inter­views und Vor­lie­ben doku­men­tie­ren. Kann man sagen, Sie ken­nen mitt­ler­wei­le halb Ber­lin?
Wal­traud Schwab: Nein, das kann man nicht sagen. Ich bin kei­ne gro­ße Netz­wer­ke­rin. Ich war immer eher eine eigen­wil­li­ge Eigen­bröt­le­rin. Und als Jour­na­lis­tin ist man oft so eine Art Infor­ma­ti­ons­ver­dau­ungs­ma­schi­ne. Man nimmt Infor­ma­ti­on auf, ver­ar­bei­tet sie, spuckt sie aus und und wenn der Text gedruckt ist, ver­gisst man alles wie­der, weil schon wie­der Neu­es in einem ver­ar­bei­tet wird. Es kann sein, dass ich Leu­te nicht wie­der­erken­ne, die ich inter­viewt habe. Ich fin­de, das hier ist eine schö­ne Gele­gen­heit, sich zu ent­schul­di­gen, falls es jeman­dem pas­siert ist, dass ich ihn oder sie nicht wie­der­erkannt habe.

Wenn Sie sich etwas wün­schen dürf­ten, was wäre es?
Wal­traud Schwab: Dass wir acht­sam sind. Die Stim­mung in der Bevöl­ke­rung ist so schlecht und die Par­tei­en in der Oppo­si­ti­on hei­zen sie noch an, indem sie nicht auf ihre eige­ne Ver­ant­wor­tung schau­en, son­dern alles Schlech­te der Regie­rung in die Schu­he schie­ben. Viel­fach mit ver­kürz­ten und auch fal­schen Infor­ma­tio­nen machen sie Men­schen zu ihren will­fäh­ri­gen Hand­lan­gern. Das ist brand­ge­fähr­lich. Wir müs­sen gegen die Des­in­for­ma­ti­on der Rech­ten, aber eben auch der unver­ant­wort­li­chen Hal­tung vie­ler in der CDU/CSU, auf­ste­hen. Ich will kei­ne ver­roh­te Gesell­schaft. Ich will eine offe­ne und friedliche.

Inter­view: Rena­te Straet­ling; Bei­trags­fo­to im Titel: Dag­mar Morath 

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Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es freundlich, bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit fast 60 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegeschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Meine Beiträge zu meiner Kolumne Ü 60 habe ich für alle, die lieber analog lesen, in einem Sammelband zusammengefasst
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  1. Wie schön, dass Frau Schwab den Fin­ger in die Wun­den legt und auch aus ihrer sich auf die ste­tig wach­sen­den Müll­ber­ge in den Kiezen und das regel­mä­ßi­ge Par­ty­trei­ben am einst idyl­li­schen Plöt­zen­see hinweist.
    Bei letz­te­rem ist es lei­der nicht nur die unsäg­li­che dröh­nen­de Musik son­dern auch die diver­sen Hin­ter­las­sen­schaf­ten der Besu­cher (Piz­za­kar­tons, Fla­schen, Aus­schei­dun­gen etc.) sind abso­lut ekelig!
    Scha­de, dass das Ord­nungs­amt nicht öfter ein- und durchgreift!

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