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Zeitsprung in die 1980er:
So war der Wedding früher einmal

Ganz West-Berlin ist eine Insel. Und ganz am Rand liegt der Bezirk Wedding. Hier ist alles noch ein bisschen anders als anderswo. Doch lässt es sich hier ganz gut leben. Oder?

Zeitsprung in die Mitte der 1980er - wie war es wohl, als die Mauer noch stand und die Weddinger am Rand einer Inselstadt wohnten? Die Kriegsschäden waren inzwischen weitgehend beseitigt, vieles wurde nach dem Krieg neu gebaut und auch sonst hatte, wer im Wedding wohnte, weitgehend seine Ruhe.

Fotos: look-at Filmproduktion

Springen wir ins Jahr 1985. Der Wedding ist ein Bezirk von Berlin (West). Er liegt im französischen Sektor und hat 135.000 Einwohner.

Die Mauer, die sieben Kilometer lang den Wedding von seinen östlichen Nachbarn Pankow, Prenzlauer Berg und Mitte trennt, steht schon seit über 20 Jahren. Aus dem Stacheldrahtzaun mit Panzersperren ist nach und nach eine unüberwindbare Grenzanlage geworden, mit einer Betonmauer, die sichtbar die Wollankstraße unter der Bahnbrücke versperrt und direkt an der Bernauer Straße steht. Noch im letzten Jahr ist an der Pankower Schulzestraße ein Mann bei einem Fluchtversuch erschossen worden. Im Januar diesen Jahres ist die Versöhnungskirche, die hier mitten im Todesstreifen lag und mit ihrem 75 m hohen Kirchturm den geteilten Kiez überragt hat, gesprengt worden. Der Turm kam einige Tage später dran und ist in sich zusammengesackt. Am 8. Oktober wird der französische Staatspräsident Mitterrand die Straße besuchen und der Maueropfer gedenken. Schließlich liegt der Wedding in "seinem" Sektor, gemeinsam mit Reinickendorf. In der Kaserne am Kurt-Schumacher-Damm, am äußersten nordwestlichen Rand des Bezirks, wo es zum Flughafen Tegel geht, haben die französischen Alliierten ihre Zentrale im "Quartier Napoléon".

Das stört im Wedding niemanden: Denn aus der einstigen Besatzungsmacht ist nicht nur eine Schutzmacht West-Berlins geworden, sondern man hat sich auch mit den Franzosen angefreundet. Es gibt in jedem Jahr einen Tag der offenen Tür, an dem die Weddinger in die Kaserne strömen. Im Centre culturel francais an der Müllerstraße 74 finden nicht nur Schüleraustausche, sondern auch viele Koch- und Sprachkurse statt. Im dortigen französischen Kino gibt es sogar zwei deutsche Filmvorführungen in der Woche. Seit den 60er-Jahren feiern die Berliner das deutsch-französische Volksfest vor dem Flughafen Tegel, und die Weddinger sind ein ganz klein wenig stolz darauf, dass gutes Essen und Trinken und Savoir-vivre in ihrem Bezirk einen festen Platz gefunden haben.

Wirklich im Herzen der Insel West-Berlin liegt der Wedding nicht gerade - das schlägt eher am Ku'damm. Doch seit über 20 Jahren fährt die U-Bahn-Linie 9 vom Bahnhof Zoo zum Leopoldplatz und seit ein paar Jahren sogar bis zur Osloer Straße, genau wie die Linie 8, die früher am Gesundbrunnen geendet hat. Straßenbahnen gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr im Wedding, deren Aufgabe nun die beigefarbenen Doppeldeckerbusse der BVG übernommen haben. Viele Linien beginnen oder enden im Wedding, da wegen der Mauer keine Weiterfahrt möglich ist. So ist oft an der Wollankstraße/Sternstraße, an der Bornholmer Straße oder am Vinetaplatz Schluss.

Mit dem Auto ist man auch fix in anderen Teilen der Stadt: die Stadtautobahn beginnt im Wedding, und sogar die Buslinie 65 nimmt die Autobahn in Richtung Neukölln. Seit letztem Jahr gehört auch die ziemlich altmodische S-Bahn zum BVG-Netz. Im Wedding fährt sie aber nur von der Wollankstraße über Bornholmer Straße, Gesundbrunnen und Humboldthain unter dem Osten hindurch Richtung Anhalter Bahnhof. Es muss wohl daran liegen, dass der Wedding so abseits liegt, oder vielleicht an seinen vielen Fabriken und unsanierten Altbauten: Im Wedding zu wohnen hat in West-Berlin keinen guten Ruf. Wer es sich leisten kann, versucht woanders hinzuziehen.

Dabei kann man es im Wedding auch gut aushalten: Seit ein paar Jahren ist das Kombibad Seestraße geöffnet. Der Humboldthain ist nach schweren Kriegsschäden wieder eine grüne Lunge geworden. Die Rehberge und der Schillerpark sind seit jeher eine beliebte, aber dennoch niemals überfüllte Grünanlage; am Plötzensee gibt es sogar ein Strandbad. Seit diesem Jahr gibt es die Disko Joe am Wedding, die für ihre Live-Musik bekannt ist. Hier wird so viel Engelhardt-Bier ausgeschenkt wie sonst fast nirgendwo in der Stadt.

Politisch ist der Wedding natürlich immer noch rot, und zwar SPD-rot. Die Bezirksbürgermeisterin Erika Heß wird sogar "Mutter des Wedding" genannt, so beliebt ist sie. Die Zeiten, in denen es Straßenkämpfe und Aufmärsche der Kommunisten gab, sind lange vorbei. Es ist im Schatten der Mauer eher gemütlich im roten Wedding.

Foto: D. Hensel

Auch die alternative Szene, für die West-Berlin und vor allem Kreuzberg bekannt ist, strahlt ein wenig in den Wedding aus. So hat die Tageszeitung taz in der Wattstraße ihre Redaktionsräume. In der Prinzenallee 58 haben Alternative eine alte Hutfabrik im Hinterhof besetzt. Und die alte Zündholzmaschinenfabrik Roller verwandelt sich gerade in ein soziokulturelles Zentrum namens Fabrik Osloer Straße.

Die AEG an der Brunnenstraße hat seit 3 Jahren geschlossen, seit letztem Jahr wird dort an einer Fabrik für Nixdorf-Computer gebaut. Die traditionsreiche Fabrik für Leuchtmittel Osram produziert noch an der Seestraße. Die meisten Menschen arbeiten aber beim Pharma-Riesen Schering, der die ganze Gegend rund um den im Krieg zerstörten Weddingplatz einnimmt. Die Tresorfabrik Arnheim wird hingegen gerade abgeräumt. Zum Glück ist eine der Hallen, die im letzten Jahr als "Pankehallen" kulturell genutzt wurde, gerade unter Denkmalschutz gestellt worden. Ob die Reste der Fabrik und des gegenüberliegenden Marienbades erhalten werden, steht heute in den Sternen. Gerade entdeckt man die alten Wohnhäuser und Industriebauten als schützenswerte steinerne Zeitzeugen.

Zum Einkaufen muss man den Wedding nicht verlassen. Man kann hier richtig gut bummeln gehen. Es gibt eine Markthalle, die Müllerhalle -vielleicht nicht gerade schön, aber voller Händler und Läden. Türkische Gemüsehändler breiten sich auch überall aus, und dort kann man auch Gemüse kaufen, das es woanders nicht gibt. Wenn es einmal etwas Besonderes sein soll, geht es an die Müllerstraße zwischen Gerichtstraße und Barfusstraße. Hier gibt es nicht nur das schicke, moderne Karstadt-Kaufhaus, wo man alles von Kleidung über Schuhe bis Feinkost bekommt. Wer nicht so viel Geld ausgeben will, wird bei bilka oder Woolworth fündig. Ansonsten gibt es aber auch viele Fachgeschäfte wie Ebbinghaus und Boeldicke. Möbel, Lampen, Sportkleidung - für alles gibt es ein Geschäft, wo sich die Kinder die Nase am Schaufenster plattdrücken können. Und will man ins Kino, gibt es zwar nicht mehr so viel Auswahl wie früher, aber das Alhambra an der Ecke Müller- und Seestraße hat die große Schließungswelle als einziges überlebt. Seit letztem Jahr gibt es allerdings mit dem Sputnik Wedding auch wieder ein Kino an der Reinickendorfer Straße.

Dass die ganzen Altbauten rund um die Brunnenstraße abgerissen wurden, macht viele Weddinger sogar ein wenig stolz. Die vielen schicken Neubauten bieten modernen Wohnraum, so ganz anders als im Osten, wie man von der Aussichtsplattform an der Oderberger Straße doch ganz gut sehen kann, wo man ins graue Ostberlin schaut, besonders wenn Besuch aus Westdeutschland da ist. Der findet das mit der Mauer vor allem aufregend und unglaublich, dabei haben sich die Weddinger an die Ruhe gewöhnt und finden es gar nicht so schlimm. Und wo noch viele Altbauten stehen, sind die Mieten niedrig und das Leben geht seinen normalen Gang. Von Weltstadt, Lärm und Hektik keine Spur. Wer Verwandtschaft im Osten hat oder auch mal auf die andere Seite der Mauer will, muss zur Passierscheinstelle am Leopoldplatz gehen. Die Grenze überqueren die Weddinger an der Bornholmer Straße oder an der Chausseestraße. So leben wir unser alltägliches Leben - und viele glauben inzwischen, dass die Mauer ganz bestimmt für immer stehen wird.

Grenzöffnung
Ob die Mauer eines Tages ein Loch haben wird? Fotorechte: Hartmut Bräunlich

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Weddinger Zeitreise

4 Comments

  1. Ich komme aus dem Norden und bin vor 5 Jahren nach Berlin, in den Wedding, gezogen. Ich hatte kaum Berührungspunkte mit der Mauer und finde den Artikel interessant und gut gemacht. Besonders die Fotodokumentation gefällt mir sehr und ich würde gern mehr Vergleichsbilder Damals-Heute sehen.
    Herzlichen Dank!

  2. Juten Morjen
    na wat’n hier los … noch keen Kommentar, seita alle noch nich wach ??
    Man wat wan dit doch für prima jute Zeiten , die achzijer …. de Briefträjer hatten noch zeit für ne kleene Molle im Kegler Eck.
    Da is nu sone Schichabar drinne wo de wo möglich unverzollten Tabak zu rochen kriegst.
    Die ollen Dppeldecker hatten oben noch dit Raucherabteil (?) , der Schaffner konnte sich jenau merken, wer schon een Fahrschein hatte und wer nich und die Haltestellen wurden ausjerufen und sin nich vom Tonband jekommen. Aba vor allem ist de BVG pünktlich jekommen.
    Im Freibad Seestraße jabet noch keen Wachmann und ooch keene Messerpickerein, da hat höchstens mal eener ins Becken jepinkelt.
    Im Joe am Wedding war ick nur eenmal drin jewesen, war nich so mein Ding.
    Der Schirmladen hat sich noch am längsten uff die Müllerstr jehalten, nu isser wech wie alle andern tolln Läden…. keen Karstadt mehr keen Schuladen keen Jeansladen, nüscht … nur noch olle Döner, Späti, Barbershop und Händyläden…. wat is dit nun für’ne eintönigkeit . Nich zuverjessen der Leo mit de Junkies und keen Plan weder A noch B.
    Aba zum Jlück hamwa jenuch Leute die den Müll uffsammeln, hat’n wa inne 80’er och nich nötig , da hab’n alle im Wedding ihr’n Scheiß wech jeräumt
    oh man da springt mir doch der Draht aus de Mütze…. wat war dit doch mal schön jemütlich im Wedding
    na denn noch’n schön juten Einheits-Feiertach

  3. Lediglich einige Anmerkungen zur guten alten Zeit in Wedding.
    Erika Heß als die Mutter von Wedding. Die Rolle mag von den Bürgern durchaus so verstanden worden sein, ansonsten eher eine Chimäre. Ihr Umgangston mit den Mitarbeitern im Rathaus-Wedding jedenfalls blieb nicht wenigen in denkwürdiger Erinnerung; bei ihrem Tod hielt sich die Trauer, zumindest im Rathaus, in engen Grenzen.
    Stadterneuerung, wohl eher Stadtzerstörung, im Brunnenviertel. Neubau, sehr schön, allerdings so gut wie ausschließlich im Sozialen Wohnungsbau. Stadtplanerisch und gesellschaftspolitisch eine katastrophale Fehlentscheidung. Schon seinerzeit war der Soziale Wohnungsbau durch verzögerte Anpassung der Einkommensgrenzen für Wohnberechtigungsscheine vom einstmaligen Wohnungsbau für den Mittelstand zum Wohnungsbau für arme Leute avanciert. Im Ergebnis Zusammensetzung der Mieterschaft aus Kleinrentnern, Problemfamilien und insbesondere Zugewanderten und das konzentriert auf engem Raum. Verfehlte Ausländer- und Asylpolitik in Verbund mit gedankenlosem Wohnungsbau schufen die Grundvoraussetzungen für die Ghettoisierung des Viertels. Fehlbelegungsabgabe schließlich ließ die letzten bürgerlichen Mieter das Weite suchen.
    Sicherheit im öffentlichen Raum, leider nicht thematisiert aber ausschlaggebend für das Lebensgefühl in Wedding. Seinerzeit konnte man sich ohne Bedenken im Bereich Gesundbrunnen/Brunnenviertel bewegen, auch des Nachts, während Heutzutage Übergriffe auf Hab und Gut, Leib und Leben längst zur Normalität geworden sind.

  4. Ich kann mich noch sehr gut an diese Zeit erinnern, an den Fleischer in der Müllerhalle, der einen künstlichen Schweinekopf mit rot leuchtenden Augen an seinem Stand hatte. an die neue Ampel am Schillerpark. In der Otawistraße gab es Eis, die Kugel 30 Pfennig. Mein Schulweg von der Bornholmer Straße zum Ranke-Gymnasium in der Putbusser, im Schatten der Mauer.

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