Waltraud Schwab hat einen im Jahr 2021 veröffentlichten Roman geschrieben, der im Wedding spielt. Aber eigentlich kommt Waltraud Schwab aus der süddeutschen Provinz. Sie ist eine Ü60 im Wedding und sagt über sich selbst, sie sei eine, die man früher Rucksackberlinerin genannt hätte. Lebenserfahren in, durch und zwischen den szenigen Stadtteilen Kreuzberg und Wedding: Waltraud Schwab stellt sich vor als Redakteurin bei der taz und erzählt über ihr schon langes Leben im Wedding.
Was hat Sie wann nach Berlin geführt; wie wurden Sie Rucksackberlinerin?
Waltraud Schwab: Ich zog 1977 zum Studieren nach Westberlin, damals, als es noch die Mauer, die DDR und den Kaltem Krieg gab. Meine Eltern in der süddeutschen Provinz schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, aber ich wollte nur weg, weit weg. Es ist vielleicht nicht mehr so leicht vorstellbar, wie sehr in Dörfern damals noch damit gerungen wurde, an traditionellen Vorstellungen festzuhalten. Vor allem, was die Rolle von Frauen und die Macht der katholischen Kirche betraf. Wer da in Widerspruch gegangen ist, so wie ich, der konnte eigentlich nur gehen. Die gebürtigen Berliner und Berlinerinnen nannten so eine Zugezogene, so eine Provinzflüchtige wie mich, früher Rucksackberlinerin.
Sie leben heute im Wedding. Haben Sie auch in anderen Berliner Bezirken gewohnt?
Waltraud Schwab: Ja, in Kreuzberg. Zwanzig Jahre meines Lebens in der süddeutschen Provinz, zwanzig Jahre in Kreuzberg, 25 Jahre im Wedding. Gut, ganz kommt es nicht hin. Ich lebte auch mal ein Jahr in Dublin und drei Jahre in London. In Kreuzberg war ich eine Zeitlang in der Bezirksverordnetenversammlung. Ich dachte, immer nur schimpfen, wie schlimm alles sei, reicht nicht, ich müsse auch versuchen, es besser zu machen. Und ich sage Ihnen, es besser zu machen, ist echt ein schwieriger Job.
Leben Sie gerne im Wedding?
Waltraud Schwab: Eigentlich schon. Wenn ich in Berlin bin, habe ich das Gefühl, ich werde mit dem echten Leben konfrontiert. Einem, in dem die gesellschaftlichen Brüche, Umbrüche und Widersprüche spürbar sind. Wenn ich in der Provinz bin, oder auch in Zehlendorf, kommt es mir vor, als wäre ich auf einem anderen Planeten.
Sie haben einen Roman geschrieben, der in unserem Stadtteil Wedding spielt, genauer: zu einem großen Teil in der Togostraße. Der Roman heißt „Brombeerkind“…
Waltraud Schwab: …ich muss sagen, dass ich den Titel „Nachrichten aus der to-go-Straße“ favorisiert hätte. Von einer befreundeten Lehrerin wusste ich, dass viele Kinder unter „Togostraße“ eher eine „to-go-Straße“ verstehen. Aber Titel sind Verlagsentscheidungen.
Wie kam es dazu, dass Sie sich die Aufgabe, einen Roman über den eigenen Stadtteil zu schreiben, vornahmen?
Waltraud Schwab: Ich bin Journalistin und da beschäftigt mich immer wieder die Erfahrung, dass mir die Wirklichkeit fantastischer vorkommt als die Fiktion. Was mir Menschen sagen, was sie erlebt haben, das ist großartiger als jede erfundene Geschichte. Trotzdem wollte ich unbedingt wissen, wie man eine Geschichte erfinden muss, die dennoch glaubhaft wirkt. Ich wollte einen Roman schreiben, hatte aber keinen konkreten Plan, was darin passieren sollte. Irgendwann setzte ich mich hin, fing an und da tauchte ziemlich schnell im Text eine Frau auf, die am Fenster steht und es stellte sich für mich die Frage: Was sieht sie? Ich bin selbst ans Fenster gegangen, ich wohne in der Togostraße, und habe ausgehend von dem, was ich sah, die Geschichte weiter entwickelt. So kam die Togostraße in den Roman. Und mit der Togostraße der Wedding.
Hat sich der Stadtteil in dem Vierteljahrhundert, in dem Sie hier wohnen, verändert?
Waltraud Schwab: Es wurde immer gesagt: „Der Wedding kommt anders“. Seither warte ich darauf. Orte verändern sich. Mir kommt der Wedding heute ärmer und verdreckter vor als vor 25 Jahren. So viele Leute haben keinen Bezug mehr zum Ort, wo sie leben. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie ihren Müll überall abstellen. Viele haben das Gefühl für die Gemeinschaft verloren und keine Wahrnehmung, dass man auch Verantwortung übernehmen sollte dafür. Aber abgesehen davon: Dass sich Kieze verändern, sieht man in meinem Roman „Brombeerkind“. So vieles, was darin vorkommt, gibt es nicht mehr. Inklusive des Fluglärms. Weil der Fluglärm die Leute im Kiez terrorisierte, fliegen in meinem Roman auch ständig Flugzeuge über die Häuser und wenn sie das tun, muss man jedes Gespräch unterbrechen. So wie es in Wirklichkeit war.
Welches ist Ihr liebster Ort im Wedding?
Waltraud Schwab: Eigentlich der Plötzensee. Bis ungefähr vor zehn Jahren bin ich fast jeden Tag im Sommer dort schwimmen gewesen. Meist im Strandbad. Aber vor allem seit Corona finde ich, dass am Plötzensee mehr Rücksichtslosigkeit als Erholung herrscht. Die Ufer werden zertrampelt, die Ruhe wird mit Musik, vor allem mit Bässen, die einem in die Magengrube fahren, zerstört. Mir ist nicht klar, warum das Bezirksamt hinnimmt, dass so ein schöner Park zur Partylocation verkommt. Warum müssen alle beschallt werden, auch die, die Ruhe wollen? Und das Strandbad ist ja mittlerweile ebenfalls Partymeile und Parkplatz für Caravans. Musik ohne Verstärker wäre für mich zumindest eine Anfang, wie mehr Rücksicht möglich wäre.
Warum zeichnen Sie so ein düsteres Bild?
Waltraud Schwab: Oh, das ist nicht meine Absicht. Aber es gibt die öffentliche Wahrnehmung, dass die Armut zunimmt, dass mehr obdachlose Menschen im Kiez leben, dass der Crack-Konsum die Abhängigen aggressiver macht. Das sind keine schönen Aussichten. Ich sehe aber, dass sich viele Initiativen dagegen stemmen.
In Ihrem Roman geht es auch nicht direkt freudig zu.
Waltraud Schwab: Nur dass die Zerstörung, die darin beschrieben wird, innerlich ist. Ich bilde den langwierigen Prozess ab, wie eine Frau, der etwas widerfahren ist, das sie mit Schuld belastet, sich trotz des Schuldgefühls wieder der Welt zuwendet. Also eine Entwicklungsprozess durchläuft, der sie wieder zum Mitglied einer Gemeinschaft macht. Mal ehrlich, die meisten von uns haben irgendwann im Leben etwas getan, das nicht wirklich in Ordnung war. Sei es, dass er oder sie jemanden unschön verlassen hat. Sei es, dass man jemandem etwas weggenommen hat. Sei es, dass man einen Unfall verursacht hat, bei dem Menschen zu Schaden kamen. Etwas, das, wenn man daran denkt, ein Gefühl von Schuld auslöst. In meinem Roman geht es um die Auseinandersetzung damit.
Sie arbeiten seit 2001 als Redakteurin bei der taz. Wie kam es zu Ihrer Mitwirkung beim taz-Team und was sind Ihre journalistischen Schwerpunkte?
Waltraud Schwab: Ich wollte immer schreiben, aber ich dachte, vom Schreiben kann man nicht leben. Also habe ich andere Sachen gemacht und nebenher geschrieben. Für den Freitag, die taz, und andere Publikationen. Irgendwann hatte ich keine Lohnarbeitsalternative als zu schreiben und geriet unversehens in den Berlin-Hype der Neunziger Jahr, als alle großen Zeitungen Lokalteile in der Hauptstadt hatten. Plötzlich war ich freie Mitarbeiterin bei der Frankfurter Rundschau (FR) und der F.A.Z. und schrieb Porträts und Reportagen aus Berlin, das, was ich am liebsten mache. Eine Redakteurin der FR wechselte zur taz und fragte mich, ob ich mitkommen wolle. Ich tat es, ich hatte nämlich gerade keine Lust mehr aufs Klinkenputzen, was man als freie Journalistin tun muss. In der taz war ich zuerst im Lokalteil, jetzt bin ich im Gesellschaftsressort.
Sie haben eine schöne schlichte Internetseite, auf der Sie viele Ihrer Interviews und Vorlieben dokumentieren. Kann man sagen, Sie kennen mittlerweile halb Berlin?
Waltraud Schwab: Nein, das kann man nicht sagen. Ich bin keine große Netzwerkerin. Ich war immer eher eine eigenwillige Eigenbrötlerin. Und als Journalistin ist man oft so eine Art Informationsverdauungsmaschine. Man nimmt Information auf, verarbeitet sie, spuckt sie aus und und wenn der Text gedruckt ist, vergisst man alles wieder, weil schon wieder Neues in einem verarbeitet wird. Es kann sein, dass ich Leute nicht wiedererkenne, die ich interviewt habe. Ich finde, das hier ist eine schöne Gelegenheit, sich zu entschuldigen, falls es jemandem passiert ist, dass ich ihn oder sie nicht wiedererkannt habe.
Wenn Sie sich etwas wünschen dürften, was wäre es?
Waltraud Schwab: Dass wir achtsam sind. Die Stimmung in der Bevölkerung ist so schlecht und die Parteien in der Opposition heizen sie noch an, indem sie nicht auf ihre eigene Verantwortung schauen, sondern alles Schlechte der Regierung in die Schuhe schieben. Vielfach mit verkürzten und auch falschen Informationen machen sie Menschen zu ihren willfährigen Handlangern. Das ist brandgefährlich. Wir müssen gegen die Desinformation der Rechten, aber eben auch der unverantwortlichen Haltung vieler in der CDU/CSU, aufstehen. Ich will keine verrohte Gesellschaft. Ich will eine offene und friedliche.
Interview: Renate Straetling; Beitragsfoto im Titel: Dagmar Morath
Zum Weiterlesen
- Waltraud Schwabs Internetseite: www.waltraud-schwab.de
- Waltraud Schwab über Waltraud Schwab: http://waltraud-schwab.de/category/ueber-mich
- Waltraud Schwab: Brombeerkind, Ulrike Helmer Verlag, 2021, 192 Seiten, ISBN 978−3−89741−450−1
- Rezension von “Brombeerkind” auf dem Weddingweiser: Weddingroman für Buchliebhaber
- Waltraud Schwab: Berlin ist eine Frau, Jaron Verlag Berlin. 2005. Nur noch antiquarisch erhältlich
- Vorstellung der Autorin beim Ulrike Helmer Verlag
- Profil der taz-Redakteurin Waltraud Schwab: https://taz.de/Waltraud-Schwab/!a80/
- Instagram-Kanal von Waltraus Schwab: wa_wab.un_art
Wie schön, dass Frau Schwab den Finger in die Wunden legt und auch aus ihrer sich auf die stetig wachsenden Müllberge in den Kiezen und das regelmäßige Partytreiben am einst idyllischen Plötzensee hinweist.
Bei letzterem ist es leider nicht nur die unsägliche dröhnende Musik sondern auch die diversen Hinterlassenschaften der Besucher (Pizzakartons, Flaschen, Ausscheidungen etc.) sind absolut ekelig!
Schade, dass das Ordnungsamt nicht öfter ein- und durchgreift!