Ein Samstagmorgen im Herbst, 7.30 Uhr – ich fahre gerade in Richtung Leopoldplatz. Vor dem ehemaligen Bürgeramt liegt mitten auf dem Fußweg ein Mann. Ein Obdachloser. Mit dem Gesicht nach unten. Zwei Männer von der Berliner Straßenreinigung gehen zu ihm; er reagiert jedoch nicht, vermutlich liegt er da schon eine Weile regungslos. Einer der Männer greift zum Handy und telefoniert, ruft wahrscheinlich Notarzt oder Polizei. Szenen, die man in Berlin eigentlich tagtäglich sieht und trotzdem schockieren sie immer wieder. Mich jedenfalls.
Viele Leute laufen daran vorbei – wollen es nicht sehen, oder nehmen es auch tatsächlich gar nicht mehr wahr. Doch einige Leute schauen nicht weg; helfen sogar. Eine Organisation, die sich unter anderem am Leopoldplatz solchen Menschen widmet, ist die Berliner Obdachlosenhilfe. Der Verein hat seinen Sitz in der Buttmannstraße 1A im Wedding.
Am 23.12.2013 erfahre ich das erste Mal davon. Bei Facebook lese ich einen Tag vor Heiligabend, dass man sich dort trifft, um zu kochen und danach das Essen an Bedürftige zu verteilen. Seit Jahren kann ich dem ganzen Weihnachts-Tamtam nichts mehr abgewinnen. Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten verstehe ich wieder den Sinn darin: Leuten zu helfen, für andere da zu sein, etwas Gutes zu tun. Ich quäle mich am 24.12. um 13.30 Uhr noch durch den vollen Supermarkt, der in einer halben Stunde schließen wird. Sämtliche Weihnachtssüßigkeiten sind auf Centbeträge reduziert. Ich verdiene selbst nicht groß, habe aber aus irgendeinem Grund das Bedürfnis, auch die letzten Reserven meiner Geldbörse zu plündern und kaufe alles, was geht. Gegen 16 Uhr sitze ich mit Fremden am Tisch, schmiere Brote, koche Suppe und bin gespannt, was noch auf mich zukommt.
17 Uhr Abfahrt – Richtung Leo. Die Touren laufen immer ähnlich ab. Ich habe noch 2 Winterjacken, die ich seit Jahren nicht mehr anziehe und ebenfalls spenden möchte. Am Leopoldplatz warten viele Menschen … hungrige Menschen … in der Winterkälte frierende Menschen. Meine Jacke ist nach wenigen Minuten vergriffen. Der Suppentopf wird leerer und leerer. Ich reiche einem Mann Mitte 40 ein Brötchen. Er klärt mich allerdings schnell auf, dass ich es zu gut gemeint habe: „Schneckchen, is lieb jemeint, aber dit kann ick nich essen! Hab doch kaum noch Zähne!“ Wieder was gelernt, obwohl es so logisch und offensichtlich ist. Meine Weihnachtsschokolade wird allerdings dankend angenommen. „Dit is jut, dit kann ick lutschen!“ Meine zweite Jacke wird anprobiert.
Ich stehe schockiert da: Eine schwangere Frau, wahrscheinlich sogar jünger als ich selbst, verliebt sich sofort in die Jacke, bekommt sie aber wegen des dicken Bauches nicht zu. Ich bin fassungslos bei dem Gedanken, dass sie auf der Straße übernachten wird. Viele erzählen mir, dass sie seit Jahren drogenabhängig sind, dass sie von ihren Frauen verlassen wurden, ihren Job verloren haben oder aus welchen Gründen auch immer hier gelandet sind. Die Gründe sind mir am Ende eigentlich egal. Ich bin nach kurzer Zeit einfach nur fix und alle. Der Alkohol- und Obdachlosengeruch, die Kälte, die sich schon nach nur einer Stunde in meine Beine frisst…. Ich will nur nach Hause und bin nun von einer Sekunde auf die andere überglücklich, dass ich ein Dach über dem Kopf habe, dass ich zu Hause die Heizung andrehen und mich in die Wanne legen kann. Alles Dinge, die diese Menschen nicht tun können. Und doch gehe ich mit einem Glücksgefühl ins Bett – ich habe geholfen! Auch, wenn das nur eine Kleinigkeit war, so sind es eben genau diese Dinge, die zählen!
Seither habe ich immer wieder geholfen – entweder bei weiteren Touren mitgemacht oder im Vorfeld Stullen geschmiert und Gemüse geschnippelt; Klamotten gesammelt oder Plätzchen gebacken. Die letzten Wochen habe ich wieder kräftig Kleinigkeiten zur Seite gelegt: habe in Hotels die kostenfreien Kosmetikproben nicht selbst genutzt, sondern mitgenommen, im Supermarkt 20–30 Zahnbürsten, Deoroller, Taschentücher und Ohrenstäbchen gekauft, all dies mit Osterschokolade in Tütchen gepackt und den festen Willen gehabt, es vor Ostern bei der Berliner Obdachlosenhilfe vorbeizubringen, damit sie es verteilen.
Doch heute Morgen verabschiedete sich plötzlich dieses Gefühl der Hilfsbereitschaft: Auf dem Weg zur Arbeit, um 5.30 Uhr am Morgen, wurde ich aufs Übelste von einem Obdachlosen beschimpft und belästigt. Er kam schwankend in meine Richtung, rief mir hinterher, dass ich „ruhig weglaufen soll, es würde mir jedoch nichts bringen“. Ich griff sofort zum Handy, wählte die 110, war mir sicher, dass diese Situation nicht gut ausgehen wird und ich in wenigen Sekunden eine Bierflasche im Nacken haben werde. Zum Glück ging die Situation aber gut aus, da ich nur wenige Meter von meinem neuen Arbeitgeber, der sich ironischerweise gegenüber einer Polizeiwache befindet und auch erst neulich viel Geld an die Kältehilfe gespendet hat, entfernt war und zudem sehr viel schneller als der volltrunkene, graubärtige Mann. Aber ich hatte Angst – große Angst. Und schon kurze Zeit später fragte ich mich: Warum helfe ich solchen Leuten?
Die Antwort gab mir später ein Freund, der meinte: „Das war einer von vielen! Es gibt etliche Menschen, die sich über deine Hilfe freuen.“ Und er hat Recht. Denn dieses Schubladendenken über solche Menschen kommt gerade in letzter Zeit zu oft vor. Im Kleiderschrank haben wir in einer Schublade die Socken, in der nächsten die Unterwäsche; im Fach darüber Shirts und Hosen. Und so werfen wir auch Menschengruppen in Kästen – ob Flüchtlinge, Obdachlose, Arme oder Reiche. Aber nicht alle Leute sind so; seit fast 2 ½ Jahren habe ich nun gute Erfahrungen in der Obdachlosenhilfe gesammelt und die heutige Situation bleibt hoffentlich eine Ausnahme. Denn als Dankeschön für Hilfsbereitschaft bekommt man in mindestens 90% der Fälle unendlich viel Dankbarkeit zurück! Und somit freuen sich die Bedürftigen hoffentlich auch über die kleinen Ostergeschenke…
Autorin: Annett Preusche