Meinung Alle zwei Jahre legt die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zeitversetzt neue amtliche Zahlenkolonnen über die letzten zwei Jahre vor, die Auskunft geben sollen, wie es um die soziale Lage in unseren Kiezen steht. Wie viele Bewohnerinnen und Bewohner sind arbeitslos? Wie viele leben von Transferleistungen, weil sie nicht von ihrer Arbeit leben können oder weil sie zum Beispiel aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht arbeiten gehen können? Wie viele Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren leben in Haushalten, in denen das Geld der Eltern am Ende des Monats nicht zum (Über)leben für alle reicht und wo ergänzende Transferleistungen bezogen werden? Und wie viele Menschen leiden unter Altersarmut?
Für den Wedding und den Gesundbrunnen wird zwar ein Rückgang an Arbeitslosen und armen Kindern und Jugendlichen verzeichnet. Ich bezweifle jedoch, dass dies ausschließlich der guten wirtschaftlichen Lage in Berlin geschuldet ist oder ob nicht eher ein erheblicher Anteil des Rückgangs durch den „Faktor Verdrängung durch steigende Mieten“ bedingt ist. Wer kennt nicht wen, der Post vom neuen Hauseigentümer bekommen hat? So verändern sich auch Statistiken zum Positiven, da dort nur die Leute erfasst sind, die im Wedding und Gesundbrunnen auch tatsächlich wohnen.
Die soziale Lage vor Ort bleibt ernst
Mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen mit Quoten von bis zu 70 Prozent rund um die Reinickendorfer Straße leben in Armut und kommen ohne staatliche Unterstützung nicht über die Runden. Ebenso sieht es aus bei zirka einem Drittel aller erwachsenen Bewohnerinnen und Bewohner, die ergänzende Transferleistungen vom Staat bekommen, weil sie trotz Arbeit arm sind oder weil sie zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Auch der Anteil der Bewohnerinnen und Bewohner, die arm im Alter sind, liegt um bis zu 200 Prozent höher als der Berliner Durchschnitt. Und das alles sind nur die Zahlen derer, die staatliche Hilfe bekommen, weil sie diese beantragt haben (dafür müssen sich viele erst einmal überwinden). Insbesondere bei der Gruppe der armen Seniorinnen und Senioren ist fest davon auszugehen, dass diese Zahl tatsächlich höher sein dürfte, da nachweislich viele Seniorinnen und Senioren aus Scham keine Sozialleistungen nach einem langen Arbeitsleben beantragen.
Hinter all diesen Zahlen stehen Menschen, die tagtäglich darum kämpfen müssen, über die Runden zu kommen. Sei es wegen steigender Mieten, die die wenigen Einnahmen fressen. Sei es, weil neue Anschaffungen auf das Allernötigste reduziert werden müssen oder sei es, weil der Kontostand schon Mitte des Monats wieder in eine bedrohliche Schieflage gerät.
Was gegen Armut getan werden muss
Es muss deshalb mehr unternommen werden, um die Armut vor Ort zu bekämpfen. Das passiert bereits jetzt schon, ist aber deutlich ausbaufähig. Natürlich müsste man hierfür auf der Bundesebene anfangen: Hartz 4 kräftig erhöhen und die Sanktionen abschaffen, eine finanzielle Kindergrundsicherung für alle Kinder einführen, den Mindestlohn weiter erhöhen und und und … Auf Landesebene muss die eingesetzte Kommission zur Bekämpfung von Kinderarmut endlich konkrete Vorschläge vorlegen, wie die Benachteiligung armer Kinder und Jugendlicher spürbar abgebaut werden kann. In dieser Kommission ist auch die Jugendstadträtin des Bezirksamts Mitte vertreten.
Die Möglichkeiten des Bezirks Mitte
Auf Bezirksebene passiert schon einiges. Einschränkend muss hierbei vorangestellt werden, dass der Bezirk die direkten Auswirkungen von Armut am ehesten bemerkt, ihm jedoch rechtlich zum Teil die Hände gebunden sind. So bestimmt zum Beispiel nicht der Bezirk die Höhe von Sozialleistungen. In den Bereichen, wo Mitte etwas tun kann, tut es aber was: So setzt sich das Bezirksamt gegenüber dem Senat dafür ein, ein neues Quartiersmanagement im Gesundbrunnen einzurichten, um über verschiedene Förderprogramme quartiersbezogene Benachteiligungen der Bewohnerinnen und Bewohner abbauen zu können. Auch wird beim Jobcenter eine neutrale Ombudsstelle eingerichtet, die bei Streitigkeiten zwischen dem Jobcenter und Betroffenen vermitteln soll, sodass im Zweifel Streitigkeiten ums Geld schneller geklärt werden können.
Mit der Einrichtung neuer Milieuschutzgebiete im Wedding werden Mieterinnen und Mieter vor Luxussanierungen geschützt und auch wird kräftig in den Ausbau der Schuldnerberatung investiert, denn ein Großteil derer, die die Schuldnerberatungen aufsuchen, beziehen Transferleistungen. Der Wedding hat eine der höchsten Quoten verschuldeter Menschen im Vergleich zu den anderen Berliner Kiezen. Zwangsräumungen treffen insbesondere arme Menschen. Hier ist es geplant, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter zu beschäftigen, die Personen, die eine Räumungsmitteilung wegen Mietschulden erhalten haben, persönlich aufzusuchen, damit nicht die Menschen zum Amt, sondern das Amt zu den Menschen kommt mit dem Ziel, über Beihilfen oder Darlehen die Mietschulden zu übernehmen und den Wohnraum zu erhalten.
Kampf gegen Armut: Aufgaben
Dies alles ist gut, genügt jedoch nicht: Nicht die wahllose Vermittlung von Kundinnen und Kunden des Jobcenters in schlecht bezahlte Callcenterjobs, sondern ihre stärkere berufliche Qualifizierung ist sinnvoll, damit niemand am Ende eines Monats wieder zum Jobcenter gehen muss, um das mickrige Gehalt aufzustocken. Denn von der beruflichen Qualifizierung hängt direkt ab, welchen Job jemand ausübt. Auch muss das Bezirksamt die Bearbeitungszeit beim Wohngeld drastisch verkürzen und Antragstellerinnen und Antragstellern einen Vorschuss einräumen, wenn dies gewünscht wird (ja, das geht. Mir teilte das Bezirksamt mit, dass dies bisher aber 0 Mal der Fall war …). Denn was nützt einem die Wohngeldnachzahlung, wenn bis dahin die Wohnung wegen Mietschulden gekündigt wurde? Zu guter Letzt muss mehr gegen die Kinderarmut unternommen werden. Hier gibt es gute Konzepte aus anderen Kommunen, von denen Mitte noch einiges lernen kann.
Taylan Kurt ist Bezirksverordneter in Berlin-Mitte. Er gehört der Partei Bündnis 90/Die Grünen an. Er ist Sprecher für Soziales, Wirtschaft und Ordnungsamt und Angelegenheiten des Jobcenters.
Weitere Auswirkung:
Auch wenn es immer wieder vehement abgestritten wird – es deutet doch vieles darauf hin, dass auch die Rating-Unternehmen wie z.B. Schufa eine Geolokalisation beim Scoring vornehmen. Konkret bedeutet dies, dass Menschen, die im Wedding leben und einen Kredit in Anspruch nehmen wollen, deutlich schlechter gestellt werden, als Bewohner anderer Stadtteile.
Oder: Wer Geld für einen (Anschaffungs-)Kredit braucht, bezahlt dies im Wedding teuerer als anderswo.…