Die meisten der in den letzten Jahren populär geworden Kiezspaziergänge beschäftigen sich mit der Gegenwart oder der Zukunft. Mit der Stadtteilkoordination zu neuen Projekten im Kiez, mit dem Stadtrat zu neu entstehenden Orten oder künftigen Schauplätzen des Kiezlebens. Den Blick zurück versuchte der Kiezspaziergang entlang der Panke am Freitag (17.11.), zurück auf ein dunkles Kapitel der Geschichte. „Spuren der NS-Zwangsarbeit entlang der Panke“ wurden gesucht, das Interesse an der Veranstaltung war sehr groß.
Die Fakten, Orte und Erinnerungen zum Thema Zwangsarbeit liegen nicht auf der Straße. Wer von den Schicksalen der Zwangsarbeiter:innen erfahren möchte, muss in die Archive gehen, private Unterlagen sichten, zuhören und Teile zusammenfügen. Eine systematische Aufarbeitung des Themas für den Soldiner Kiez oder den Wedding gibt es nicht. Bisher gibt es einzelne Puzzle-Steine. Christian Weber vom Dokumentationszentrum NS Zwangsarbeit in Schöneweide hatte es für die fast 50 Teilnehmenden des Kiezspaziergangs übernommen, die vorhandenen Informationen zu vermitteln. Von der Fabrik Osloer Straße bis fast zum Bahnhof Wollankstraße führte der Spaziergang an der Panke entlang. An sechs Stationen machte die Gruppe halt und erfuhr von den Menschen, die an den Stationen in Holzbaracken lebten oder Zwangsarbeit leisteten.
Als 17-jähriger verschleppt und zur Arbeit gezwungen
So erfuhren die Teilnehmer:innen des Spaziergangs zum Beispiel von Nikolai Tandura, der in einer Baracke am heutigen Werner-Kluge-Sportplatz in der Kühnemannstraße wohnte und in der Maschinenfabrik A. Roller (heute Fabrik Osloer Straße) für die Rüstungsindustrie arbeiten musste. Als 17-jähriger war der Urkainer 1942 in den Wedding verschleppt worden. Christian Weber skizzierte den Weg des Zwangsarbeiters, las einige kurze Erinnerungen vor, die er 2004 bei einem Besuch seines früheren Zwangsarbeitsplatzes im Soldiner Kiez hinterlassen hat.
Weitere Schicksale kamen zur Sprache, sie zeugen von von einem Alltag unter Zwang, von Gewalt und menschenunwürdigen Bedingungen für die Zwangsarbeiter:innen. „Es waren Millionen von Menschen betroffen. Mindestens 13 Millionen Menschen wurden innerhalb des Deutschen Reiches als Zwangsarbeiter:innen eingesetzt, allein in Berlin waren es während des Zweiten Weltkriegs fast eine halbe Million Menschen“, ordnete Christian Weber die Einzelschicksale ein. Dass überall auch an der Panke Baracken und Lager für diese Menschen standen, wunderte die Teilnehmenden des Kiezspaziergangs daher nicht auch wenn von ihnen heute nichts mehr zu sehen ist. Ohne kompetente Unterstützung könnte man heute die Spuren nicht mehr finden.
Gedenkzeichen an der Fabrik Osloer Straße geplant
„Es berührt mich wie viele Menschen sich für das Thema interessieren und an diesem kalten Tag gekommen sind“, sagte Bettina Pinzl von „Demokratie in der Mitte“ (DIM). Zusammen mit dem Projekt „Mal laut gedacht. Politische Bildung im Kiez“, das ebenfalls in der Fabrik Osloer Straße angesiedelt ist, und mit Unterstützung der Berliner Landeszentrale für politische Bildung hatte DIM diesen ersten Spaziergang organisiert und ein sehr hilfreiches Begleit-Faltblatt erstellt. Auch für die Mitarbeiter:innen der Fabrik Osloer Straße wie sie selbst„ so Bettina Pinzl, sei das ein wichtiges Projekt, denn in der Fabrik waren früher eine noch unbekannte Zahl von Zwangsarbeiter:innen eingesetzt. Daran erinnert heute nichts mehr, viele heutige Mitarbeiter:innen der Fabrik wüssten nichts von dieser Vergangenheit. „Ein Ziel für die Zukunft ist es daher auch, ein Gedenkzeichen für die Fabrik zu entwerfen und anzubringen“, sagt Bettina Pinzl.
Der Kiezspaziergang zu den „Spuren der NS-Zwangsarbeit entlang der Panke“ wird am 21. Januar 2024 wiederholt. Start ist um 11 Uhr an der Fabrik Osloer Straße. Einen Monat später, am 22. Februar 2024, findet eine Geschichtswerkstatt zum Thema „Gedenken an die NS-Zwangsarbeit in der Fabrik Osloer Straße“ in der Osloer Straße 12 statt.
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Mehr über Zwangsarbeit in Berlin gibt es beim Dokumentationszentrum NS Zwangsarbeit in Schöneweide. Informationen sind über die Webseite www.ns-zwangsarbeit.de zu finden. Dort gibt es auch die Möglichkeit, frühere Lager zu recherchieren (Direktlink https://www.ns-zwangsarbeit.de/recherche/lagerdatenbank/), auch einige Lager in Wedding und Gesundbrunnen sind aufgeführt.
Transparenzhinweis: Der Kiezspaziergang an der Panke wurde von “Demokratie in der Mitte” und “Mal laut gedacht. Politische Bildung im Kiez” organisiert, zwei Projekten des Stadtteil- und Familienzentrums der Fabrik Osloer Straße. Unsere Autorin Dominique Hensel ist Vorständin im Verein Fabrik Osloer Straße e.V.