Parteiübergreifend erhoben die Jungen gegen die Alten Vorwürfe. Grund für die teilweise heftigen Attacken in der letzten Bezirksverordnetenversammlung (BVV) war der Fakt, dass in Mitte massiv Schulplätze fehlen. Die Situation ist dramatisch und wird sich nach den Ferien verschärfen. Die Jungen wollten am Donnerstag (16. Juni), dass die Öffentlichkeit die Misere nicht der Stadträtin Stefanie Remlinger anlastet. Die Alten warben um Verständnis für Vorgängerstadtrat Carsten Spallek.
Bevor die Generation Z (unter 25 Jahre jung) sagt, alles klar: Es stritten sich die Generation mit schulpflichtigen Kinder und die Generation, die schon aus dem gröbsten raus ist. Die Jungen, meist auch vom Alter her jung, sind die Verordneten in der BVV, die zum ersten Mal Bezirkspolitik in der BVV betreiben. Ihr Schlachtruf lautete: “Wie konntet ihr nur?” Sie nahmen kein Blatt vor dem Mund, griffen den in der letzten Wahlperiode für Schule zuständigen Stadtrat Carsten Spallek namentlich an. Die Alten, manche auch vom Alter her, sind die alten Hasen, die schon auf mehr als bloß die acht Monate laufende Legislatur zurückblicken. Sie hielten den Jungen entgegen: “Wer dabei gewesen ist, der weiß, dass …”
Entbrannt ist der Kampf der Generationen während der thematischen Stunde. Das ist der Tagesordnungspunkt, bei dem die Bezirkspolitiker ein Problem ausführlich diskutieren. Zuerst beschrieb die Schulstadträtin Stefanie Remlinger, wie groß der Mangel an Schulplätzen ist. Sowohl für Erstklässler als auch für Schulwechsler in der siebten Klasse wird es eng. Sie erwähnte Carsten Spallek nicht, sagte lediglich: “Hätte sich der Bezirk in den letzten Jahren daran gemacht, dann hätten wir die Probleme nicht.”
Angry-Young-Women
Den Aufschlag zur Breitseite gegen Stadtrat Carsten Spallek machte die 32-jährige Alexandra Bendzko von den Grünen: “Herr Spallek, es geht an Sie, für mich ist das unbegreiflich, ich bin ratlos”. Sie spricht unter den jungen Verordneten ihren Unmut am unverhülltesten aus. Worte wie Missmanagement und Führungsversagen fallen. Man wisse doch, dass Kinder, die geboren werden, sechs Jahre später eingeschult werden. “Wieso wurde die Anna Lindh-Grundschule nicht zur Gesamtsanierung angemeldet?” Alexandra Bendzko ist seit acht Monaten Verordnete.
Es folgte Anab Awale von der SPD. Die 39-Jährige sagte: “Demut würde der CDU guttun”. Carsten Spallek müsse sich rechtfertigen, warum die Schulbauoffensive in Mitte nicht gestartet ist. Sie höre keine Gründe, warum Mitte keine Gelder aus der Schulbauoffensive abgerufen habe. Der Unmut wurde deutlich in Sätzen wie: “Sie, Herr Spallek, dürften hier eigentlich nicht mehr sitzen”. Auch Anab Awale ist seit acht Monaten Verordnete.
Șeyda-Gül Türk von der FDP zielte nicht nur allein auf Carsten Spallek, nahm auch seine Vorgänger seit 2011 in den Blick. Zur Erinnerung: Vor Carsten Spallek waren die Politiker Ulrich Davids und Sabine Smentek (beide SPD) für Schulen in Mitte verantwortlich. Letztere sagte noch 2014 “Wir haben genug Schulen”. Die 28-jährige Șeyda-Gül Türk sagte: “Frau Remlingers Arbeit wäre einfacher, wenn ihre Vorgänger einen besseren Job gemacht hätten”. Unmut ist nicht zu überhören als Șeyda-Gül Türk sagte, dass es für sie als Lehrerin anstrengend sei, mit 30 Schülern in einem Raum zu unterrichten. Individuelle Förderung, wie im Studium vermittelt, sei nicht möglich. Șeyda-Gül Türk ist ebenfalls seit acht Monaten Verordnete.
Die einordnenden Alten
Olaf Lemke von der CDU zeigte sich verwundert über die Unkenntnis, die die Angriffe der Jungen für ihn offenbarten. Der 45-Jährige sagte: “Ich bin überrascht, in was für eine Stunde wir hier geraten sind”. Der Versuch der Abrechnung sei lächerlich, die Vorwürfe unbegründet. Sein Parteifreund Carsten Spallek sei als Stadtrat vom Land hängen gelassen worden. “Schule sollte damals immer mehr leisten, aber weniger Mittel bekommen – personell und finanziell”, sagte er mit Blick auf den rot-rot-grünen Senat. Olaf Lemke arbeitet seit 2016 in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV).
Stadtrat Ephraim Gothe von der SPD (links im Bild) versuchte die Wogen mit Erklärungen glätten. Der 58-Jährige sprach von einem Gesamtversagen. “2011 setzte das Bevölkerungswachstum unerwartet ein, wir waren noch total gefangen in der Sparpolitik”. Beim Beginn der neuen Legislatur 2016 – als Carsten Spallek das Schulamt übernahm – “konnte keine Rede davon sein, neue Schulen zu bauen.” Ephraim Gothe macht (mit Unterbrechungen) seit 2006 Bezirkspolitik.
Bastian Roet von der FDP blickte auf die Landesebene, wo Bildung seit 1996 ein Fach der SPD ist. Der 43-Jährige sagte: “Hier bewerfen sich Leute mit Steinen, die selbst im Glashaus sitzen”. Ganz viel Ärger habe die Bezirkspolitik selbst verschuldet, weil sie endlos diskutiere und Runde Tische bilde, selbst wenn es nur darum gehe, ob ein Sportverein und eine Schule sich einen Tennisplatz teilen könnten. Bastian Roet ist seit 2016 Verordneter.
Zu wenig Schulplätze: Das steckt hinter der Attacke
Der Unmut der neu in der Bezirkspolitik antretenden Generation speist sich aus der Vermutung, dass der Bezirk Mitte aus ihrer Sicht zu wenig getan habe, den prall gefüllten Topf der Berliner Schulbauoffensive (BSO) anzuzapfen. Die Offensive ist ein mindestens fünf Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm, das der Berliner Senat 2016 startete. Es umfasst nicht nur Neubau, sondern auch Komplettsanierungen mit Erweiterungen. Mit der BSO reagierte Berlin auf steigende Schülerzahlen und will bis mindestens 2026 die Anzahl der Klassenräume und damit der Schulplätze deutlich erhöhen. Zugespitzt lautet der Vorwurf der Jungen: Weil Mitte die Schulbauoffensive verschlafen habe, gibt es jetzt für die steigende Menge an Erstklässlern und Oberschülern nicht genügend zusätzliche Klassenräume.
“Der Bezirk hat Mittel der Schulbauoffensive nicht genutzt, nicht einmal Vorplanungen sind vorhanden, das wird uns noch Jahre beschäftigen”, beschreibt Stadträtin Stefanie Remlinger den Rückstand, den sie bei der Amtsübernahme vorfand. Sie hat das Amt im Herbst 2021 übernommen. Auf wenig Vorarbeit zurückgreifen kann sie bei der notwendigen Sanierung der Anna-Lindh-Grundschule, dem Schadensfall Ernst-Reuter-Schule, der Wiederinbetriebnahme des früheren Standorts des Diesterweg-Gymnasiums im Brunnenviertel. Die Suche nach nötigen Ausweichstandorten, wenn Schulen von Grund auf saniert werden müssen (in Fachkreisen Drehscheiben-Modell genannt), stehe am Anfang.
Kommentar: Pragmatismus geht vor Schuld
Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, ist es aus Parteiensicht manchmal entscheidend, wer schuld an dem Fall ist. Vor allem: wer nicht. Für die Grünen ist hier wichtig: Die neu ins Amt gekommene Stadträtin ist unschuldig. Aus Sicht der Wähler – und das sind in diesem Fall die Eltern – ist aber wie zu allen Zeiten eine andere Frage wichtiger: Wer holt das Kind aus dem Brunnen wieder heraus?
Trägt Carsten Spallek, bis letztes Jahr für Schule verantwortlicher Stadtrat, Schuld am Schulplatzmangel? Es mag sich bitter anfühlen, aber Realität ist: Falls die Antwort auf diese Frage Ja lautet, dann ist die Situation genau dieselbe wie in dem Fall, dass die Antwort Nein lautet. Es sind zu wenig Schulen da, es muss saniert und neu gebaut werden. Es ist nachvollziehbar, dass solche Sätze nicht hören will, dessen Kind an einer wegen Überfüllung verschlossenen Schule anklopft. Und doch werden Unbeteiligte bestätigen, dass nach vorn blicken muss, wer Probleme lösen will.
Entscheidend ist deshalb der Satz: Pragmatismus schlägt Schuldfrage. Und in puncto Pragmatismus verfügen die Jungen im Allgemeinen und die Grünen im Besonderen mit Stadträtin Stefanie Remlinger über die richtige Frau im richtigen Moment am richtigen Posten. Denn für Eltern und ihre Schulkinder zählt am Ende: Was wird die neu ins Amt gekommene Stadträtin in ihren fünf Jahren Amtszeit herausholen? Bei nüchterner Betrachtung muss man sagen: die Chancen stehen gut, dass die pragmatische Stefanie Remlinger viel erreichen wird. Manches bald, indem sie ungewöhnliche Ideen probiert und den Mut zum Provisorium besitzt. Anderes später. Denn ihr ist zuzutrauen, dass sie mit guter Kenntnis des Berliner Schulmolochs ein paar zusätzliche Sanierungen – und damit viele zusätzliche Klassenzimmer – anschieben wird. Der politische Witz dabei: Erfolg bei ihrer Aufgabe müssen ihr Parteifreunde wie politische Gegner wünschen – nichts anderes ist sinnvoll denkbar.
PS: Ich bin irgendetwas mit 45 Jahre alt und beobachte die Bezirkspolitik seit der Wahl 2016.
Bildunterschriften:
Foto 1: Die Anna-Lindh-Grundschule. Foto: Andrei Schnell
Foto 2: Die Verordnete Alexandra Bendzko. Standbild des Livestreams.
Foto 3: Stadtrat Carsten Spallek. Foto: Andrei Schnell
Foto 4: Stadtrat Ephraim Gothe. Foto: Andrei Schnell
Foto 5: Schadensfall Ernst-Reuter-Schule. Foto: Andrei Schnell
Foto 6: Stadträtin Stefanie Remlinger. Foto: Andrei Schnell
Seit Jahren steht die große Diesterweg Schule leer und wird nicht saniert, ebenso die Kleist Schule in Moabit. Anstatt zu sanieren wurde sie an eine Film Firma vermietet. Warum???
Ich leite die Große Eltern-Kind-Abteilung beim TSV GutsMuths 1861 e.V. in Moabit, mit inzwischen wieder über 900 Mitgliedern und kann kaum mehr Kinder aufnehmen da keine Sporthallen am Nachmittag zur Verfügung stehen. EKG Stunden dürfen (zum Bsp. Kleist Schule) nicht stattfinden aber sie wird vermietet ??? Warum wird der, so sehr nötige Bewegungsraum nicht zur Verfügung gestellt.
Bewegung ist Leben und sollte schon kleinen Kindern ermöglicht werden.
Ingeborg Bayer
Leitung EKT Abtlg.
TSV GutsMuths