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Von Kriegszeug und Zuckerschrippen

31. Juli 2014
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Autorin Alex­an­dra Resch im Gespräch mit Han­ne­lo­re Jahn (links).

Wenn Han­ne­lo­re Jahn an ihre Kind­heit denkt, huscht ihr ein Lächeln über die Lip­pen. Sie wur­de 1941 gebo­ren und ist in einer tur­bu­len­ten Zeit auf­ge­wach­sen. Trotz­dem hat sie vie­le glück­li­che Erin­ne­run­gen an ihre Kind­heit im Sol­di­ner Kiez. Kin­der sehen die Welt eben doch mit ande­ren Augen.

In der ehe­ma­li­gen Hut­fa­brik im Hin­ter­hof des Hau­ses Prin­zen­al­lee 58 war immer viel los, erzählt Han­ne­lo­re Jahn. Bis zu 100 Kin­der leb­ten hier zeit­wei­se unter einem Dach. Mit ihrer Mut­ter und ihrem klei­nen Bru­der bewohn­te Frau Jahn eine Ein-Zim­mer-Woh­nung mit Zen­tral­hei­zung und Bade­zim­mer. Einen Kühl­schrank hat­ten sie kei­nen. Lüf­ten war nur mög­lich, wenn auch die Nach­barn gegen­über Türen und Fens­ter öff­ne­ten. Man leb­te damals dicht bei­ein­an­der. Das mag den Erwach­se­nen schwer gefal­len sein, die Kin­der aber mach­ten sich die­se Nähe zum Spiel. Wenn die klei­ne Han­ne­lo­re etwa in die Bade­wan­ne stieg, tat ihre Freun­din aus der Nach­bar­woh­nung es ihr gleich, so dass die bei­den durch die dün­ne Bade­zim­mer­wand hin­durch mit­ein­an­der „tele­fo­nie­ren“ und Geheim­nis­se aus­tau­schen konnten.

Der Innen­hof war das Revier der Kinder

rezept_tafelViel Platz hat­ten Frau Jahn und ihre Fami­lie nicht, aber ihre Mut­ter ver­such­te stets, es den Kin­dern so gemüt­lich wie mög­lich zu machen. Da Tape­ten zu teu­er waren, tünch­te sie die Wän­de in hel­lem Grün. Sie ver­leg­te selbst Kabel und räum­te die Möbel immer wie­der um. „Na, Mama, wo steht mein Bett heu­te?“, scherz­te der klei­ne Bru­der oft, wenn er von der Schu­le nach­hau­se kam. War es drin­nen doch mal zu eng, wur­de der Innen­hof zum Revier der Kin­der. Mit ihren Spiel­sa­chen und Pup­pen leg­ten sie sich auf Decken in die Son­ne oder spiel­ten Ball gegen die Gie­bel­wand. „Zum Spie­len war immer jemand da“, sagt Frau Jahn.

Manch­mal schall­te eine beson­ders belieb­te Stim­me über den Hof: „Hal­looo-hoo, will jemand Scho­ko­küs­se?“ Wenn in der Bon­bon-Fabrik hin­term Haus mal etwas übrig war, ver­teil­ten die Mit­ar­bei­ter die Über­bleib­sel an die Kin­der im Hof. Neben Scho­ko­küs­sen und Bon­bons gab es auch noch bun­ten Pfef­fer­minz­bruch. Ansons­ten hat­ten die Kin­der der Nach­kriegs­zeit nicht viel zum Naschen. Aber das stör­te Frau Jahn wenig. Ihr Lieb­lings­re­zept für eine selbst­ge­mach­te, süße Zwi­schen­mahl­zeit ver­rät sie uns auch: Zucker­schrip­pen. Außer­dem war da ja noch der Eis­la­den an der Ecke Goten­bur­ger Stra­ße. Für eine Mark konn­te man dort an hei­ßen Tagen eine gro­ße Por­ti­on Erfri­schung kaufen.

An der Pan­ke fühl­ten sich die Kin­der “ganz weit weg”

Die Goten­bur­ger, so erzählt Frau Jahn, war damals die inof­fi­zi­el­le Spiel­stra­ße. Autos fuh­ren hier noch kaum, Kin­der auf Roll­schu­hen bil­de­ten die Haupt­ver­kehrs­teil­neh­mer und im Som­mer wur­den Stra­ßen­fes­te ver­an­stal­tet. Da war die Oslo­er Stra­ße schon gefähr­li­cher – wenn sich der Mit­tel­strei­fen nicht so aus­ge­zeich­net als Rodel­bahn geeig­net hät­te … Frau Jahn und ihre Freun­de kann­ten sich gut aus im Kiez. Bis zum Bür­ger­park lie­fen sie, um sich im Som­mer im dor­ti­gen Plansch­be­cken abzu­küh­len. Die Ufer der Pan­ke wur­den mit den Jah­ren immer zugäng­li­cher, mehr und mehr ver­schwand das „Kriegs­zeug“ aus dem Fluss­bett. Dort zu spie­len war nicht gern gese­hen, für Frau Jahn aber ein beson­de­res Erleb­nis: „Man fühl­te sich auf ein­mal ganz weit weg.“

In die Schu­le ging die klei­ne Han­ne­lo­re immer ger­ne. Auch wenn der ers­te Schul­tag nicht ganz rei­bungs­los ver­lief. Ihr klei­ner Bru­der platz­te wäh­rend der ers­ten Stun­de in ihre Klas­se, um sei­ne Schwes­ter wie­der heim­zu­ho­len – wie pein­lich! „Ich war stink­sauer“, erin­nert sich Jahn lachend. Beson­ders eine Leh­re­rin blieb im Gedächt­nis, eine jun­ge Frau aus Ber­nau, von den Schü­lern lie­be­voll „unse­re Pascha“ genannt. Ein­mal mach­te Pascha spon­tan einen Aus­flug mit ihrer Klas­se. Die Fried­rich­stra­ße und Unter den Lin­den zeig­te sie ihnen, mit den viel­sa­gen­den Wor­ten: „Ihr müsst das sehen. Wer weiß, was kommt.“ Dass etwas im Kom­men war, das merk­ten auch Frau Jahn und ihr Bru­der: immer dann, wenn sie Gewürz­gur­ken kauf­ten und ihre Oma im Osten besuch­ten. Die Mau­er hat Frau Jahns Groß­mutter nicht mehr erlebt. Aber schon in den Jah­ren davor wur­den die Geschwis­ter jedes Mal, wenn sie an der Ber­nau­er Stra­ße „rüber­spa­zier­ten“, von der VoPo ange­spro­chen. „Man hat gespürt, dass etwas anders war“, sagt Frau Jahn heute.

Berüh­ren­de Kriegs­ge­schich­ten aus dem Sol­di­ner Kiez

Es sind die klei­nen Anek­do­ten, die einen am meis­ten berüh­ren, wenn Han­ne­lo­re Jahn von ihrem Auf­wach­sen in einer so geschichts­träch­ti­gen Zeit in Ber­lin erzählt: vom Kleid, das die Mut­ter aus den Küchen­gar­di­nen für sie näh­te oder von dem Stück Sei­fe aus dem ame­ri­ka­ni­schen Care-Paket, in das ein klei­ner Jun­ge gebis­sen hat­te, weil er es für Mar­zi­pan hielt. Die berüh­rends­te Geschich­te, die sie uns erzählt, ist die mit den Mur­meln. Wie selbst­ver­ständ­lich – denn so war es nun mal – erzählt Jahn von den Ein­schuss­lö­chern am Boden im Haus­flur, die sich ganz aus­ge­zeich­net zum Mur­mel­spie­len eig­ne­ten. All die­se Geschich­ten zeu­gen von der ein­zig­ar­ti­gen Fähig­keit von Kin­dern, selbst in dunk­len Zei­ten den Blick für das Simp­le und Schö­ne nicht zu ver­lie­ren. Und von einer Frau, die sich die­sen Blick bis heu­te bewahrt hat.

Der Text ist im “Sol­di­ner – Das Maga­zin vom Kiez an der Pan­ke” erschie­nen. Der Sol­di­ner hat uns den Bei­trag im Rah­men einer Medi­en­part­ner­schaft zur Ver­fü­gung gestellt.

Text: Alex­an­dra Resch, Fotos: Domi­ni­que Hensel

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