Der Wedding. Endliche Weiten. Dies sind die Abenteuer der Bewohner des Wohnhauses in der Müllerstraße 42, die schon oft zuvor da gewesene Gentrifizierung bekämpfen und dahin gehen, wo schon viele Weddinger zuvor gewesen sind.
Eine Weddingweiser-Original Fortsetzungsgeschichte. Geschrieben von Nethaïs Sandt und Ruben Faust.
Berlin! Großstadterlebnis pur. Menschen, Autos, Geschäfte, die bis weit nach acht Uhr geöffnet sind, Clubs und Partys, die erst um Mitternacht richtig anfangen – und nicht, wie gewohnt, dann aufhören: Für Lisbeth ist es das alles auf jeden Fall wert, nicht verbeamtet zu werden.
Vor zwei Monaten
Lisbeth schaut aus dem Fenster des ICEs. Als kleines Kind ist sie schon einmal in Berlin gewesen, und natürlich auch vor ein paar Wochen, als sie die Wohnung besichtigt hat. Aber zum ersten Mal würde sie jetzt auf Dauer bleiben. “Sehr geehrte Fahrgäste. Wir erreichen in Kürze den Bahnhof: Berlin Hauptbahnhof. Wir bedanken uns bei allen Fahrgästen ‚die hier aussteigen, für ihre Fahrt mit der Deutschen Bahn und wünschen noch einen angenehmen Tag.” Synchron mit dem Ende der Ansage stehen die meisten im Zug auf, um ihre Koffer vom Gepäckfach zu heben. Lisbeth hingegen bleibt sitzen. Ihr Vermieter hatte ihr einen Geheimtipp gegeben, und sie wird noch bis Gesundbrunnen fahren, von da aus käme sie viel besser zu ihrem neuen Zuhause. Im Gegensatz zu den meisten hat sie jedoch auch kein Gepäck dabei. Die Möbel würden bereits da sein, weil ihr Vater für sie schon mal hingefahren ist, während sie sich von ihrer Heimat verabschiedet hat, und alles bereit gemacht hat. Damals hat sie sich sehr darüber gefreut. Im Zug rempelt jemand sie versehentlich an, und reißt sie aus ihren Gedanken. Der Zug ist gerade am Hauptbahnhof angekommen.
Nach einiger Zeit, die sie damit verbracht hat, dorthin zu kommen, erreicht sie endlich das Haus. ‘42’ steht auf dem Hausnummernschild, im Fenster links von der Haustür schaut eine alte Frau dabei zu, wie sie die Tür nicht aufbekommt. “De Neue aus’m Dritten, wa?”, sagt diese nach mehreren Minuten des Nicht-Reinkommens. Lisbeth nickt. “So doll de kannst zieh’n, dann den Schlüssel dreh’n. So müsst’s geh’n. Aber was weeß ick schon. Bin ja nur ne alte Schrulle aus’m Erdgeschoss.” Lisbeth folgt den Anweisungen, nicht davon überzeugt, dass es so funktionieren würde. Überraschenderweise geht die Tür dann doch auf. “Danke schön”, bringt sie kurz hervor und geht dann ins Haus.
Vor einem Monat
Das imposante Gebäude von einem Gymnasium nahe ihrer Wohnung thront vor ihr in der kleinen Nebenstraße. Ihr Herz klopft ein wenig vor Aufregung und sie schaut auf die Uhr – neun Uhr Dreißig – Also viel zu früh. Sie ist sich nicht sicher, ob das als Enthusiasmus gewertet werden kann oder als Übereifer, und ob das wirklich schlecht wäre. Sie geht in das Schulgebäude. Im Moment ist gerade Unterricht und sie geht durch die leeren Gänge. In einer Ecke sieht sie ein paar Schüler stehen, die rauchen. Die sehen sie kurz abwertend an, und beschäftigen sich dann weiter mit sich selbst.
“Faterl. F – A – T – E – R – L”, buchstabiert sie der Sekretärin, die in ihrem völlig überladenen Kalender versucht, den Termin mit dem Schulleiter zu finden. “Ah. Da isses. Sie sind aber ganz schön früh da”, sagt diese dann. “Ja. Ich bitte um Entschuldigung.” – “Ach, nicht so schlimm. Ich denke, im Moment ist auch nichts los. Warten Sie hier, ich gehe zu ihm.” Die kleine Frau steht auf und rennt durch die Tür hinter dem Tresen, vor dem Lisbeth gerade steht. Eine Minute später kommt sie wieder, hinter ihr steht ein großer Mann im Anzug. “Ah, Frau Faterl. Kommen Sie doch mit.” Sie folgt ihm in sein großes Büro. Das Büro leuchtet vor warmen Farben, mit einigen abstrakten Gemälden an der Wand. Staunend schaut sie sich um. “Ich bin immer noch Kunstlehrer und hänge hier einige Bilder von meinen Schülern auf, wenn diese sie nicht wollen”, erklärt er kurz. “Setzen Sie sich doch bitte.” Während er das sagt, greift sie sich einen der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch, “Also. Ich habe in Ihren … Ich habe mich ja noch gar nicht direkt vorgestellt. Ich weiß – Sie kennen mich schon aus den E‑Mails, aber wenn man sich persönlich sieht, dann ist das noch was ganz anderes. Rentzheimer. Hans Rentzheimer. Wie gesagt, habe ich in Ihren Unterlagen gesehen, dass sie in Bayern aufgewachsen sind, Jahrgangsbeste an ihrer Schule waren und in Bayreuth mit dem bestmöglichen Ergebnis ihr Studium beendet haben. Darf ich fragen, warum es sie dann nach Berlin – und eigentlich viel schlimmer noch in den Wedding – verschlägt?” Über diese Frage hat sie sich in den letzten Monaten kaum Gedanken gemacht. Sie hat nicht erwartet, eine Antwort geben zu müssen. “Ich habe als Schülerin…”, sie ist nicht gut im Improvisieren und stottert vor sich hin, “Also, ich meine damit…” Sie seufzt einmal tief. Ehrlichkeit ist der richtige Weg. “Mein ganzes Leben lang wollte ich nach Berlin kommen und dann dachte ich, dass mir im Wedding bestimmt nicht langweilig wird”, sagte sie dann. Das ist zwar gelogen – eigentlich gehr es ums Nachtleben und dass sie hier vielleicht endlich sie selbst sein könnte und nicht in Sichtweite ihren Eltern wohnt. Aber das kann man so ja nicht einfach in einem Vorstellungsgespräch sagen. Lügen ist das, was hier erwartet wird.
“Gut, dann sehe ich Sie Montag im Lehrerzimmer. Sie werden vorerst mit Frau Schubert Mathematik unterrichten und sich eine Zeit lang ansehen, wie das denn läuft und dann zum neuen Halbjahr im Februar Frau Schuberts Kurse übernehmen – diese geht nämlich in Rente.”, sagt er abschließend und wünscht ihr noch einen schönen Tag.
Heute
Sie kommt im großen Lehrerzimmer an und begrüßt einige ihrer Kollegen, wie es inzwischen Routine geworden ist. “Na? Schöne Ferien gehabt, Lisbeth?”, fragt Bernd. Bernd ist ein anderer Mathematik- und Physiklehrer, mit dem sich Lisbeth im letzten Monat besonders gut verstanden hat – auch wenn dieser schon einige Jahre länger an dieser Schule ist. Sie sieht ihn ein wenig wie einen Mentor, viel mehr als Frau Schubert, die diese Rolle zugeschrieben bekommen hatte. Heute wäre ihre erste Stunde, in der sie alleine unterrichtet. “Zu lang”, antwortet sie. Das halbe Kollegium, das ihre Antwort gerade gehört hat, wird erst still und lacht dann, als hätte sie einen wirklich guten Witz erzählt. “Ganz ehrlich, wenn ich nicht verbeamtet wäre, würde ich nie wieder hierherkommen.”, ruft einer von weiter hinten. Ihren Ehrgeiz verstehen die wenigsten. Sie lacht kurz mit, um zu zeigen, dass es ein Witz war, obwohl sie diese Aussage doch sehr ernst gemeint hat. “Nun gut. Hier hast du jetzt auf jeden Fall deinen eigenen Schreibtisch”, sagt Bernd und zeigt auf einen Tisch, auf dem immer noch eine goldene Plakette mit der Aufschrift: “Sabine Schubert” – überklebt mit “L. Faterl” – zu erkennen ist. Sie legt ihre Sachen darauf ab. Herr Rentzheimer kommt in das Lehrerzimmer und fängt an, seinen Wochenplan laut vorzustellen. Das macht er jede Woche. Eine kleine Rede halten, in der er den Lehrern sagt, ob irgendwas diese Woche stattfindet. Doch meist ist es nur ein aufmunterndes Wort wie “Ihr macht gute Arbeit” und Lisbeth ist sich nicht sicher, ob er damit sich oder alle anderen anlügt. Die Schüler drehen nach und nach immer mehr am Rad. Es klingelt zum Glück relativ schnell zum Unterrichtsbeginn und die Lehrer strömen zu den Klassenzimmern.
“Guten Morgen, 9 A”, begrüßt sie ihren Mathekurs, den sie sich vorher mit Frau Schubert geteilt hat. Die Klasse, die noch halb schläft, gibt nur ein müdes “Hallo” zurück. “Okay. Also, jetzt, wo Frau Schubert dauerhaft in Rente gegangen ist, werde ich euch ab heute alleine unterrichten. Und wir fangen heute mit einem neuen Thema an.” Sie schreibt das Thema “Daten und Zufall” an die Tafel und eine Buchseite. “Wir wollen aber nicht mit einem neuen Thema anfangen”, ruft einer von ganz hinten. Sie dreht sich zu den Schülern zurück. “Wie bitte?” fragt sie, obwohl sie genau verstanden hat, was gesagt wurde. “Wir. wollen. nicht”, ruft dieser Schüler nochmal. Leon. Einmal ist sie ihm auf der Straße begegnet. Daher weiß sie, dass er einiges mit Hakim und Ahmed zu tun hat, die im gleichen Haus wie sie wohnen. “Damit wirst du dich jetzt aber abfinden müssen. Seite 84.” – “Was wenn nicht?” provoziert er, “Ich verweigere einfach, dass ich hier mitmache. Und Sie können nichts dagegen tun.” Sie kann dabei zusehen, dass einige andere Schüler anfangen ihm zuzustimmen und ein diabolisches Lächeln unterdrücken müssen. “Dann halte wenigstens nicht die anderen davon ab”, versucht sie Leon ruhig zu kriegen. “Wenn er nicht mitmachen muss, mache ich auch nicht mit!”, sagt ein anderer Schüler. “Ich auch nicht”, rufen immer mehr. Leon lehnt sich zufrieden zurück. Unter Frau Schubert haben sich alle Schüler immer benommen. Sie hatte sich schon gefragt, wo der Haken an einer so braven Klasse war: Sie waren nur bei Frau Schubert so. Sie ist sich nicht sicher, wie sie jetzt mit dem Unterricht fortfahren soll. Auf sowas werden angehende Lehrer in der Uni ja nicht perfekt vorbereitet. Vor allem nicht in Bayern. “Auch Leon wird mitarbeiten. Alle arbeiten jetzt mit! Seite 84. Aufschlagen.” Nur ein paar wenige Schüler tun ihr nach, die restlichen schauen erst zu ihr, dann zu Leon. Der Anführer ihrer kleinen Revolution. Dieser lehnt sich genüsslich nach hinten und macht nichts.
Als sie endlich nach Hause kommt, will sie sich sofort ins Bett legen. “Das kann ich nicht jeden Tag durchmachen”, denkt sie dann.Da hört sie Stimmen aus dem Hausflur kommen. “Wallah, diese neue Lehrerin ist richtig die Bitch. Und die kann gar nichts. Dumm wie Brot. Alter, du glaubst das nicht. Ich mach die so fertig.” Sie erkennt Leons Stimme und beschließt kurzerhand, ihren Müll runterzubringen. “Mit ihrem bescheuerten Namen soll die Olle mal wieder nach…”, er stoppt, als er seine neue Lehrerin die Treppe entgegenkommen sieht. “Was machst du denn hier?”, fragt sie ihn und lächelt ihn überfreundlich an.
Fortsetzung folgt!
Alle Figuren und Namen sind rein fiktional und jede Übereinstimmung mit der Realität ist nur zufällig.
Müller42 ist eine Weddingweiser-Textreihe von Ruben Faust und Nethais Sandt. Sie wird immer dienstags und freitags weitergeführt.
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