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Fahrradverkehr:
Ein Geisterrad an der Unfall-Kreuzung

29-Jährige starb bei Abbiege-Unfall in der Reinickendorfer Straße
8. Oktober 2021
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Immer wie­der blei­ben Men­schen an der Kreu­zung ste­hen, wenn sie das wei­ße Geis­ter­rad ent­de­cken. Seit weni­gen Tagen lehnt es in der Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße an einem Gelän­der auf dem Mit­tel­strei­fen der brei­ten und stark befah­ren­den Stra­ße, kurz bevor die Stra­ße zur Fenn­stra­ße wird, direkt an der Ein­mün­dung Schön­wal­der Stra­ße. Blu­men lie­gen davor, Ker­zen bren­nen und erin­nern an das tra­gi­sche Unglück, das hier am Frei­tag vor einer Woche gesche­hen ist. Am 1. Okto­ber um 11.20 Uhr ist an die­ser Stel­le eine jun­ge Rad­fah­re­rin bei einem Unfall gestorben.

Geisterrad in der Reinickendorfer Straße
Geis­ter­rad in der Rei­ni­cken­dor­fer Stra­ße. Foto: Hensel

Ein Mann tritt an die­se Stel­le des Geden­kens. Er schaut ganz genau auf das Foto der 29-Jäh­ri­gen, das irgend­je­mand an das Rad gelehnt hat. Nein, er kennt sie nicht. Beim Allgmei­nen Deut­schen Fahr­rad-Club Ber­lin e.V. (ADFC) ist zu lesen, dass sie Maxi hieß. Zu sehen ist eine blon­de jun­ge Frau mit Jeans und gestreif­tem T‑Shirt, mit schwar­zem Ruck­sack, in dem eine Son­nen­blu­me streckt. „Die Zeit für Dich/mit Dir war zu kurz!“ wur­de hand­schrift­lich unter dem Foto notiert. Der Mann betrach­tet das jun­ge Gesicht, seufzt und geht sei­ner Wege. Gleich dar­auf ent­deckt eine älte­re Frau das Geis­ter­rad. Sie will eigent­lich nach Hau­se und schnell zum Bus, doch dann bleibt sie neben dem weiß gestri­che­nen Rad ste­hen – am Ende wird sie zwei wei­te­re Bus­se ver­pas­sen. Sie beschäf­tigt vor allem, wie das pas­sie­ren konn­te und wer die Schuld trägt.

Der Her­gang des Unfalls ist rela­tiv gut rekon­stru­iert wor­den. Die Kreu­zung war am ver­gan­ge­nen Frei­tag für Stun­den gesperrt wor­den, Hub­schau­ber haben aus der Luft alles genau auf­ge­nom­men, die Kreu­zung ver­mes­sen, auf der Stra­ße sind noch die Mar­kie­run­gen der Poli­zei zu sehen. Die jun­ge Rad­fah­re­rin war auf der Schön­wal­der Stra­ße unter­wegs und woll­te an der Ampel nach links in die Fenn­stra­ße ein­bie­gen. Ein neben ihr fah­ren­der LkW-Fah­rer bog nach rechts Rich­tung Net­tel­beck­platz ab und über­roll­te sie. Trotz Reani­ma­ti­ons­maß­nah­men starb die Rad­fah­re­rin noch an der Unfall­stel­le. Der 43-jäh­ri­ge Fah­rer des Lkw erlitt einen Schock.

Bereits 30 Verkehrstote in diesem Jahr

„Die Rad­fah­rer sind immer schwächs­ten, wie die Fuß­gän­ger – sie haben kei­ne Chan­ce“, sagt die älte­re Frau, die auch den nächs­ten Bus fah­ren lässt, um am Geis­ter­rad der jun­gen Frau zu geden­ken. Wie in den ver­gan­ge­nen Jah­ren gab es auch 2021 bereits eini­ge soge­nann­te Abbie­ge­un­fäl­le zwi­schen Last­wa­gen und Rad­fah­ren­den. Laut ADFC kamen in die­sem Jahr in Ber­lin bereits neun Rad­fah­ren­de im Stra­ßen­ver­kehr zu Tode – aber auch acht Fußgänger:innen, fünf Insas­sen von Autos, fünf Motor­rad- oder Rol­ler­fah­ren­de sowie drei wei­te­re Verkehrsteilnehmer:innen. Ins­ge­samt star­ben 30 Men­schen im Stra­ßen­ver­kehr (2020: ins­ge­samt 50).

Gera­de zwei Tage vor dem töd­li­chen Unfall im Wed­ding starb ein wei­te­rer Rad­fah­rer (86) in Pan­kow, die Umstän­de sind jedoch noch nicht geklärt. Für bei­de haben der ADFC Ber­lin e. V. und Chan­ging Cities e. V. am Sonn­tag jeweils ein Geis­ter­rad auf­ge­stellt. Zudem gab es Mahn­wa­chen und eine Fahr­rad­de­mons­tra­ti­on zu den Unfall­or­ten. An der Mahn­wa­che im Wed­ding nah­men 150 Men­schen teil. Die Fahr­rad­de­mons­tra­ti­on zog dann wei­ter bis zum Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­te­ri­um. Bei der Abschluss­kund­ge­bung unter­strich der ADFC sei­ne For­de­run­gen nach einem bes­se­ren Schutz für Rad­fah­ren­de in Ber­lin. Neben all­ge­mei­ner Auf­merk­sam­keit und Rück­sicht­nah­me gehö­re dazu laut ADFC auch eine „feh­ler­ver­zei­hen­de Infra­struk­tur“. Lkw müss­ten end­lich mit Tech­nik aus­ge­stat­tet wer­den, die töd­li­che Kol­li­sio­nen ver­hin­dern. Ein ein­fa­cher Abbie­ge­as­sis­tent ist ab dem kom­men­den Jahr für LkW ver­pflich­tend. Der ADFC for­dert aber wei­ter­ge­hen­de Maß­nah­men wie einen Abbie­ge­as­sis­ten­ten mit Kol­li­si­ons­er­ken­nung und Not­stopp für alle Lkw und das nicht nur bei ab dann neu zuge­las­se­nen Fahr­zeu­gen. Auch bes­se­re Kon­trol­len der vor­ge­schrie­be­nen Schritt­ge­schwin­dig­keit beim Abbie­gen wur­den gefordert.

Für die 29-Jäh­ri­ge Rad­fah­re­rin kom­men alle künf­ti­gen Ver­kehrs­si­cher­heits­maß­nah­men zu spät – jeder noch zu bau­en­de oder zu mar­kie­ren­de Rad­weg*, jedes Sicher­heits­sys­tem, jede mög­li­che künf­ti­ge gesetz­lich Rege­lung. Das wei­ße Geis­ter­rad an der Unfall­stel­le erin­nert an sie und an den schwe­ren Unfall, der nicht nur nach Mei­nung der bei­den Inne­hal­ten­den an der Unfall­stel­le hät­te ver­hin­dert wer­den müssen.

* Der Bau der Rad­we­ge im Wed­ding kommt nur lang­sam vor­an. Auf vie­len stark befah­re­nen Stra­ßen im Stadt­teil sind Rad­fah­ren­de weit­ge­hend unge­schützt, so in der Brun­nen­stra­ße, der Bad­stra­ße, der Prin­zen­al­lee, in Tei­len der Mül­lerstra­ße, in der Amru­mer Stra­ße und der Pank­stra­ße. Zuletzt soll­ten in der Mül­lerstra­ße zwi­schen S‑Bahnhof Wed­ding und S/U Leo­pold­platz die Rad­strei­fen mar­kiert wer­den. Laut Bezirks­bür­ger­meis­ter Ste­phan von Das­sel soll­te damit am 27. Sep­tem­ber begon­nen wer­den. Bis­her haben die Arbei­ten jedoch nicht begon­nen. Auf eine Anfra­ge vom 4. Okto­ber hieß es aus der Pres­se­stel­le des Bezirks, dass die aus­füh­ren­de Fir­ma der­zeit die Erstel­lung eines Ver­kehrs­zei­chen­plans ver­an­lasst, damit die Ver­kehrs­len­kung Ber­lin die Absper­rung für die Mar­kie­rung geneh­mi­gen kann.

Dominique Hensel

Dominique Hensel lebt und schreibt im Wedding. Jeden zweiten Sonntag gibt sie hier den Newsüberblick für den Stadtteil. Die gelernte Journalistin schreibt für den Blog gern aktuelle Texte - am liebsten zu den Themen Stadtgärten, Kultur, Nachbarschaft und Soziales. Hyperlokal hat Dominique es auf jeden Fall am liebsten und beim Weddingweiser ist sie fast schon immer.

3 Comments

  1. Was ist ver­kehrs­tech­nisch über­haupt in der Mül­lerstra­ße los?
    Stän­dig Stau, die­ser scheiß moto­ri­sier­te Indi­vi­du­al­ver­kehr, es ist zum Kotzen.
    Die­se stin­ken­den und lär­men­den Mord­in­stru­men­te wei­chen auf die Neben­stra­ßen aus und fah­ren da viel zu schnell, par­ken in 2. Rei­he und über­ho­len Rad­fah­ren­de viel zu dicht.
    Was macht die Ver­kehrs­pla­nung, das Ord­nungs­amt? Ich hab da noch nie jeman­den gese­hen, der ein­ge­schrit­ten wäre.
    Autos raus aus der Stadt1

  2. Hal­lo Herr Karaduman,

    die­se Unter­strei­chung ist nicht vor­han­den um eine Unter­schei­dung zu machen. Die­se Unter­strei­chung ist des­halb da, weil die­ser Satz­ab­schnitt mit einem Link ver­knüpft ist, der zu einem ande­ren Arti­kel mit ähn­li­chem The­ma führt bzw. in die­sem Fall sogar zur Quel­le und für Sie als Ser­vice zum genau­en Nach­le­sen ein­ge­fügt wurde. 🙂

    Pro­bie­ren Sie es ein­fach mal aus und kli­cken sie doch ein­fach mal auf den unter­stri­che­nen Text! 🙂

    Lie­be Grüße

  3. Hal­lo,

    neun Rad­fah­ren­de zu Tode schrei­ben sie unter­strich­ten, um es deut­lich her­vor­zu­he­ben. Dar­auf­hin erwäh­nen Sie auch Fuß­gän­ger etc.
    Ja, genau! Es ster­ben auch ande­re Ver­kehrs­teil­neh­men­de, deren Leben genau­so wich­tig ist wie die der Radfahrenden!
    Ich fin­de es nicht gut, dass Sie bei Toten eine Unter­schei­dung machen!!!

    LG
    Karaduman

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