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Die Künstlerin Silvia Nettekoven aus dem Soldiner Kiez:
Über das Antike in uns

10. Oktober 2023

Die Freu­de an der krea­ti­ven Tätig­keit. Die Fähig­kei­ten, zu stau­nen, zu beob­ach­ten, zu fra­gen und Bögen vom Eige­nen zum Ande­ren zu span­nen. Der fes­te Wil­le, drin­gen­den Fra­gen auf den Grund zu gehen. So stellt Sil­via Net­te­ko­ven ihren Wer­de­gang vor. Die bil­den­de Künst­le­rin aus dem Sol­di­ner Kiez befasst sich mit Fra­gen, die sich in die erleb­ten Tie­fen der Zei­ten und die des Bewusst­seins der Mensch­heit bewe­gen. Wie sie dabei vor­geht, erklärt sie in die­sem Inter­view, in dem es auch um ihre Aus­stel­lung geht. Die­se eröff­net am Sonn­tag (15.10.) im Milch­hof-Pavil­lon im Nachbarbezirk.

Wie­so hast Du Wed­ding (bezie­hungs­wei­se Gesund­brun­nen) als Wohn­ort gewählt?
Sil­via Net­te­ko­ven: Den Wed­ding habe ich als Wohn­ort gewählt, weil er mich an Kreuz­berg erin­nert, wie es frü­her war. Ich kam 1980 nach West­ber­lin und leb­te bis zum Mau­er­fall in Kreuz­berg. Ich mag im Wed­ding die Mischung von Mul­ti­kul­ti und Kunst-Orten. Ich mag das Leben auf den Stra­ßen, auch wenn mir nicht alles gefällt, was ich sehe. Alles in allem ist es sehr leben­dig hier, ein gutes Lebens­ge­fühl. Außer­dem habe ich es vom Sol­di­ner Kiez nicht weit zu mei­nem Ate­lier in Mitte.

Bil­der von Sil­via Net­te­ko­ven: Changes

Das ist inter­es­sant: Wie bist du dazu gekom­men?
Sil­via Net­te­ko­ven: Ich bin schon seit ein paar Jah­ren dabei. Der Milch­hof ist ein selbst­ver­wal­te­tes Ate­lier­haus, das heißt, wir müs­sen uns um alle Belan­ge selbst küm­mern, dazu tref­fen wir uns in Ver­samm­lun­gen, es wird demo­kra­tisch über alles abge­stimmt und wir bil­den oft Arbeits­grup­pen zu bestimm­ten Vor­ha­ben. Das ist manch­mal nicht ein­fach, es gibt sehr unter­schied­li­che Per­sön­lich­kei­ten im Ate­lier­haus und die Mei­nun­gen sind viel­fäl­tig. Bis jetzt ist es uns immer gelun­gen Kom­pro­mis­se zu fin­den und kon­struk­tiv unse­re Gemein­schaft fort­zu­füh­ren, das Ate­lier­haus hat sich gut ent­wi­ckelt und ist ein wich­ti­ger Bestand­teil der Ber­li­ner Kunstszene. 

Wie blickst du auf dei­ne Auf­trä­ge?
Sil­via Net­te­ko­ven: Da das Ein­kom­men über die freie Kunst oft­mals nicht für den Lebens­un­ter­halt reicht, neh­me ich auch Auf­trä­ge als Gra­fi­ke­rin, Zeich­ne­rin, Illus­tra­to­rin und Schnei­de­rin an. Das ist ziem­lich abwechs­lungs­reich und ich ler­ne dadurch viel. Die­se Tätig­kei­ten (Jobs) beein­flus­sen auch mei­ne künst­le­ri­sche Arbeit. Ehren­amt­lich enga­gie­re ich mich für die Ate­lier­ge­mein­schaft Milch­hof e.V. und für den Sol­di­ner Kiez e.V., im Jahr 2020 habe ich mit­ge­hol­fen, das Eli­sa­Beet an der Wollank­stra­ße 66 urbar zu machen.

Mei­ne künst­le­ri­sche Inspi­ra­ti­on schöp­fe ich aus mir selbst. Die The­men an denen ich arbei­te haben viel mit mei­ner per­sön­li­chen Bio­gra­fie zu tun. Es gab natür­lich Vor­bil­der, zum Bei­spiel mein Pro­fes­sor für Male­rei, Mar­wan, war ein Vor­bild (und ist es eigent­lich heu­te noch).

West­ber­lin und spe­zi­ell Kreuz­berg in den 1980er Jah­ren war inspi­rie­rend, wegen des ganz beson­de­ren Lebens­ge­fühls. Damals, als Stu­den­tin, jobb­te ich eini­ge Jah­re in einer Knei­pe in Schö­ne­berg, es waren wil­de Zei­ten, man war viel nachts unter­wegs, Ver­nis­sa­gen, Kon­zer­te… Es gibt die­sen Spruch: Wer sich an die 80er Jah­re in West­ber­lin erin­nern kann, der war nicht dabei! Die Male­rei erhielt damals einen neu­en Anschub durch die Grup­pe der „Neu­en Wil­den“ in West­ber­lin, das hat uns als Studentent:innen natür­lich geprägt.

Bil­der von Sil­via Net­te­ko­ven: Chan­ges (links); Sil­hou­et­te-Atti­sche-Leky­thos (ob. re.); Sil­hou­et­te-rekon­stru­ie­ren­de-Zeich­nung-Keramei­kos (unten lks.)

Wie siehst du dein bis­he­ri­ges Werk? Was liegt dir künst­le­risch am Her­zen?
Sil­via Net­te­ko­ven: Mein Werk besteht aus ver­schie­de­nen Pro­jek­ten bezie­hungs­wei­se Seri­en, die for­mal sehr unter­schied­lich sein kön­nen, ich arbei­te in unter­schied­li­chen Sti­len und mit unter­schied­li­chen Mate­ria­li­en, zum Bei­spiel auch mit Tex­ti­li­en. Ich ver­su­che mich durch die künst­le­ri­sche Arbeit den exis­ten­ti­el­len Fra­gen des Lebens zu nähern, und ich fin­de die Ent­wick­lung, die in mei­nem Werk zu erken­nen ist, bezeich­nend. Wich­tig ist mir der Pro­zess der Arbeit, das Expe­ri­men­tie­ren, die ver­geb­li­chen Ver­su­che, das Rin­gen um ein Ergeb­nis. Mir geht es um Leben­dig­keit und Ent­wick­lung. Wäh­rend des Arbeits­pro­zes­ses ver­su­che ich mich durch eine spie­le­ri­sche und archai­sche Her­an­ge­hens­wei­se tie­fe­ren Ebe­nen zu öff­nen, so dass Inhal­te aus dem Unbe­wuss­ten sicht­bar wer­den können.

Was ist da erkenn­bar? Gibt es einen roten Faden oder sprung­haf­te Ent­wick­lun­gen?
Sil­via Net­te­ko­ven: Es ist eine spi­ral­för­mi­ge Ent­wick­lung, ich umkrei­se mei­ne The­men immer wie­der von ande­ren Sei­ten. Ich wür­de sagen, mei­ne künst­le­ri­sche Arbeit wird immer authentischer.

Du betonst ein State­ment von Andrej Tar­kow­skij, ein Fil­me­ma­cher, der 1986 ver­starb. Wo oder wodurch bist du in die­ser Kunst­auf­fas­sung Tarkowskij‘s loka­li­sier­bar?
Sil­via Net­te­ko­ven: Der fol­gen­den Aus­sa­ge von Andrej Tar­kow­skij*, schlie­ße ich mich an: Das Ziel jed­we­der Kunst ist, sich selbst und der Umwelt den Sinn des Lebens und der mensch­li­chen Exis­tenz zu erklä­ren. Also den Men­schen klar zu machen, was der Grund und das Ziel ihres Seins auf unse­rem Pla­ne­ten ist. Oder es ihnen viel­leicht auch gar nicht zu erklä­ren, son­dern ihnen ledig­lich die­se Fra­ge zu stellen. 

Tarkowskij’s Fil­me haben eine Viel­schich­tig­keit, sie beschrei­ben kei­ne kon­kre­ten Hand­lungs­ab­läu­fe, die Bil­der über­la­gern sich, sie haben etwas Traum­ähn­li­ches. In den Fil­men wer­den all­ge­mein­gül­ti­ge psy­chi­sche Grund­zu­stän­de bild­lich dar­ge­stellt. Eine zeit­li­che Ein­ord­nung ist kaum mög­lich, Ver­gan­gen­heit, Gegen­wart und Zukunft sind mit­ein­an­der ver­mengt. Das sehe ich als eine Ver­wandt­schaft zu mei­ner künst­le­ri­schen Arbeit an.

Wie erklärst du in die­sem Zusam­men­hang dei­ne aktu­el­le Aus­stel­lung und das Titel­the­ma „Now is life very solid or very shif­ting?“
Sil­via Net­te­ko­ven: Der Titel ist ein Zitat von Vir­gi­nia Woolf**. In mei­ner Aus­stel­lung geht es um die Fra­ge, wie begrenzt eigent­lich unser mensch­li­ches Bewusst­sein ist und ob es Ver­bin­dun­gen in die Tie­fe (die Ver­gan­gen­heit, das Unbe­wuss­te) und in die Brei­te (die ande­ren Lebe­we­sen, die Natur) gibt. Die The­men, die mich gedank­lich beschäf­ti­gen und denen ich nach­for­sche fin­den sich auch in mei­ner Kunst wie­der, aktu­ell in mei­ner Ein­zel­aus­stel­lung im Pavil­lon am Milch­hof: Die Aus­stel­lung geht der Fra­ge nach, wie und in wel­cher Form längst Ver­gan­ge­nes aus der Mensch­heits­ge­schich­te unbe­wusst durch unse­ren Kör­per in die Jetzt­zeit über­mit­telt wer­den kann. Es geht um Kör­per­hal­tun­gen und Ges­ten, die unbe­wusst im Schlaf statt­fin­den und deren Ent­spre­chun­gen in anti­ken und stein­zeit­li­chen Arte­fak­ten. Ist es mög­lich, dass längst Ver­gan­ge­nes aber unser Kör­per­ge­dächt­nis oder über das Unbe­wuss­te in uns prä­sent ist? Zu die­sem The­ma habe ich aus unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven Gesprä­che mit Expert:innen aus vie­len Fach­rich­tun­gen geführt und die Ergeb­nis­se in einem Buch, das zu der Aus­stel­lung erschei­nen wird, zusammengefasst.

Nun, ich sage es mal so, bist du auch im Klub der Ü 60-Jäh­ri­gen. Wirst du dei­ne Arbei­ten fort­set­zen oder hast du Lust auf etwas Ande­res?
Sil­via Net­te­ko­ven: Wenn man etwas lei­den­schaft­lich ger­ne macht, dann stellt sich die Fra­ge doch gar nicht, ob man mit Ein­tritt ins Ren­ten­al­ter damit auf­hö­ren soll­te. Im Gegen­teil! Ich freue mich dar­auf, dann mehr Zeit für mei­ne künst­le­ri­sche Arbeit zu haben! 

Erklärungen

* And­rei Tar­kow­skij, „Die ver­sie­gel­te Zeit.” Gedan­ken zur Kunst, zur Ästhe­tik und Poe­tik des Films.
** Vir­gi­nia Woolf, „A Writer’s Dia­ry“  Vir­gi­nia Woolf, 4 Janu­ary 1929, The Dia­ry of Vir­gi­nia Woolf, vol. 3, 1925–1930 

Die aktuelle Ausstellung der Künstlerin

Now is life very solid or very shif­ting?, Ein inter­dis­zi­pli­nä­res Kunst-Pro­jekt von Sil­via Net­te­ko­ven,
Ver­nis­sa­ge: Sonn­tag, 15. Okto­ber 2023, 15 Uhr
Aus­stel­lungs­dau­er: 15. Okto­ber bis 12. Novem­ber 2023
Aus­stel­lungs­ort: Pavil­lon am Milch­hof, Schwed­ter Str. 232, 10435 Berlin

Buch zur Aus­stel­lung: “Now is life very solid, or very shif­ting?”, Ein inter­dis­zi­pli­nä­res Kunst-Pro­jekt von Sil­via Net­te­ko­ven, ISBN: 978−3−9822440−5−1, Ver­lag: Eine Art Fabrik

Über Silvia Nettekoven

  • seit 1991 frei­schaf­fen­de Künst­le­rin Berlin
  • 1991 Meis­ter­schü­le­rin der Hoch­schu­le der Küns­te Berlin
  • 1985 bis 1991 Stu­di­um an der Hoch­schu­le der Küns­te Ber­lin, Male­rei, bei Prof. Marwan
  • 1980 bis 1985 Stu­di­um an der Hoch­schu­le der Küns­te Ber­lin, Bekleidungsdesign
  • 1958 gebo­ren

Sti­pen­di­en

  • 2021 NEUSTART KULTUR, Stif­tung Kul­tur­werk VG Bild-Kunst
  • 1993 bis 1994 Sti­pen­di­um nach dem Nach­wuchs­för­de­rungs­ge­setz (NaFöG), Berlin
  • 1993 DAAD Rei­se­sti­pen­di­um (Mexi­co, Peru, Bolivien)

Weitere Informationen

Inter­view und Text: Rena­te Straetling

Renate Straetling

Ich lebe seit dem Jahr 2007 in Berlin-Wedding, genauer gesagt im Brüsseler Kiez - und ich bin begeistert davon. Wir haben es bunt ohne Überspanntheit.
Jg. 1955, aufgewachsen in Hessen. Seit dem Jahr 1973 zum Studium an der FU Berlin bin ich in dieser damals noch grauen und zerschossenen Stadt. Mittlerweile: Sozialforschung, Projekte. Seit 2011 auch Selfpublisherin bei www.epubli.de mit etwa 55 Titeln. Ich verfasse Anthologien, Haiku, Lesegschichten, Kindersachbücher und neuerdings einen ökologisch orientierten Jugend-SciFi (für Kids 11+) "2236 - ein road trip in einer etwas entfernteren Zukunft" (Verlagshaus Schlosser, 28.11.22).-
Ich habe noch viel vor!
www.renatestraetling.wordpress.com

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