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Bericht aus der BVV:
Schulpolitik: Stunde der Wahrheit

20. Juni 2022
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Par­tei­über­grei­fend erho­ben die Jun­gen gegen die Alten Vor­wür­fe. Grund für die teil­wei­se hef­ti­gen Atta­cken in der letz­ten Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung (BVV) war der Fakt, dass in Mit­te mas­siv Schul­plät­ze feh­len. Die Situa­ti­on ist dra­ma­tisch und wird sich nach den Feri­en ver­schär­fen. Die Jun­gen woll­ten am Don­ners­tag (16. Juni), dass die Öffent­lich­keit die Mise­re nicht der Stadt­rä­tin Ste­fa­nie Rem­lin­ger anlas­tet. Die Alten war­ben um Ver­ständ­nis für Vor­gän­ger­stadt­rat Cars­ten Spallek.

Anna-Lindh-Grundschule. Foto: Andrei Schnell
Wer trägt Schuld, dass die Ber­li­ner Schul­bau­of­fen­si­ve an der Anna-Lindh-Grund­schu­le vor­bei­ging? Foto: And­rei Schnell.

Bevor die Gene­ra­ti­on Z (unter 25 Jah­re jung) sagt, alles klar: Es strit­ten sich die Gene­ra­ti­on mit schul­pflich­ti­gen Kin­der und die Gene­ra­ti­on, die schon aus dem gröbs­ten raus ist. Die Jun­gen, meist auch vom Alter her jung, sind die Ver­ord­ne­ten in der BVV, die zum ers­ten Mal Bezirks­po­li­tik in der BVV betrei­ben. Ihr Schlacht­ruf lau­te­te: “Wie konn­tet ihr nur?” Sie nah­men kein Blatt vor dem Mund, grif­fen den in der letz­ten Wahl­pe­ri­ode für Schu­le zustän­di­gen Stadt­rat Cars­ten Spal­lek nament­lich an. Die Alten, man­che auch vom Alter her, sind die alten Hasen, die schon auf mehr als bloß die acht Mona­te lau­fen­de Legis­la­tur zurück­bli­cken. Sie hiel­ten den Jun­gen ent­ge­gen: “Wer dabei gewe­sen ist, der weiß, dass …” 

Ent­brannt ist der Kampf der Gene­ra­tio­nen wäh­rend der the­ma­ti­schen Stun­de. Das ist der Tages­ord­nungs­punkt, bei dem die Bezirks­po­li­ti­ker ein Pro­blem aus­führ­lich dis­ku­tie­ren. Zuerst beschrieb die Schul­stadt­rä­tin Ste­fa­nie Rem­lin­ger, wie groß der Man­gel an Schul­plät­zen ist. Sowohl für Erst­kläss­ler als auch für Schul­wechs­ler in der sieb­ten Klas­se wird es eng. Sie erwähn­te Cars­ten Spal­lek nicht, sag­te ledig­lich: “Hät­te sich der Bezirk in den letz­ten Jah­ren dar­an gemacht, dann hät­ten wir die Pro­ble­me nicht.”

Angry-Young-Women

Alexandra Bendzko

Den Auf­schlag zur Breit­sei­te gegen Stadt­rat Cars­ten Spal­lek mach­te die 32-jäh­ri­ge Alex­an­dra Bendz­ko von den Grü­nen: “Herr Spal­lek, es geht an Sie, für mich ist das unbe­greif­lich, ich bin rat­los”. Sie spricht unter den jun­gen Ver­ord­ne­ten ihren Unmut am unver­hüll­tes­ten aus. Wor­te wie Miss­ma­nage­ment und Füh­rungs­ver­sa­gen fal­len. Man wis­se doch, dass Kin­der, die gebo­ren wer­den, sechs Jah­re spä­ter ein­ge­schult wer­den. “Wie­so wur­de die Anna Lindh-Grund­schu­le nicht zur Gesamt­sa­nie­rung ange­mel­det?” Alex­an­dra Bendz­ko ist seit acht Mona­ten Verordnete.

Es folg­te Anab Awa­le von der SPD. Die 39-Jäh­ri­ge sag­te: “Demut wür­de der CDU gut­tun”. Cars­ten Spal­lek müs­se sich recht­fer­ti­gen, war­um die Schul­bau­of­fen­si­ve in Mit­te nicht gestar­tet ist. Sie höre kei­ne Grün­de, war­um Mit­te kei­ne Gel­der aus der Schul­bau­of­fen­si­ve abge­ru­fen habe. Der Unmut wur­de deut­lich in Sät­zen wie: “Sie, Herr Spal­lek, dürf­ten hier eigent­lich nicht mehr sit­zen”. Auch Anab Awa­le ist seit acht Mona­ten Verordnete.

Șey­da-Gül Türk von der FDP ziel­te nicht nur allein auf Cars­ten Spal­lek, nahm auch sei­ne Vor­gän­ger seit 2011 in den Blick. Zur Erin­ne­rung: Vor Cars­ten Spal­lek waren die Poli­ti­ker Ulrich Davids und Sabi­ne Smen­tek (bei­de SPD) für Schu­len in Mit­te ver­ant­wort­lich. Letz­te­re sag­te noch 2014 “Wir haben genug Schu­len”. Die 28-jäh­ri­ge Șey­da-Gül Türk sag­te: “Frau Rem­lin­gers Arbeit wäre ein­fa­cher, wenn ihre Vor­gän­ger einen bes­se­ren Job gemacht hät­ten”. Unmut ist nicht zu über­hö­ren als Șey­da-Gül Türk sag­te, dass es für sie als Leh­re­rin anstren­gend sei, mit 30 Schü­lern in einem Raum zu unter­rich­ten. Indi­vi­du­el­le För­de­rung, wie im Stu­di­um ver­mit­telt, sei nicht mög­lich. Șey­da-Gül Türk ist eben­falls seit acht Mona­ten Verordnete.

Die einordnenden Alten

Olaf Lem­ke von der CDU zeig­te sich ver­wun­dert über die Unkennt­nis, die die Angrif­fe der Jun­gen für ihn offen­bar­ten. Der 45-Jäh­ri­ge sag­te: “Ich bin über­rascht, in was für eine Stun­de wir hier gera­ten sind”. Der Ver­such der Abrech­nung sei lächer­lich, die Vor­wür­fe unbe­grün­det. Sein Par­tei­freund Cars­ten Spal­lek sei als Stadt­rat vom Land hän­gen gelas­sen wor­den. “Schu­le soll­te damals immer mehr leis­ten, aber weni­ger Mit­tel bekom­men – per­so­nell und finan­zi­ell”, sag­te er mit Blick auf den rot-rot-grü­nen Senat. Olaf Lem­ke arbei­tet seit 2016 in der Bezirks­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung (BVV).

Stadtrat Ephraim Gothe

Stadt­rat Ephra­im Gothe von der SPD (links im Bild) ver­such­te die Wogen mit Erklä­run­gen glät­ten. Der 58-Jäh­ri­ge sprach von einem Gesamt­ver­sa­gen. “2011 setz­te das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum uner­war­tet ein, wir waren noch total gefan­gen in der Spar­po­li­tik”. Beim Beginn der neu­en Legis­la­tur 2016 – als Cars­ten Spal­lek das Schul­amt über­nahm – “konn­te kei­ne Rede davon sein, neue Schu­len zu bau­en.” Ephra­im Gothe macht (mit Unter­bre­chun­gen) seit 2006 Bezirkspolitik.

Bas­ti­an Roet von der FDP blick­te auf die Lan­des­ebe­ne, wo Bil­dung seit 1996 ein Fach der SPD ist. Der 43-Jäh­ri­ge sag­te: “Hier bewer­fen sich Leu­te mit Stei­nen, die selbst im Glas­haus sit­zen”. Ganz viel Ärger habe die Bezirks­po­li­tik selbst ver­schul­det, weil sie end­los dis­ku­tie­re und Run­de Tische bil­de, selbst wenn es nur dar­um gehe, ob ein Sport­ver­ein und eine Schu­le sich einen Ten­nis­platz tei­len könn­ten. Bas­ti­an Roet ist seit 2016 Verordneter.

Zu wenig Schulplätze: Das steckt hinter der Attacke

Der Unmut der neu in der Bezirks­po­li­tik antre­ten­den Gene­ra­ti­on speist sich aus der Ver­mu­tung, dass der Bezirk Mit­te aus ihrer Sicht zu wenig getan habe, den prall gefüll­ten Topf der Ber­li­ner Schul­bau­of­fen­si­ve (BSO) anzu­zap­fen. Die Offen­si­ve ist ein min­des­tens fünf Mil­li­ar­den Euro schwe­res Inves­ti­ti­ons­pro­gramm, das der Ber­li­ner Senat 2016 star­te­te. Es umfasst nicht nur Neu­bau, son­dern auch Kom­plett­sa­nie­run­gen mit Erwei­te­run­gen. Mit der BSO reagier­te Ber­lin auf stei­gen­de Schü­ler­zah­len und will bis min­des­tens 2026 die Anzahl der Klas­sen­räu­me und damit der Schul­plät­ze deut­lich erhö­hen. Zuge­spitzt lau­tet der Vor­wurf der Jun­gen: Weil Mit­te die Schul­bau­of­fen­si­ve ver­schla­fen habe, gibt es jetzt für die stei­gen­de Men­ge an Erst­kläss­lern und Ober­schü­lern nicht genü­gend zusätz­li­che Klassenräume. 

Ernst Reuter Schule

“Der Bezirk hat Mit­tel der Schul­bau­of­fen­si­ve nicht genutzt, nicht ein­mal Vor­pla­nun­gen sind vor­han­den, das wird uns noch Jah­re beschäf­ti­gen”, beschreibt Stadt­rä­tin Ste­fa­nie Rem­lin­ger den Rück­stand, den sie bei der Amts­über­nah­me vor­fand. Sie hat das Amt im Herbst 2021 über­nom­men. Auf wenig Vor­ar­beit zurück­grei­fen kann sie bei der not­wen­di­gen Sanie­rung der Anna-Lindh-Grund­schu­le, dem Scha­dens­fall Ernst-Reu­ter-Schu­le, der Wie­der­in­be­trieb­nah­me des frü­he­ren Stand­orts des Dies­ter­weg-Gym­na­si­ums im Brun­nen­vier­tel. Die Suche nach nöti­gen Aus­weich­stand­or­ten, wenn Schu­len von Grund auf saniert wer­den müs­sen (in Fach­krei­sen Dreh­schei­ben-Modell genannt), ste­he am Anfang.

Kommentar: Pragmatismus geht vor Schuld

Wenn das Kind in den Brun­nen gefal­len ist, ist es aus Par­tei­en­sicht manch­mal ent­schei­dend, wer schuld an dem Fall ist. Vor allem: wer nicht. Für die Grü­nen ist hier wich­tig: Die neu ins Amt gekom­me­ne Stadt­rä­tin ist unschul­dig. Aus Sicht der Wäh­ler – und das sind in die­sem Fall die Eltern – ist aber wie zu allen Zei­ten eine ande­re Fra­ge wich­ti­ger: Wer holt das Kind aus dem Brun­nen wie­der heraus?

Trägt Cars­ten Spal­lek, bis letz­tes Jahr für Schu­le ver­ant­wort­li­cher Stadt­rat, Schuld am Schul­platz­man­gel? Es mag sich bit­ter anfüh­len, aber Rea­li­tät ist: Falls die Ant­wort auf die­se Fra­ge Ja lau­tet, dann ist die Situa­ti­on genau die­sel­be wie in dem Fall, dass die Ant­wort Nein lau­tet. Es sind zu wenig Schu­len da, es muss saniert und neu gebaut wer­den. Es ist nach­voll­zieh­bar, dass sol­che Sät­ze nicht hören will, des­sen Kind an einer wegen Über­fül­lung ver­schlos­se­nen Schu­le anklopft. Und doch wer­den Unbe­tei­lig­te bestä­ti­gen, dass nach vorn bli­cken muss, wer Pro­ble­me lösen will. 

Stefanie Remlinger

Ent­schei­dend ist des­halb der Satz: Prag­ma­tis­mus schlägt Schuld­fra­ge. Und in punc­to Prag­ma­tis­mus ver­fü­gen die Jun­gen im All­ge­mei­nen und die Grü­nen im Beson­de­ren mit Stadt­rä­tin Ste­fa­nie Rem­lin­ger über die rich­ti­ge Frau im rich­ti­gen Moment am rich­ti­gen Pos­ten. Denn für Eltern und ihre Schul­kin­der zählt am Ende: Was wird die neu ins Amt gekom­me­ne Stadt­rä­tin in ihren fünf Jah­ren Amts­zeit her­aus­ho­len? Bei nüch­ter­ner Betrach­tung muss man sagen: die Chan­cen ste­hen gut, dass die prag­ma­ti­sche Ste­fa­nie Rem­lin­ger viel errei­chen wird. Man­ches bald, indem sie unge­wöhn­li­che Ideen pro­biert und den Mut zum Pro­vi­so­ri­um besitzt. Ande­res spä­ter. Denn ihr ist zuzu­trau­en, dass sie mit guter Kennt­nis des Ber­li­ner Schul­mo­lochs ein paar zusätz­li­che Sanie­run­gen – und damit vie­le zusätz­li­che Klas­sen­zim­mer – anschie­ben wird. Der poli­ti­sche Witz dabei: Erfolg bei ihrer Auf­ga­be müs­sen ihr Par­tei­freun­de wie poli­ti­sche Geg­ner wün­schen – nichts ande­res ist sinn­voll denkbar.

PS: Ich bin irgend­et­was mit 45 Jah­re alt und beob­ach­te die Bezirks­po­li­tik seit der Wahl 2016.

Bild­un­ter­schrif­ten:

Foto 1: Die Anna-Lindh-Grund­schu­le. Foto: And­rei Schnell

Foto 2: Die Ver­ord­ne­te Alex­an­dra Bendz­ko. Stand­bild des Livestreams.

Foto 3: Stadt­rat Cars­ten Spal­lek. Foto: And­rei Schnell

Foto 4: Stadt­rat Ephra­im Gothe. Foto: And­rei Schnell

Foto 5: Scha­dens­fall Ernst-Reu­ter-Schu­le. Foto: And­rei Schnell

Foto 6: Stadt­rä­tin Ste­fa­nie Rem­lin­ger. Foto: And­rei Schnell

Der Weddingweiser berichtet aus der BVV
Der Wed­ding­wei­ser berich­tet aus der BVV

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

1 Comment Leave a Reply

  1. Seit Jah­ren steht die gro­ße Dies­ter­weg Schu­le leer und wird nicht saniert, eben­so die Kleist Schu­le in Moa­bit. Anstatt zu sanie­ren wur­de sie an eine Film Fir­ma ver­mie­tet. Warum???
    Ich lei­te die Gro­ße Eltern-Kind-Abtei­lung beim TSV Guts­Muths 1861 e.V. in Moa­bit, mit inzwi­schen wie­der über 900 Mit­glie­dern und kann kaum mehr Kin­der auf­neh­men da kei­ne Sport­hal­len am Nach­mit­tag zur Ver­fü­gung ste­hen. EKG Stun­den dür­fen (zum Bsp. Kleist Schu­le) nicht statt­fin­den aber sie wird ver­mie­tet ??? War­um wird der, so sehr nöti­ge Bewe­gungs­raum nicht zur Ver­fü­gung gestellt.
    Bewe­gung ist Leben und soll­te schon klei­nen Kin­dern ermög­licht werden.
    Inge­borg Bayer
    Lei­tung EKT Abtlg.
    TSV GutsMuths

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