Gastautor Henning Marcard ist traurig über den Zustand des Rathenaubrunnens im Volkspark Rehberge. Liegt die Vernachlässigung des Brunnens daran, dass Walther Rathenau in Vergessenheit geraten ist? Dass niemand mehr weiß, dass der 24. Juni 2022 sein hundertster Todestag ist? Unser Gastautor aus dem Afrikanischen Viertel erinnert an das Leben des auch für den Wedding bedeutsamen “ersten Opfers der Nationalsozialisten”.
Am 24. Juni dieses Jahres jährt sich das tödliche Attentat auf Walther Rathenau zum 100. Mal. Rathenau? Die Berliner kennen den Rathenauplatz in Halensee, dort wo der Kurfürstendamm auf die Stadtautobahn trifft. Künstlerisch aufgewertet durch die – zunächst kontroversen, mittlerweile ikonischen – einbetonierten Cadillacs, die 1987 Teil des „Skulpturenboulevards“ Kurfürstendamm wurden, als Berlin sein 750-jähriges Stadtjubiläum feierte.
Etwas weiter südlich wurde Walther Rathenau das „Erste Opfer des Dritten Reichs“, wie es sein Biograf Helmuth M. Böttcher beschreibt. An der Stelle, wo der Reichsaußenminister von rechtsradikalen Attentätern durch Schüsse und eine Handgranate ermordet wurde, findet man heute einen Gedenkstein, und noch etwas weiter Richtung Süden steht seine Villa, die er 1910 errichten ließ.
Der Wedding und Rathenau: Eine eigene Geschichte.
Emil Rathenau, Walthers Vater, gründete in den 1880er Jahren die AEG, bald einer der weltgrößten Elektrokonzerne und damit einer der Schrittmacher der Industriellen Revolution in Berlin. Das monumentale Eingangstor und die teils historischen Gebäude auf dem AEG-Gelände am Weddinger Humboldthain zeugen noch heute davon.
Die Familie Rathenau lebte an der Grenze zum Wedding in der Chausseestraße 99. Dort kam der erste Sohn Walther zur Welt.
Die Familie Rathenau war jüdisch. Als bekennender Jude wusste Walther Rathenau um die Ressentiments, die einer Karriere in der Politik entgegenstanden. Die Anfeindungen, die er später als deutscher Außenminister ertragen musste, waren auch immer judenfeindlich eingefärbt. Dabei war Walther Rathenau politisch ein Liberaler mit teils revolutionären Vorstellungen bezüglich der Methoden, die Auswüchse des Kapitalismus einzudämmen. Bis heute findet man unter deutschen Ministern und Bundestagsabgeordneten keine jüdischen Repräsentanten mehr.
Walther Rathenau war Schriftsteller, Philosoph, Liebhaber und Förderer der Künste. Aber auch Organisator der Kriegswirtschaft während des ersten Weltkrieges. Bedeutend für Weddinger, die sich mit der Geschichte des Afrikanischen Viertels beschäftigen: Nach der Niederschlagung der aufständischen Herero und Nama in der ehemaligen Deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) begleitete Walther Rathenau den Leiter des Reichskolonialamtes Bernhard Dernburg als Wirtschafts-Sachverständiger auf zwei Reisen zunächst nach Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Rwanda, Burundi) und später nach Südafrika und Deutsch-Südwestafrika. Er verurteilte die Gräueltaten, die deutsche Kolonialherren an der afrikanischen Bevölkerung verübt hatten, und konstatierte, dass die deutschen Kolonialgebiete dauerhaft keinen wirtschaftlichen Nutzen für das Kaiserreich bieten würden. Ein erster Schritt auf dem langen, steinigen Weg der Dekolonisation.
Seine außenpolitischen Überzeugungen und Handlungen orientierten sich daran, dass ein Ausgleich der Interessen ausschließlich auf dem Wege der Diplomatie erreicht werden könne. Viele Außenminister haben sich seit Kriegsende 1945 auf Walther Rathenaus Prinzipien berufen.
Walthers Mutter Mathilde gelang es nach seinem gewaltsamen Tod, den bekannten Kunstliebhaber und Schriftsteller Harry Graf Kessler dafür zu gewinnen, eine erste autorisierte Biografie über Walter Rathenau zu verfassen, die 1928 erschien. Kessler und Rathenau waren einander gut bekannt und ihnen war gemeinsam, dass sie „ewige Junggesellen“ waren. So sagte man damals.
Tipp: Kesslers Rathenau-Biographie ist als kostenloses E‑Book für Amazon Kindle erhältlich.
Der versiegte Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge
Im Volkspark Rehberge stößt man auf den Rathenau-Brunnen: ein Denkmal, eine Skulptur, eine traurige Geschichte. 1930 vom Bildhauer Georg Kolbe geschaffen, beeindruckt der Brunnen bis heute die expressionistische, strenge und monumentale Formgebung. Zwei Reliefplatten am Aufgang zum Plateau zeigen die Köpfe von Emil und Walther Rathenau im Profil.
Nachdem die Nationalsozialisten unter Hitler im Jahr 1933 die Macht in Deutschland übernommen hatten, dauerte es nicht lange: Noch im selben Jahr wurde der Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge demontiert und später eingeschmolzen. Walther Rathenaus Schriften fielen den Bücherverbrennungen der Nazis zum Opfer.
Es folgten zwölf Jahre Nazi-Barberei, die bedingungslose Kapitulation, Besatzung, Berlin-Blockade, Luftbrücke, Mauerbau und kalter Krieg.
Erst 1987, zur 750-Jahr-Feier Berlins, wurde der Rathenau-Brunnen im Volkspark Rehberge rekonstruiert. Eine Dokumentation der Arbeiten ist hier zu finden. Eine großflächige Abbildung des sprudelnden Brunnens im Jahr 1989 ziert den U‑Bahnhof Rehberge.
Tristesse jedoch, wenn man den Brunnen heute besucht: seit gut 20 Jahren fließt kein Wasser mehr über die Bronzeschraube. Das Brunnenbecken ist trocken – immerhin wird offenbar der dort hineingeworfene Abfall regelmäßig entsorgt. Die Brunnenplastik und die zum Ensemble gehörenden Mauern und Säulen sind großflächig durch Graffiti verunstaltet. Eine Tafel, die die Symbolik und historische Bedeutung des Brunnens erklärt, sucht man vergebens. Auch der Denkmalschutz, sonst gerne sehr gründlich, scheint sich nicht zu kümmern.
Hundert Jahre genügen also, um Anlass und Geschichte des Denkmals in Vergessenheit geraten zu lassen. Allen Bürgern und Gruppen, die sich heute für Erinnerungsorte, Mahnmale, Gedenkstätten usw. einsetzen, sollte dies eine Warnung sein: Hundert Jahre nur und die Politik, die Öffentlichkeit, die Verwaltung und die Institutionen, die sich auf eine zu ehrende Person berufen – sie wenden sich ab.
Schlecht gepflegte Erinnerungsorte in der gesamten Stadt
Der Gedenkstein am Ort des Attentats in der Koenigsallee präsentiert sich in einer ähnlich traurigen Szenerie: Die nicht verrotteten Überreste eines Kranzes der Rathenau-Gesellschaft – man fragt sich, ob sie dort seit dem 100. Geburtstag oder seit dem 90-jährigen Jahrestag des Attentats liegen. Die BSR umkreist den Gedenkort offenbar auch in gebührendem Abstand. Und auch das Rathenau-Museum in den Räumen von Schloss Freienwalde: dauerhaft geschlossen, Zukunft ungewiss.
Lediglich die Rathenau-Villa in der Koenigsallee und die Grabstätte der Familie auf dem Waldfriedhof Schöneweide befinden sich nicht in einem beklagenswerten Zustand.
Weiterführende Links
Wir. Der Mutmach-Podcast der Berliner Morgenpost
Von Hitler zu Putin, von Rathenau zu Selenskij
Vor 100 Jahren: Walther Rathenau wird Außenminister
Die frühen Jahre der Weimarer Republik
1. Wer war Walther Rathenau?
Dokumentation von Jürgen Corleis
[osm_map_v3 map_center=“52.5496,13.3357” zoom=“16.0” width=“95%” height=“450” post_markers=“1” ]
Herzlichen Dank an den Autor und den WeddingWeiser für den informativen Beitrag und das Bemühen, Aufmerksamkeit für das einzigartige und vernachlässigte Denkmal zu schaffen.