Die Freude an der kreativen Tätigkeit. Die Fähigkeiten, zu staunen, zu beobachten, zu fragen und Bögen vom Eigenen zum Anderen zu spannen. Der feste Wille, dringenden Fragen auf den Grund zu gehen. So stellt Silvia Nettekoven ihren Werdegang vor. Die bildende Künstlerin aus dem Soldiner Kiez befasst sich mit Fragen, die sich in die erlebten Tiefen der Zeiten und die des Bewusstseins der Menschheit bewegen. Wie sie dabei vorgeht, erklärt sie in diesem Interview, in dem es auch um ihre Ausstellung geht. Diese eröffnet am Sonntag (15.10.) im Milchhof-Pavillon im Nachbarbezirk.
Wieso hast Du Wedding (beziehungsweise Gesundbrunnen) als Wohnort gewählt?
Silvia Nettekoven: Den Wedding habe ich als Wohnort gewählt, weil er mich an Kreuzberg erinnert, wie es früher war. Ich kam 1980 nach Westberlin und lebte bis zum Mauerfall in Kreuzberg. Ich mag im Wedding die Mischung von Multikulti und Kunst-Orten. Ich mag das Leben auf den Straßen, auch wenn mir nicht alles gefällt, was ich sehe. Alles in allem ist es sehr lebendig hier, ein gutes Lebensgefühl. Außerdem habe ich es vom Soldiner Kiez nicht weit zu meinem Atelier in Mitte.
Bilder von Silvia Nettekoven: Changes
Das ist interessant: Wie bist du dazu gekommen?
Silvia Nettekoven: Ich bin schon seit ein paar Jahren dabei. Der Milchhof ist ein selbstverwaltetes Atelierhaus, das heißt, wir müssen uns um alle Belange selbst kümmern, dazu treffen wir uns in Versammlungen, es wird demokratisch über alles abgestimmt und wir bilden oft Arbeitsgruppen zu bestimmten Vorhaben. Das ist manchmal nicht einfach, es gibt sehr unterschiedliche Persönlichkeiten im Atelierhaus und die Meinungen sind vielfältig. Bis jetzt ist es uns immer gelungen Kompromisse zu finden und konstruktiv unsere Gemeinschaft fortzuführen, das Atelierhaus hat sich gut entwickelt und ist ein wichtiger Bestandteil der Berliner Kunstszene.
Wie blickst du auf deine Aufträge?
Silvia Nettekoven: Da das Einkommen über die freie Kunst oftmals nicht für den Lebensunterhalt reicht, nehme ich auch Aufträge als Grafikerin, Zeichnerin, Illustratorin und Schneiderin an. Das ist ziemlich abwechslungsreich und ich lerne dadurch viel. Diese Tätigkeiten (Jobs) beeinflussen auch meine künstlerische Arbeit. Ehrenamtlich engagiere ich mich für die Ateliergemeinschaft Milchhof e.V. und für den Soldiner Kiez e.V., im Jahr 2020 habe ich mitgeholfen, das ElisaBeet an der Wollankstraße 66 urbar zu machen.
Meine künstlerische Inspiration schöpfe ich aus mir selbst. Die Themen an denen ich arbeite haben viel mit meiner persönlichen Biografie zu tun. Es gab natürlich Vorbilder, zum Beispiel mein Professor für Malerei, Marwan, war ein Vorbild (und ist es eigentlich heute noch).
Westberlin und speziell Kreuzberg in den 1980er Jahren war inspirierend, wegen des ganz besonderen Lebensgefühls. Damals, als Studentin, jobbte ich einige Jahre in einer Kneipe in Schöneberg, es waren wilde Zeiten, man war viel nachts unterwegs, Vernissagen, Konzerte… Es gibt diesen Spruch: Wer sich an die 80er Jahre in Westberlin erinnern kann, der war nicht dabei! Die Malerei erhielt damals einen neuen Anschub durch die Gruppe der „Neuen Wilden“ in Westberlin, das hat uns als Studentent:innen natürlich geprägt.
Bilder von Silvia Nettekoven: Changes (links); Silhouette-Attische-Lekythos (ob. re.); Silhouette-rekonstruierende-Zeichnung-Kerameikos (unten lks.)
Wie siehst du dein bisheriges Werk? Was liegt dir künstlerisch am Herzen?
Silvia Nettekoven: Mein Werk besteht aus verschiedenen Projekten beziehungsweise Serien, die formal sehr unterschiedlich sein können, ich arbeite in unterschiedlichen Stilen und mit unterschiedlichen Materialien, zum Beispiel auch mit Textilien. Ich versuche mich durch die künstlerische Arbeit den existentiellen Fragen des Lebens zu nähern, und ich finde die Entwicklung, die in meinem Werk zu erkennen ist, bezeichnend. Wichtig ist mir der Prozess der Arbeit, das Experimentieren, die vergeblichen Versuche, das Ringen um ein Ergebnis. Mir geht es um Lebendigkeit und Entwicklung. Während des Arbeitsprozesses versuche ich mich durch eine spielerische und archaische Herangehensweise tieferen Ebenen zu öffnen, so dass Inhalte aus dem Unbewussten sichtbar werden können.
Was ist da erkennbar? Gibt es einen roten Faden oder sprunghafte Entwicklungen?
Silvia Nettekoven: Es ist eine spiralförmige Entwicklung, ich umkreise meine Themen immer wieder von anderen Seiten. Ich würde sagen, meine künstlerische Arbeit wird immer authentischer.
Du betonst ein Statement von Andrej Tarkowskij, ein Filmemacher, der 1986 verstarb. Wo oder wodurch bist du in dieser Kunstauffassung Tarkowskij‘s lokalisierbar?
Silvia Nettekoven: Der folgenden Aussage von Andrej Tarkowskij*, schließe ich mich an: Das Ziel jedweder Kunst ist, sich selbst und der Umwelt den Sinn des Lebens und der menschlichen Existenz zu erklären. Also den Menschen klar zu machen, was der Grund und das Ziel ihres Seins auf unserem Planeten ist. Oder es ihnen vielleicht auch gar nicht zu erklären, sondern ihnen lediglich diese Frage zu stellen.
Tarkowskij’s Filme haben eine Vielschichtigkeit, sie beschreiben keine konkreten Handlungsabläufe, die Bilder überlagern sich, sie haben etwas Traumähnliches. In den Filmen werden allgemeingültige psychische Grundzustände bildlich dargestellt. Eine zeitliche Einordnung ist kaum möglich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind miteinander vermengt. Das sehe ich als eine Verwandtschaft zu meiner künstlerischen Arbeit an.
Wie erklärst du in diesem Zusammenhang deine aktuelle Ausstellung und das Titelthema „Now is life very solid or very shifting?“
Silvia Nettekoven: Der Titel ist ein Zitat von Virginia Woolf**. In meiner Ausstellung geht es um die Frage, wie begrenzt eigentlich unser menschliches Bewusstsein ist und ob es Verbindungen in die Tiefe (die Vergangenheit, das Unbewusste) und in die Breite (die anderen Lebewesen, die Natur) gibt. Die Themen, die mich gedanklich beschäftigen und denen ich nachforsche finden sich auch in meiner Kunst wieder, aktuell in meiner Einzelausstellung im Pavillon am Milchhof: Die Ausstellung geht der Frage nach, wie und in welcher Form längst Vergangenes aus der Menschheitsgeschichte unbewusst durch unseren Körper in die Jetztzeit übermittelt werden kann. Es geht um Körperhaltungen und Gesten, die unbewusst im Schlaf stattfinden und deren Entsprechungen in antiken und steinzeitlichen Artefakten. Ist es möglich, dass längst Vergangenes aber unser Körpergedächtnis oder über das Unbewusste in uns präsent ist? Zu diesem Thema habe ich aus unterschiedlichen Perspektiven Gespräche mit Expert:innen aus vielen Fachrichtungen geführt und die Ergebnisse in einem Buch, das zu der Ausstellung erscheinen wird, zusammengefasst.
Nun, ich sage es mal so, bist du auch im Klub der Ü 60-Jährigen. Wirst du deine Arbeiten fortsetzen oder hast du Lust auf etwas Anderes?
Silvia Nettekoven: Wenn man etwas leidenschaftlich gerne macht, dann stellt sich die Frage doch gar nicht, ob man mit Eintritt ins Rentenalter damit aufhören sollte. Im Gegenteil! Ich freue mich darauf, dann mehr Zeit für meine künstlerische Arbeit zu haben!
Erklärungen
* Andrei Tarkowskij, „Die versiegelte Zeit.” Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films.
** Virginia Woolf, „A Writer’s Diary“ Virginia Woolf, 4 January 1929, The Diary of Virginia Woolf, vol. 3, 1925–1930
Die aktuelle Ausstellung der Künstlerin
Now is life very solid or very shifting?, Ein interdisziplinäres Kunst-Projekt von Silvia Nettekoven,
Vernissage: Sonntag, 15. Oktober 2023, 15 Uhr
Ausstellungsdauer: 15. Oktober bis 12. November 2023
Ausstellungsort: Pavillon am Milchhof, Schwedter Str. 232, 10435 Berlin
Buch zur Ausstellung: “Now is life very solid, or very shifting?”, Ein interdisziplinäres Kunst-Projekt von Silvia Nettekoven, ISBN: 978−3−9822440−5−1, Verlag: Eine Art Fabrik
Über Silvia Nettekoven
- seit 1991 freischaffende Künstlerin Berlin
- 1991 Meisterschülerin der Hochschule der Künste Berlin
- 1985 bis 1991 Studium an der Hochschule der Künste Berlin, Malerei, bei Prof. Marwan
- 1980 bis 1985 Studium an der Hochschule der Künste Berlin, Bekleidungsdesign
- 1958 geboren
Stipendien
- 2021 NEUSTART KULTUR, Stiftung Kulturwerk VG Bild-Kunst
- 1993 bis 1994 Stipendium nach dem Nachwuchsförderungsgesetz (NaFöG), Berlin
- 1993 DAAD Reisestipendium (Mexico, Peru, Bolivien)
Weitere Informationen
- Künstlerisches Statement der Künstlerin: https://silvia-nettekoven.de/kuenstlerisches-statement/
- Gedanken zum Werk der Künstlerin von Anka Paula Böttcher: https://silvia-nettekoven.de/text-anke-paula-boettcher/
- Text zur Ausstellung “Changes” (2015): https://silvia-nettekoven.de/text-spitzmueller/
- Webseite des Atelierhauses Milchhofs: http://milchhofpavillon.de/
Interview und Text: Renate Straetling