Gut 30 Teilnehmer trotzen der Eiseskälte am 9. März, um an einer fachkundig geführten Radtour zu den vergessenen Orten zerstörter Vielfalt im Wedding teilzunehmen. Dabei führt der Kulturmanager und leidenschaftliche Stadtführer Eberhard Elfert, der die Tour organisierte, an Orte, an denen Vergangenheit buchstäblich vergraben worden ist. Auf dem Plan stehen auch „ritualisiert erstarrte“ Gedenkorte aus der Zeit des Kalten Krieges.
“Es geht nicht um die historischen Daten und Fakten, sondern darum, die Orte zu sehen und die geschichtlichen Brüche”, sprudelt es aus Eberhard Elfert, der die Tour leitet, heraus. So schnell kann man nicht mitschreiben, wie Elfert drauflosredet. Ihm schwebt ein interaktiver Plan des kollektiven Gedächtnisses vor, den er mit den Bewohnern vor Ort erstellen möchte, eine Art Initiative, die sich mit Geschichte befasst. Dabei sollte auch das Thema Migration mit eingeschlossen werden.
Aber zunächst zurück zur Geschichte. Im Wedding treffen sehr unterschiedliche Kulturen aufeinander. Dabei, so erklärt Elfert, ginge das Denken über die Grenzen der Kieze und Communities verloren. Was wir heute noch sehen können, ist eine unzusammenhängende und widersprüchliche Ansammlung von Erinnerung, die dringend einer Überarbeitung bedarf. “Aus meiner Sicht wiegt schwer, dass sich die Verwaltung, Politik und Kirche aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen hat”, erzählt Elfert den interessierten Teilnehmern. Erinnerungskultur bleibe dadurch rudimentär, entsprechend der Situation seit den 1980er Jahren. Was nicht reflektiert würde, sei die Politik mit der Erinnerung, die in der Zeit des Kalten Kriegs betrieben wurde. Der Wedding, in dem sich die Menschen in besonderer Form auf die Arbeiterbewegung beziehen, hätte aus einem Wunsch nach Repräsentation gegenüber „Ost-Berlin“ seine eigene Geschichte zum Teil systematisch entsorgt. Auch bei denen, die für die Bearbeitung der Geschichte bezahlt würden, stände es nicht ganz so gut. Geschichte verkrieche sich wie hinter Mauern, sie sei nicht bei den Menschen.
An der Prinzenallee 33 in Gesundbrunnen beginnt die Tour. “Die örtliche SPD hält im Saal vom Glaskasten regelmäßig ihre Abteilungssitzung ab”, erläutert Elfert. “Aber nicht einmal eine Gedenktafel erinnert an die Sozialdemokraten und Kommunisten, die in einem wilden KZ 1933 im Keller des gleichen Gebäudes gefoltert wurden.” Assibi Wartenberg, selbst SPD-Mitglied und Betreiberin des afrikanischen Restaurants, steckt den Kopf aus der Tür. Sie freut sich über das große Interesse der Weddinger an der jüngeren Geschichte: “Vieles ist gut zu wissen”, findet sie, und sie meint damit, dass es auch wichtig ist, die Hintergründe zu kennen. Sie würde sich nun auch für eine Gedenktafel am Gebäude einsetzen.
Immer wieder schlägt Eberhard Elfert den Bogen von der Machtergreifung 1933 über das Kriegsende und die Ereignisse des Kalten Krieges bis in die Gegenwart. Zum Beispiel bei der Gedenkstätte für die Opfer des 17. Juni 1953, die sich auf dem Friedhof Seestraße befindet. Wer die Skulptur besichtigen will, die sich aus ihren Fesseln und damit der Unfreiheit befreit, kommt – ohne es recht zu bemerken – an schlichten Massengräbern aus der NS-Zeit vorbei.
Allenfalls das Todesdatum gibt einen Anhaltspunkt für den geschichtlichen Kontext, hingegen keine Erklärungstafel. Nichts verweist darauf, dass es sich hier um Menschen handelt, die der Euthanasie zum Opfer fielen oder als politische Gefangene in der Haftanstalt Plötzensee ermordet wurden. An das Aufbegehren im Jahr 1953 in der DDR erinnern hingegen, überlebensgroß in Szene gesetzt, 15 zufällig in Weddinger Krankenhäusern verstorbene Opfer des Aufstands. Dies alles im Jahr, in dem die Stadt an die „Zerstörte Vielfalt“ erinnern möchte?
Unbeabsichtigte, gedankenlose, oft absurde Zusammenhänge in der Gedenkkultur sind etwas, was den Tourenleiter Elfert sichtlich ärgert. So erläutert er, das vor dem Alten Rathaus Wedding nach dem Zweiten Weltkrieg ein riesiges Wandbild mit Picassos “Guernica”- Gemälde vom Architekten Borrnemann vorgesehen war. Aus dem großen Entwurf wurde ein schlichter Stein, der grob verallgemeinernd an alle Opfer von Tyrannei und Gewaltherrschaft erinnert. Eine Station bildeten auch die einstigen Pharussäle, einen für die Geschichte der Arbeiterbewegung im Wedding, insbesondere für die Kommunistische Partei bedeutsamen Ort. Heute steht hier der schliche Nachkriegsbau der AOK. Zur erinnern sei hier viel, z.B. an die Jugendlichen, die nach Swing-Musik tanzten, ihr einfacher, aber auch höchst gefährlicher Protest gegen das NS-Regime.
An wen die Sitzmöbel gemahnen, die den Schriftzug LEOPOLD auf dem Leopoldplatz bilden, nämlich an den preußischen Militär Leopold I. von Anhalt-Dessau, daran haben weder Planer, Bewohner und noch das Stadtplanungsamt bei der Neugestaltung des Platzes gedacht. Das Eingeben des Wortes “Leopold” in den Rechner und ein wenig Nachdenken hätte da viel bewirken können, so Elfert. “Das ist typisch für die Erinnerungskultur, die einer dringenden Neuordnung bedarf”, findet er. Angesichts der Straßennamen um den Platz, die unhinterfragt an die Schlachtfelder des Spanischen Erbfolgekrieges erinnern, erscheint die Diskussion um die Straßennamen im Afrikanischen Viertel wenig überzeugend.
Eberhard Elfert war vielen Geschichts- und Erinnerungsprojekten direkt oder indirekt beteiligt. So moderierte er in weiten Strecken den Umgang mit den Denkmalen der DDR im Ostteil Berlins, bereitete die Wettbewerbe für das Denkmal des 17. Juni vor dem heutigen Finanzministerium vor und engagierte sich bei der Markierung des Mauerverlaufes. Dabei entstanden zahlreiche Veröffentlichung zum Thema.
Beiträge zu den Vergessenen Orten: Pharussäle, Telefunkenhaus, Leopoldplatz
[…] Das ist schon allein daran zu erkennen, dass am „Wilden Konzentrationslager“ des Ballhauses Glaskasten in der Prinzenallee nicht einmal eine Gedenktafel angebracht worden […]