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Restaurant im Karstadt: Wo sich alles bewegt, doch die Zeit stillsteht

28. April 2019
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Laut Ein­steins Rela­ti­vi­täts­theo­rie sind Zeit­rei­sen in die Zukunft mög­lich, in die Ver­gan­gen­heit dage­gen ist man sich noch nicht so sicher. Es gibt einen Ort, eine Welt im Wed­ding, die am Gegen­teil arbei­tet, die sich wehrt, hip zu sein, hip zu tun. Eine Welt, die so ist wie sie ist und nur genau­so bestehen kann. Es ist das Restau­rant im Kar­stadt am Leo­pold­platz. Unauf­dring­lich, durch sei­ne getön­ten Schei­ben, thront es über dem Platz.

Der ers­te Kon­takt zu die­ser Welt kam zufäl­lig zustan­de. Noch beschwingt vom Aus­blick vom Park­deck über dem Leo, spuck­te einen der Fahr­stuhl ein Stock­werk tie­fer wie­der aus, fast direkt am Ein­gang zum Restau­rant.
So oft war ich schon hier gewe­sen, aber die­se Schwel­le hat­te ich noch nie über­schrit­ten. Es war, als hät­te man eine gehei­me Höh­le gefun­den. Einen Ort, der unbe­rührt von der Außen­welt ist und an dem die hier Sit­zen­den völ­lig unbe­irrt ihrem Leben frönen. 

Hier wirkt es so anders im Ver­gleich zum Blick auf den hek­ti­schen Leo­pold­platz, weni­ge Minu­ten zuvor. Ein kom­plett ande­rer Kos­mos. Ein Ort, der nicht auf­fal­len will, und nicht auf­fal­len kann. Das Mobi­li­ar in zurück­hal­ten­den Beige-Braun­tö­nen, wel­ches dazu in der Lage ist, die Besu­cher in ihren zumeist bei­gen Camel-Wes­ten optisch voll­stän­dig zu neu­tra­li­sie­ren. Fri­sche Blu­men auf den Tischen, Gewu­sel dazwi­schen, das in sei­ner redu­zier­ten Geschwin­dig­keit unauf­ge­regt und beru­hi­gend wirkt.

Älte­re Damen mit akku­rat sit­zen­den Fri­su­ren, anschei­nend gera­de­wegs vom Fri­seur kom­mend, älte­re Damen beim gemein­sa­men Kar­ten­spie­len. Über­haupt vie­le älte­re Wed­din­ger. Ehe­paa­re in karier­ten Hem­den und gedeck­ten Wes­ten, beim gemein­sa­men Mit­tag­essen für 6,95€. Dazwi­schen ein­sam sit­zen­de Frau­en und Män­ner, wel­che auf­merk­sam den Raum beob­ach­ten, schein­bar zufrie­den, mit die­sem Ort, mit dem Essen, mit der Stim­mung. Ein­fach mit allem.
Hin­ter alle­dem das Pan­ora­ma, das wahr­schein­lich jeder Kreuz­fahrt über­le­gen wäre. Der Leo­pold­platz. Über­haupt stel­le ich mir genau­so eine Kreuz­fahrt vor. Vom Ambi­en­te, von den Gäs­ten und vor allen vom Licht, wenn 24 Stun­den lang die Son­ne dem Bord­re­stau­rant eine magi­sche Licht­stim­mung beschert. 

Ziel­stre­big und vol­ler Freu­de, füh­ren Beloh­nungs­zen­trum und Auge den Kör­per zu einem der Tische direkt an den Fens­tern. Das Restau­rant ist halb voll zu die­sem Zeit­punkt und mit jedem Schritt mer­ke ich, dass ich gera­de in ein ande­res Öko­sys­tem ein­ge­drun­gen bin. Die Grup­pe älte­rer Damen beim Kar­ten­spie­len wirft ihre Bli­cke auf den Frem­den, auf mich. Sie wir­ken ver­traut mit die­ser Umwelt, mit ihrem Revier. Aber sie mer­ken, ich bin es nicht. Die Hand­ta­schen wer­den vor­sich­tig auf die ande­re Sei­te des Tisches gelegt, der Blick ver­mit­telt Miss­trau­en. Man spürt die Käl­te in den Augen. In mei­nem Kopf gebe ich ihnen den Spitz­na­men „Oma-Gang“. Nun sit­ze ich hier, der Aus­blick ist herr­lich. Kaf­fee + Kuchen im Duo für 3,99€, aus den Laut­spre­chern ertönt das schein­bar Bes­te der 80er. Halleluja. 

Der erste Kontakt

Aber der Kuchen hält nicht ewig, der Kaf­fee ist auch bald leer und ich bege­be mich wie­der nach drau­ßen. Hin­aus aus die­sem für mich neu­en Kos­mos. Das hier war nicht der letz­te Besuch. Das weiß ich sofort.
So fah­re ich ab dann des Öfte­ren in den zwei­ten Stock des Hau­ses. Manch­mal für einen Kaf­fee, manch­mal für eine Cola, manch­mal auch ein Bier oder eine Rou­la­de in Haus­ma­cher-Manier. Immer mit dem Gedan­ken, irgend­wann ganz unbe­darft jeman­den anzu­spre­chen, um mehr zu erfah­ren. Irgend­et­was löst die­ser Ort hier aus. 

Bereits nach dem drit­ten Mal erkennt man bestimm­te Leu­te wie­der. Die Oma-Gang ist fast immer da, es ist ihr Revier, so viel ist sicher. Per­so­nen, die zumeist allein sit­zen, wei­te­re Men­schen, die ziel­stre­big jedes Mal den Rau­cher­raum ansteu­ern. Ein Mann der ab und zu Rech­nun­gen sor­tiert und dabei auf sei­nem Taschen­rech­ner tippt, älte­re Ehe­paa­re. Die­ser Kos­mos hier folgt bestimm­ten Abläu­fen, den­ke ich mir. Nur welchen?

Eines Tages ist es wie­der soweit. Ich bin da, die Oma-Gang ist da und ich füh­le mich bereit. Ich set­ze mich an den Neben­tisch, lau­sche mit, beob­ach­te aus den Augen­win­keln, trin­ke zwei Kaf­fee und fas­se mir ein Herz.
Der Moment ist güns­tig, den­ke ich mir, denn ein Mit­glied der Grup­pe ist gera­de am Kar­ten­mi­schen. Ich leh­ne mich rüber und schil­de­re mein Anlie­gen, ger­ne mehr über sie erfah­ren zu wol­len. Die­se Mis­si­on schlägt fehl. 

Die „Mische­rin“, anschei­nend die Che­fin der Gang, schal­tet auf Durch­zug. Ein „sie möch­te nichts erzäh­len“ kommt noch aus ihr her­aus, dann ver­stummt sie. Gleich­zei­tig beginnt sie schnel­ler die Kar­ten in ihren Hän­den hin und her zu bewe­gen. Eine Dame der Grup­pe dage­gen über­win­det sich, zumin­dest kurz und schil­dert mir schnell, dass sie nor­ma­ler­wei­se sie­ben Leu­te sind, sich vier Mal die Woche zum Kar­ten­spie­len tref­fen und das seit bereits 1,5 Jah­ren. Daher ken­nen sie sich alle. Sie kommt noch dazu, zu erwäh­nen, dass sie schon immer im Wed­ding wohnt und jeden Tag zu Kar­stadt geht, wäh­rend­des­sen beginnt die Che­fin bereits mit erns­ter Mie­ne das Aus­tei­len.
Die Kar­ten sind ver­teilt und die net­te Frau ver­stummt abrupt. Die ande­ren haben mich nicht ein­mal ange­schaut. Das Spiel geht wei­ter. Ich wer­de igno­riert. Die Mische­rin, die Böse der Gang, hat gewon­nen. Sechs gegen mich. Dar­auf war ich nicht vor­be­rei­tet. Nicht hier. Nicht heute. 

Das hat geses­sen. Kon­takt­auf­nah­me geschei­tert. Ich packe zusam­men und ste­he weni­ge Minu­ten spä­ter auf. Die „Net­te“ der Gang, gibt mir noch mit, dass die Frau „da drü­ben“ viel­leicht etwas sagen möch­te. Ich ver­su­che es, bekom­me ein hei­se­res „Nein“ und gehe geknickt nach Hau­se. So ver­ge­hen die Tage. Ich ver­su­che noch ein­mal eine Frau, die jedes Mal allein an einem Platz sitzt und in die Fer­ne starrt, anzu­spre­chen. Sie müss­te doch Lust auf Reden haben, den­ke ich mir. Fehl­an­zei­ge. Das bekann­te Wort „Nein“ ertönt noch vor dem Ende mei­ner Fra­ge. Viel­leicht wur­de sie gewarnt.

So ver­mei­de ich ab dann das Fra­gen von wild­frem­den Mit­men­schen und beschrän­ke mich dar­auf, in den fol­gen­den Tagen ein­fach zu sit­zen, zu gucken und Kaf­fee zu trin­ken, dazu ein Stück Kuchen. Das berühm­te Duo. 

Die Anderen

Bei län­ge­rer Betrach­tung gibt auch so viel zu sehen. Ver­irr­te Tou­ris­ten. Ganz, ganz sel­ten mal jemand mit einem Lap­top, der wie ein Rei­sen­der aus der Zukunft wirkt. Der Mann, der sei­ne Rech­nun­gen sor­tiert, bewaff­net mit sei­nem Taschen­rech­ner. Die Men­schen, die allein am Tisch sit­zen und ein­fach in die Fer­ne star­ren. Dazu Fami­li­en und ein paar Jugend­li­che, also eigent­lich nur ein­mal.
Vie­les wie­der­holt sich kon­ti­nu­ier­lich, wie in Par­al­lel­uni­ver­sen. Die Oma-Gang ist immer omni­prä­sent, dazu ande­re adrett geklei­de­te Damen, soweit das Auge reicht. Die älte­ren Ehe­paa­re und die schein­bar Ein­sa­men. Das alles gehüllt in ein Licht, leicht bräun­lich, wel­ches dem Ort eine nicht zu fas­sen­de Stim­mung gibt. Man hat das Gefühl, das Licht steht still. Die Nuan­cen, sich wech­seln­der Farb­spek­tren, sind auf­ge­ho­ben.
Es erin­nert an bestimm­te Fern­seh­se­ri­en. Wenn das hier ein Schiff wäre und wir gleich unter­ge­hen. Wir wür­den es mit Stil. Hier steht die Zeit, hier ist der Moment der Bes­te. Nicht der nächs­te und nicht der, der war. Son­dern ein­zig das Jetzt. Und das ist ver­dammt faszinierend. 

Dane­ben, genau­er gesagt inte­griert in den Ess­be­reich, gibt es einen Rau­cher­raum. Das Design der 80er fügt sich naht­los fort, unter­bro­chen von einer Wand aus Glas. Auf ihr prangt das Sym­bol einer Ziga­ret­te, die end­lich mal nicht durch­ge­stri­chen ist. Es ver­heißt: Hier darf ich es noch, hier darf ich sein. Drin­nen sit­zen drei älte­re Per­so­nen. Zwei Damen und ein Mann. Man sieht die Stil­le von drau­ßen, man sieht aber auch die Zufrie­den­heit, die mit jedem Zug aus den Ziga­ret­ten in den Kör­per gezo­gen wird.
Der Mann sitzt in der Mit­te des Rau­mes, grau­er Man­tel, dunk­le Hose, in sich ruhend. Gekonnt wird jede Minu­te ein­mal abgeascht. Hier tickt kei­ne Uhr, hier gibt der nächs­te Zug der Lun­ge den Takt vor, und der ist lang­sam. Die Augen dabei läs­sig Rich­tung Tür, alles im Blick habend, der Situa­ti­on erha­ben. Als er geht, setzt er sich sei­nen Hut auf, stützt und klam­mert sich am Ser­vier­wa­gen und schiebt von dan­nen. Die bei­den Frau­en blei­ben unauf­ge­regt sit­zen. Es bewegt sich nur der Rauch. 

Und so wie­der­holt sich die­ses Schau­spiel täg­lich. Die­ser Kos­mos hat irgend­ein Sys­tem, irgend­ei­ne Ord­nung. Aber ich ver­ste­he sie nicht. Was ich weiß, ist, dass die Oma-Gang an ihren Spiel­ta­gen um Punkt 18 Uhr auf­hört. Schein­bar haben sie noch einen zwei­ten Akti­ons­ra­di­us, nur inter­es­siert mich die­ser momen­tan gar nicht. Ich will die­sen hier genau­er kennenlernen. 

Die Wiederauferstehung

Sams­tag, am Oster­wo­chen­en­de, soll der Tag wer­den, an dem ich nicht gehetzt nach der Arbeit die­se Welt besu­che. Ich möch­te dort früh­stü­cken.
10:28 betre­te ich den Kar­stadt, vor­bei an der ers­ten Fal­le. An einem Schmuck­stand wird gleich kos­ten­los Sekt aus­ge­schenkt, die Damen mit schwar­zen Haa­ren und roten Strähn­chen sind noch beim Auf­bau. Glück gehabt, den­ke ich mir. Die Ver­füh­rung lau­ert hier an jeder Ecke. Ich fah­re mit der Roll­trep­pe hoch. Eta­ge 1. Dre­hung nach links. Eta­ge 2. Mich tren­nen noch 20 Meter. Ich hole mir einen Cappuccino. 

Ich erwar­te nichts von die­sem Mor­gen. Am Oster­sams­tag wird wahr­schein­lich nie­mand hier sein, den­ke ich mir. Das Gegen­teil ist der Fall. Es ist voll.
Ich set­ze mich auf einen der weni­gen frei­en Plät­ze, ungüns­ti­ge Lage, aber Glück hat­te ich hier noch nie. Nie­mand der Oma-Gang ist zu sehen, dafür eine Grup­pe ande­rer Omas, wie alle hier oben adrett geklei­det, top fri­siert und am Früh­stü­cken. Sie sit­zen genau an dem Platz, an dem sonst die Oma-Gang sich auf­hält. Ihr seid mutig, mur­me­le ich in mich hin­ein. Der Nach­bar­tisch ist lei­der besetzt und so muss ich war­ten.
Irgend­wann kommt er, der Moment. Ich packe mei­ne Sachen und gehe an den Tisch dane­ben. Geschafft. Pole Posi­ti­on. Ich bin am Hot-Spot und schaue in den Raum. Den Leo­pold­platz im Rücken. 

Um mich selbst zu beru­hi­gen, packe ich mein Bröt­chen aus, wel­ches ich mir zuvor beim Bäcker gekauft habe, lau­sche und gucke.
Dass auch hier die Ver­än­de­rung nicht Halt macht, wird mir klar, als eine der Frau­en am Neben­tisch äußert: „Frü­her haben wir hier ein bun­tes Ei gekriegt, Uschi“. Die rest­li­chen Zwei nicken mit vol­lem Mund zu. Sie reden über Rabat­te, die man abstau­ben kann, ver­ab­schie­den sich ab und zu, um kurz irgend­et­was zukau­fen, ver­schwin­den urplötz­lich und sind genau­so schnell wie­der da. Sie wir­ken zufrie­den, wie alle hier.
Die Frau ohne Ei fragt Uschi, ob sie heu­te noch zum Fri­seur geht. Ich den­ke mir, welch Fügung, dass die­ser Satz fällt, aber Uschi erwi­dert, sie wäre schon Don­ners­tag gewe­sen. Autsch, das hat geses­sen. Der Stim­mung tut dies trotz­dem kei­nen Abbruch. 

So gucke ich wei­ter nach links und rechts an die­sem Sams­tag­mor­gen. Es sind wie­der Fami­li­en, älte­re Damen und Her­ren, mal zusam­men, mal ein­zeln. Ein Tisch unter­hält sich in Gebär­den­spra­che und neben mir mei­ne Girls des heu­ti­gen Tages. Sie reden die gan­ze Zeit. Über den Sohn, der kei­nen Oster­ha­sen braucht, der sei schon dick genug, auch sei­ne Frau sei „auf­ge­gan­gen“ seit der Hoch­zeit. Über das Jahr der eige­nen Trau­ung, 1951, und dass eine der drei neben­bei bei ihrem Schwie­ger­sohn arbei­tet. Es sind Fet­zen, die ich auf­schnap­pe. Aber ich bin zufrie­den. Die Stim­mung an die­sem Ort gibt etwas Beru­hi­gen­des, ja Zufrie­den­stel­len­des. War­um genau, das weiß ich nicht. 

Hallo

Dann spü­re ich Käl­te. Die Kli­ma­an­la­ge spielt ihre Über­macht gegen die noch laue Früh­lings­son­ne locker aus. Ich zie­he mei­nen Pull­over an und die Frau neben mir dreht sich zu mir. Ob ich es auch so kalt fin­de, fragt sie und ich erwi­de­re sofort mit einem ver­hei­ßungs­vol­len Ja und erkun­di­ge mich im Gegen­zug, ob sie denn öfter hier seien. 

Jeden Sams­tag früh­stü­cken die Drei hier. Sie selbst kommt eigent­lich aus Rei­ni­cken­dorf, ist aber ein Wed­din­ger Kind. Außer­dem gibt es bei ihr nichts Ver­gleich­ba­res. Auch unter der Woche sei sie oft da, ein­fach etwas ein­kau­fen. Dann kommt sie manch­mal spon­tan hier hoch und trifft Leu­te. Zuhau­se wür­de sowie­so nur der Kühl­schrank brum­men und nach ihr rufen, dabei lacht sie herz­lich. Ganz lang­sam ver­ste­he ich, dass die­se Abläu­fe, die hier täg­lich statt­fin­den, wohl gar nicht geplant sind. Also nicht so rich­tig. Es ist wie die Gischt bei Wel­len­gang. Alles trifft sich. Alles gleich­zei­tig. Aber auch doch nicht. Alles zufäl­lig. Aber auch doch nicht. Die Cha­os­theo­rie im Kleinen. 

Sie wen­det sich wie­der dem Essen zu und ich bin glück­lich. Die­se net­ten Damen neben mir. Welch Genug­tu­ung. Ich möch­te in die­sem Moment gar nicht mehr wis­sen. Ich bin ein­fach zufrie­den und hole mein zwei­tes Bröt­chen her­vor, auch die Damen essen und reden wei­ter. Mal sitzt die eine allein, mal die ande­re, wäh­rend der Rest Kaf­fee nach­holt, oder im Kar­stadt wie­der schnell irgend­et­was besorgt. 

Es ergibt alles einen Sinn

Dann ist es 13:00 Uhr, die Zeit ver­ging wie im Flug. Eine der Omas ver­ab­schie­det sich. Plötz­lich tau­chen zwei Neue auf. 20 Minu­ten lang besteht die­se Kon­stel­la­ti­on, dann ver­schwin­det wie­der eine. Kei­ne 5 Minu­ten spä­ter kommt aber­mals eine Neue hin­zu. Es ist eine von der Oma-Gang. Sie alle ken­nen sich, begrü­ßen sich herz­haft. Und ich begrei­fe lang­sam immer mehr, dass alles hier mit­ein­an­der ver­bun­den ist. Alles.

Der Den­nis aus der hin­te­ren Ecke des Restau­rants kommt an den Tisch. Ob er in Polen gewe­sen sei, wegen der Stan­gen, fra­gen sie ihn. Er ver­neint, der Mut­ter geht es nicht so gut. Sie nicken ver­ständ­nis­voll und win­ken zu ihr rüber. Sie ken­nen sich alle hier. Die Uhr tickt wei­ter, ich hole mir einen wei­te­ren Cap­puc­ci­no und ein Stück Kuchen. Zeit für das berühm­te Duo. Als ich wie­der­kom­me, hat sich die Grup­pe ver­grö­ßert. Hier ist alles im Fluss.

Ich blinz­le kurz und bin inner­lich ver­wirrt. Die ehe­mals Früh­stücks­grup­pe neben mir, hat es in der Zwi­schen­zeit geschafft, durch für mich ver­wir­ren­de Aus- und Ein­wechs­lun­gen wie beim Eis­ho­ckey, auf 6 Per­so­nen anzu­wach­sen, mit fast genau den iden­ti­schen Leu­ten von Tag 1, an dem ich mit kal­ten Bli­cken emp­fan­gen wur­de. Die Oma-Gang sitzt nun also neben mir. Das ist ver­rückt.
Aber eine fehlt noch, den­ke ich mir. Viel­leicht soll­te ich es jetzt ver­su­chen. Doch dann kommt sie. Die Böse der Oma-Gang. Die „Mische­rin“. In der Hand ein Essens­ta­blett und neben ihr eine Wei­te­re, für mich frem­de Frau. Puh, den­ke ich. Sie wird hier nicht rüberkommen.

Bereits 5 Minu­ten spä­ter steu­ert sie zu ihren Mädels und wird herz­lich von allen emp­fan­gen. Ihre Beglei­tung ver­ab­schie­det sich, die ande­ren Frau­en reagie­ren mit Win­ken, wie zuvor auch schon zu ande­ren, für mich schein­bar wild­frem­den, wei­ter weg sit­zen­den, älte­ren Damen und Her­ren. Die „Mische­rin“ fragt die Run­de nach Den­nis und den Stan­gen. Das ist die Bestä­ti­gung. Die­ser Kos­mos folgt fes­ten Regeln. Von heu­te früh bis jetzt, wur­de der Tisch ein­fach nach und nach durch­mischt. Jeder kennt jeden, auch wenn man in ver­schie­de­nen Ecken des Rau­mes sitzt, den einen bes­ser, den ande­ren schlech­ter. Es ist wie ein Netz, ein auf fest­ge­leg­ten Zufäl­len basie­ren­des Netz­werk. Das ist fas­zi­nie­rend. Restau­rant-Kar­stadt ist wie eine Zel­le und hier dif­fun­diert, was dazu­ge­hört. Und das bin nicht ich.

Die Mische­rin, die böse Oma, spricht mich an, ich bin bereit zu kon­tern, aber sie fragt freund­lich nach dem Stuhl vor mir und ich sage nur „Ger­ne, ja, ja, ja, kön­nen sie haben.“ So sit­zen sie da. Sie­ben Leu­te, Kar­ten spie­lend. Genau­so wie die „Net­te“ der Gang es bei mei­nem ers­ten Ver­such vor­her­ge­sagt hat­te.
Die Son­ne scheint durch die brei­ten Fens­ter und gibt der Stim­mung wie­der etwas Magi­sches. Sie reden und lachen, fra­gen, wo denn eini­ge am Don­ners­tag waren, da war doch Treff – ich war da, könn­te ich jetzt frech rüber rufen – woher die­ser Joker auf dem Tisch plötz­lich kommt, war­um Ger­di so früh mit den Kar­ten raus­geht und Kal­le nun auch. Moni­ka beschwert sich über die­sen Spiel­stil. Ger­di ant­wor­tet irgend­et­was, was ich nicht ver­ste­hen kann und Moni­ka, die „Mische­rin“, erwi­dert nur: „Lass mich in Ruhe“. Die Stim­mung ist gelöst. Es wird gelacht.

17:56 Uhr: Ich bin mit der Grup­pe fast allein. Ein­zig ein Pär­chen in der ande­ren Ecke ist noch hier. Er schreibt irgend­et­was auf dem Smart­phone, sie guckt in ihres und wischt dar­auf wild herum.

17:58 Uhr das Spiel wird schneller.

18:00 Uhr: Das Spiel ist aus.
Sie hören auf. Die von mir immer noch arg­wöh­nisch beäug­te „Mische­rin“ der ers­ten Stun­de erhebt sich, stellt den Stuhl wie­der zu mir und bedankt sich freund­lich. Sie sucht ihre Sachen zusam­men, nimmt das Tablett, was weder ihr noch mir gehör­te, fragt mich, ob sie auch mei­nen Müll mit­neh­men dür­fe und wünscht mir fro­he Ostern.

Es ist alles anders

Mög­li­cher­wei­se war alles von Anfang nur ein Miss­ver­ständ­nis. Viel­leicht muss­te sie Ver­trau­en auf­bau­en. Ich, der Frem­de in ihrem Restau­rant, ja in ihrer Stadt, in ihrem Kar­stadt. Und sie alle, die schon immer hier sind.

Es ist nun 19:08 Uhr und ich sit­ze kom­plett allein im 2. Stock. Ich dre­he mich das ers­te Mal heu­te Rich­tung Leo­pold­platz. Die Son­ne senkt sich lang­sam, aber gemäch­lich hin­ter dem Rat­haus dem Hori­zont ent­ge­gen. Ver­ein­zel­te Strah­len bah­nen sich den Weg über den Leo. Die Men­schen sam­meln sich in ihnen. Die Obdach­lo­se vom Leo­pold­platz sitzt immer noch dort, wo sie heu­te Mor­gen saß, als ich in der Früh vor­bei­ge­lau­fen bin. Es wirkt alles wie immer, denn es ist wie immer.

19:32 Uhr: „Ich müss­te sie in zehn Minu­ten raus­schmei­ßen“ ruft der Küchen­chef des Tages zu mir her­über. Ich packe. Gehe durch den Kar­stadt, die Frau­en am Sekt­stand packen ein, und ste­he nun drau­ßen. Vor mir der hek­ti­sche Leo­pold­platz, die Kreu­zung, der U‑Bahn Zugang, wel­cher unauf­hör­lich Men­schen aus­spuckt und zu sich hin­ein­zieht. Mein Kopf ist bal­la-bal­la. Fast 9,5 Stun­den Kar­stadt. 9,5 Stun­den an die­sem Ort. An einem Platz. 
Ich habe nicht das Gefühl, viel erlebt zu haben, mit unzäh­li­gen Geschich­ten raus zu gehen, denn genau das, sieht die­ser Ort gar nicht vor. Ich habe aber das Gefühl, woan­ders gewe­sen zu sein, nicht unbe­dingt in der Ver­gan­gen­heit, aber in einem ande­ren Jetzt. Die Zeit wur­de kurz ange­hal­ten. Das hat selbst Ein­stein nicht gedacht.

Andaras Hahn

Andaras Hahn ist seit 2010 Weddinger. Er kommt eigentlich aus Mecklenburg-Vorpommern. Schreibt assoziativ, weiß aber nicht, was das heißt und ob das gut ist. Macht manchmal Fotos: @siehs_mal
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1 Comment Leave a Reply

  1. Mei­ne Güte, was für ein tol­les Beschrei­ben die­ser Situa­tio­nen im Cafe´bei Kar­stadt. Ich habe mich köst­lich amü­siert. Ich glau­be, da muss ich auch mal hin­ge­hen. Super geschrie­ben. Ens ruff mit Map­pe, wie der Ber­li­ner so sagt.
    Danke.

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