Wenn Hannelore Jahn an ihre Kindheit denkt, huscht ihr ein Lächeln über die Lippen. Sie wurde 1941 geboren und ist in einer turbulenten Zeit aufgewachsen. Trotzdem hat sie viele glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit im Soldiner Kiez. Kinder sehen die Welt eben doch mit anderen Augen.
In der ehemaligen Hutfabrik im Hinterhof des Hauses Prinzenallee 58 war immer viel los, erzählt Hannelore Jahn. Bis zu 100 Kinder lebten hier zeitweise unter einem Dach. Mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder bewohnte Frau Jahn eine Ein-Zimmer-Wohnung mit Zentralheizung und Badezimmer. Einen Kühlschrank hatten sie keinen. Lüften war nur möglich, wenn auch die Nachbarn gegenüber Türen und Fenster öffneten. Man lebte damals dicht beieinander. Das mag den Erwachsenen schwer gefallen sein, die Kinder aber machten sich diese Nähe zum Spiel. Wenn die kleine Hannelore etwa in die Badewanne stieg, tat ihre Freundin aus der Nachbarwohnung es ihr gleich, so dass die beiden durch die dünne Badezimmerwand hindurch miteinander „telefonieren“ und Geheimnisse austauschen konnten.
Der Innenhof war das Revier der Kinder
Viel Platz hatten Frau Jahn und ihre Familie nicht, aber ihre Mutter versuchte stets, es den Kindern so gemütlich wie möglich zu machen. Da Tapeten zu teuer waren, tünchte sie die Wände in hellem Grün. Sie verlegte selbst Kabel und räumte die Möbel immer wieder um. „Na, Mama, wo steht mein Bett heute?“, scherzte der kleine Bruder oft, wenn er von der Schule nachhause kam. War es drinnen doch mal zu eng, wurde der Innenhof zum Revier der Kinder. Mit ihren Spielsachen und Puppen legten sie sich auf Decken in die Sonne oder spielten Ball gegen die Giebelwand. „Zum Spielen war immer jemand da“, sagt Frau Jahn.
Manchmal schallte eine besonders beliebte Stimme über den Hof: „Hallooo-hoo, will jemand Schokoküsse?“ Wenn in der Bonbon-Fabrik hinterm Haus mal etwas übrig war, verteilten die Mitarbeiter die Überbleibsel an die Kinder im Hof. Neben Schokoküssen und Bonbons gab es auch noch bunten Pfefferminzbruch. Ansonsten hatten die Kinder der Nachkriegszeit nicht viel zum Naschen. Aber das störte Frau Jahn wenig. Ihr Lieblingsrezept für eine selbstgemachte, süße Zwischenmahlzeit verrät sie uns auch: Zuckerschrippen. Außerdem war da ja noch der Eisladen an der Ecke Gotenburger Straße. Für eine Mark konnte man dort an heißen Tagen eine große Portion Erfrischung kaufen.
An der Panke fühlten sich die Kinder “ganz weit weg”
Die Gotenburger, so erzählt Frau Jahn, war damals die inoffizielle Spielstraße. Autos fuhren hier noch kaum, Kinder auf Rollschuhen bildeten die Hauptverkehrsteilnehmer und im Sommer wurden Straßenfeste veranstaltet. Da war die Osloer Straße schon gefährlicher – wenn sich der Mittelstreifen nicht so ausgezeichnet als Rodelbahn geeignet hätte … Frau Jahn und ihre Freunde kannten sich gut aus im Kiez. Bis zum Bürgerpark liefen sie, um sich im Sommer im dortigen Planschbecken abzukühlen. Die Ufer der Panke wurden mit den Jahren immer zugänglicher, mehr und mehr verschwand das „Kriegszeug“ aus dem Flussbett. Dort zu spielen war nicht gern gesehen, für Frau Jahn aber ein besonderes Erlebnis: „Man fühlte sich auf einmal ganz weit weg.“
In die Schule ging die kleine Hannelore immer gerne. Auch wenn der erste Schultag nicht ganz reibungslos verlief. Ihr kleiner Bruder platzte während der ersten Stunde in ihre Klasse, um seine Schwester wieder heimzuholen – wie peinlich! „Ich war stinksauer“, erinnert sich Jahn lachend. Besonders eine Lehrerin blieb im Gedächtnis, eine junge Frau aus Bernau, von den Schülern liebevoll „unsere Pascha“ genannt. Einmal machte Pascha spontan einen Ausflug mit ihrer Klasse. Die Friedrichstraße und Unter den Linden zeigte sie ihnen, mit den vielsagenden Worten: „Ihr müsst das sehen. Wer weiß, was kommt.“ Dass etwas im Kommen war, das merkten auch Frau Jahn und ihr Bruder: immer dann, wenn sie Gewürzgurken kauften und ihre Oma im Osten besuchten. Die Mauer hat Frau Jahns Großmutter nicht mehr erlebt. Aber schon in den Jahren davor wurden die Geschwister jedes Mal, wenn sie an der Bernauer Straße „rüberspazierten“, von der VoPo angesprochen. „Man hat gespürt, dass etwas anders war“, sagt Frau Jahn heute.
Berührende Kriegsgeschichten aus dem Soldiner Kiez
Es sind die kleinen Anekdoten, die einen am meisten berühren, wenn Hannelore Jahn von ihrem Aufwachsen in einer so geschichtsträchtigen Zeit in Berlin erzählt: vom Kleid, das die Mutter aus den Küchengardinen für sie nähte oder von dem Stück Seife aus dem amerikanischen Care-Paket, in das ein kleiner Junge gebissen hatte, weil er es für Marzipan hielt. Die berührendste Geschichte, die sie uns erzählt, ist die mit den Murmeln. Wie selbstverständlich – denn so war es nun mal – erzählt Jahn von den Einschusslöchern am Boden im Hausflur, die sich ganz ausgezeichnet zum Murmelspielen eigneten. All diese Geschichten zeugen von der einzigartigen Fähigkeit von Kindern, selbst in dunklen Zeiten den Blick für das Simple und Schöne nicht zu verlieren. Und von einer Frau, die sich diesen Blick bis heute bewahrt hat.
Der Text ist im “Soldiner – Das Magazin vom Kiez an der Panke” erschienen. Der Soldiner hat uns den Beitrag im Rahmen einer Medienpartnerschaft zur Verfügung gestellt.
Text: Alexandra Resch, Fotos: Dominique Hensel
Bravo, ein sehr guter Artikel!!
Noch mehr solche Zeitzeugen!!