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Nette Geste. Der Bundespräsident im Wedding

19. Juni 2019
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Der Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er im Gespräch mit Men­schen aus dem Sol­di­ner Kiez. Foto And­rei Schnell

19.06.2019 Ein Bun­des­prä­si­dent hat nur sehr wenig zu ent­schei­den. Seit Tun besteht dar­in, bedeu­tungs­voll zu tun, die pas­sen­de Ges­te zu ver­wen­den. Am 15. Juni kam Frank-Wal­ter Stein­mei­er zur Stipp­vi­si­te in den Wed­ding. Hier die per­sön­li­chen, nicht-reprä­sen­ta­ti­ven Beob­ach­tun­gen zur Bedeu­tung eines Staats­be­suchs in einem geschei­ter­tem Staatsteil.

Sein Num­mern­schild lau­tet 0 – 1. Die Null steht für Diplo­mat, die 1 für Num­mer 1. Frank-Wal­ter Stein­mei­er ist der wich­tigs­te Diplo­mat in Deutsch­land sagt das Auto­num­mer­schild sei­ner schwe­ren, schwar­zen Limou­si­ne. Das Vehi­kel parkt in der Goten­bur­ger Stra­ße, einer Sack­gas­se, als habe sich der Chauf­feur ver­fah­ren. Mit Poli­zei und Zivil­schüt­zern betritt der Bun­des­prä­si­dent den Hof der Wil­helm-Hauff-Grund­schu­le, die in einen Kiez liegt, der für Deutsch­land, für Ber­lin und sogar für die unters­te poli­ti­sche Ein­heit, den Bezirk, voll­kom­men unwich­tig ist. Ein Kiez mit dem Num­mern­schild B‑SLD 13765. Und noch ehe er ein Wort ins Mikro­fon gespro­chen hat, sagt Frank-Wal­ter Stein­mei­er allein mit sei­nem Auf­tau­chen zwi­schen Oslo­er Stra­ße und Prin­zen­al­lee: ich neh­me euch wahr. Viel­leicht sogar ernst.

Der Bun­des­prä­si­dent im Blick der Kam­re­as. Foto And­rei Schnell

Sei­ne Rede könn­te die eines Pfar­rers sein: “Wer nicht mit dem ande­ren redet, der kennt den ande­ren nicht.” Könn­te in der Bibel ste­hen.  Sprach­klang ist eine Ges­te. Der Bun­des­prä­si­dent will wie ein Pfar­rer sei­ne Schäf­chen zusam­men­hal­ten. Sein wich­tigs­ter Satz: “Wir müs­sen wie­der ler­nen, mit­ein­an­der ins Gespräch zu kom­men.” Wobei “wir” ein schil­lern­des deut­sches Wort ist. So wie er es sagt, klingt es, als wol­le ein Pfar­rer sagen: Lie­be Gemein­de, wir, das seid ihr. Aber ers­te Kom­men­ta­re auf Face­book nach Ver­öf­fent­li­chung des Reden­mit­schnitts zei­gen: Die Gemein­de ant­wor­tet ihm: Wir, das bist du. Deutsch­land im Jahr 2019 – das ist ein Land, in dem Reden offen­bar tat­säch­lich meint: über den Ande­ren statt mit ihm reden.

Debat­tier­ti­sche am Tag der offe­nen Gesell­schaft. Foto And­rei Schnell

Gera­de die­ser Art des Redens über ande­re (statt mit ihnen) will der Orga­ni­sa­tor des Tags der offe­nen Gesell­schaft etwas ent­ge­gen set­zen. 700 Orte mit Dis­kus­si­ons­ti­schen haben sich bun­des­weit ange­mel­det, um das Reden im ursprüng­li­chen Sin­ne zu üben. Einer die­ser Orte ist der Hof der Wil­helm-Hauff-Grund­schu­le. Zahl­rei­che Tische ste­hen bereit, an zwei­en wird auf den Bun­des­prä­si­den­ten gewar­tet. Am ers­ten Tisch wird über Bil­dung gespro­chen, am zwei­ten über Sozia­les. Frank-Wal­ter Stein­mei­er nimmt sich Zeit. Wie­der eine Ges­te. Ein Influen­cer wäre nach fünf Minu­ten, wenn die Fotos geschos­sen sind, fer­tig mit sei­ner Arbeit. Der Bun­des­prä­si­dent aber will Ein­fluss neh­men. Mit Ges­ten. Des­halb bleibt eine vol­le Stun­de sit­zen. Die Kame­ras sind längst abge­baut, sei­ne Pres­se­re­fe­ren­tin geht her­um und ermahnt die Jour­na­lis­ten, dass die Foto­er­laub­nis nun­mehr ende. Der Prä­si­dent zieht sein Jacket aus, er schwitzt in der sen­gen­den August­son­ne an die­sem Juni­tag. Das Gespräch mit dem Prä­si­den­ten der Ukrai­ne am 18. Juni ist ihm so wich­tig wie das Gespräch mit den Men­schen im Brenn­punkt­vier­tel. Sagt sein Ausharren.

Und der Bun­des­prä­si­dent geht auch auf die zu, die nicht gela­den­de Gäs­te des ers­ten Gesprächs­ti­sches waren. Macht Sel­fies mit ihnen, greift beim Buf­fet zu wie ein nor­ma­ler Mensch, der Hun­ger hat. Ich bin zwar Prä­si­dent, aber nicht abge­ho­ben, sagt er damit.

Der Bun­des­prä­si­dent am Debat­ten­tisch. Foto And­rei Schnell

Am zwei­ten Tisch steht Sozia­les auf der Tages­ord­nung. Der Bun­des­prä­si­dent krem­pelt die Ärmel hoch. Wirkt auf ein­mal hemds­ärm­lig, als ob er anpa­cken könn­te und nicht bloß der Bun­des­prä­si­dent sei.

Ein Ver­tre­ter der Gemein­schafts­gärt­ner Wil­de 17 redet vom Grund­ein­kom­men für Ehren­amt­li­che. Frank-Wal­ter Stein­mei­er, der sich als Kanz­ler­amts­mi­nis­ter zusam­men mit Kanz­ler Ger­hard Schrö­der für Eigen­ver­ant­wor­tung erwärm­te, friert kaum wahr­nehm­bar das Lächeln ein. Geld fürs Nichts­tun? Er stellt Gegen­fra­gen. Dis­ku­tie­ren heißt schließ­lich nicht zuhö­ren. Der Tag der offe­nen Gesell­schaft soll ja Debat­ten anre­gen. Das Dis­ku­tie­ren ist nicht leicht für die Kiez­ver­tre­ter, die am Tisch sit­zen und eigent­lich ihre The­men anbrin­gen wol­len. Eine Agen­da set­zen wol­len. Etwas errei­chen wol­len. Nicht leicht für den Bun­des­prä­si­den­ten, der sei­ne eige­ne frü­he­re Arbeit im Debat­ten­feu­er sieht statt im ver­klä­ren­den Rückblick.

Zum Schluss dann die ganz gro­ße Ges­te: das gemein­sa­me Grup­pen­fo­to. Alle lachen, die Arme ein­an­der über die Schul­tern gelegt, mit direk­tem Blick in die Kame­ra fürs Insta­fo­to. Um es auf den Punkt zu brin­gen, dass sein Besuch war  vor allem eine Ges­te war. Dass die Bedeu­tung dar­in lag, dass der Besuch eine Bedeu­tung haben könn­te. Zum Bei­spiel die, dass der abge­häng­te Sol­di­ner Kiez dem Bun­des­prä­si­den­ten laut Ter­min­ka­len­der sei­ner Web­sei­te genau­so wich­tig ist wie sein Staats­be­such in Island  am 12. Juni. Oder wie sei­ne Rei­se nach Finn­land einen Tag später.

Irgend­wie sind die Leu­te aus dem Sol­di­ner Kiez augen­schein­lich stolz. Denn der ers­te Mann im Staa­te ist in ihren Kiez gekom­men, der in vie­len Ran­kings der letz­te ist. Eine net­te Ges­te ist die­ser Besuch, sagen sie sich an den Tischen – mög­li­cher­wei­se – nach­dem der Bun­des­prä­si­dent gegan­gen ist. Neben­säch­lich, dass nichts ent­schie­den wur­de, nichts für den Kiez bewirkt wur­de, nichts vor­an­ge­kom­men ist für einen Stadt­teil, der im All­tag kei­nem Men­schen ein Besuch wert wäre.

Autorenfoto Andrei SchnellAnd­rei Schnell beob­ach­tet, was ohne Wor­te gesagt wird, wenn ein Bun­des­prä­si­dent Sta­ti­on macht.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

1 Comment

  1. Dan­ke für den fein­füh­li­gen Bericht, And­rei. Ich den­ke, dass eine Ges­te ein Anfang ist. Viel­leicht der Beginn einer (fast) wun­der­vol­len Freund­schaft, wie es Hum­phrey Bogart im Film Casa­blan­ca zum Poli­zis­ten auf dem Roll­feld sagt, als sei­ne Gelieb­te Ilsa weg­fliegt. Poli­ti­sche Bezie­hun­gen schei­nen mir oft so menschlich.…..

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