Vor 120 Jahren war der Leopoldplatz ein begrünter Schmuckplatz, denn rund um die Alte Nazarethkirche gab es geschwungene Wege und Orte zum Verweilen. Entlang der Müllerstraße entstanden imposante Wohn- und Geschäftshäuser. Auf den Bürgersteigen und Straßen herrschte geschäftiges Treiben. In zweiter Reihe zum Leopoldplatz legte Max Levy mit innovativer Technik und Erfindergeist den Grundstein für sein Imperium. Wir gehen auf Spurensuche.
1. Block mit Sondermaßen im Hobrecht-Plan von 1862
Die Adresse Müllerstraße 30 liegt nur zwei Hausnummern nördlich vom heutigen Leopoldplatz und gehört somit zum Block Nazarethkirchstraße, Turiner Straße, Utrechter Straße. Im neuen Generalplan von James Hobrecht für Berlin von 1862, wo teilweise noch Gebäude mitten auf zukünftigen Straßen eingezeichnet sind, wurde das Areal rund um die 1835 eingeweihte Alte Nazarethkirche (Vorstadtkirche) von Karl Friedrich Schinkel als zu bebauende Fläche markiert. Erst östlich sollte ein unbebauter Platz entstehen. Somit legte Hobrecht für dieses Areal eine außergewöhnliche Blocktiefe fest, die vermutlich auch auf den um 1860 angelegten Garnison-Begräbnisplatz zwischen Turiner Straße und Müllerstraße beruht.
2.
Transformation zum großstädtischen Treiben
Um 1860 standen hauptsächlich entlang der Müllerstraße einige wenige Häuser, während die Turiner Straße und Nazarethkirchstraße vollkommen unbebaut waren. Um 1910 hatte sich das Bild gewandelt, denn der Block war an der Utrechter Straße, Müllerstraße und Turiner Straße vollständig mit Vorder- und Hinterhäusern bebaut. Eine Sondergestaltung hat die Müllerstraße 30, denn das straßenseitige Gebäude besitzt zur Müllerstraße die breiteste Fassade, während sich das Grundstück fast bis zur Turiner Straße erstreckt und unmittelbar an das Friedhofsgelände grenzt. Und auf dem Hofgelände sollte die „Fabrik elektrischer Apparate Dr. Max Levy“ entstehen. Wer war Max Levy?
3. Max Levy und der Wedding
Max Levy (*1869, +1932) stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, hat ab 1888 in Heidelberg Physik und Mathematik, in Darmstadt und München Elektrotechnik studiert und promovierte 1892 in Gießen. Die nächsten Jahre waren vor allem für seine berufliche Laufbahn von Bedeutung, denn 1893 ging er zur AEG nach Berlin, wo Levy mit der Planung von Großanlagen betraut wurde. Bereits drei Jahre später nahm er bei AEG die Position des Leiters der neugegründeten Röntgenabteilung ein.
Ein Jahr zuvor, 1895, hatte Wilhelm Conrad Röntgen eher zufällig die „X‑Strahlen“ entdeckt. Schnell wurde der Einsatz der später nach ihm benannten Röntgenstrahlen für vielfältige Bereich deutlich. Die AEG wollte sich die Rechte an der Entdeckung von Röntgen sicher, der dieses Angebot jedoch ablehnte. Seinerzeit verhandelte Max Levy für die AEG mit Röntgen. Kurze Zeit später, im Jahr 1897, gründete Levy das deutschlandweit erste Spezialunternehmen für Röntgengeräte: Erster Firmensitz war in der Chausseestraße 2A und ab 1904⁄05 in Müllerstraße 30. Der Wedding war damals sowohl für Großkonzerne wie die AEG als auch mittelständische Unternehmen wie die Hutfabrik Gattel und die Tresorfabrik Arnheim ein attraktiver Standort.
4.
Vom Röntgen-Geräte-Hersteller zum Alleskönner
Die Durchleuchtung des menschlichen Körpers mittels Röntgenstrahlen war ein enormer Fortschritt für die Wissenschaft und zur Erkennung von Krankheiten. Somit lag der Fokus des Unternehmens in den ersten Jahren auf der Entwicklung stationärer und mobiler Röntgengeräte. Die neuen Röntgengeräte seiner Firma stellte Levy u.a. in dem Fachmagazin „Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik“ mitsamt technischer Zeichnungen und Produktabbildungen vor.
Levy sah auch das Potenzial in anderen technischen Geräten, weshalb die Produktpalette sehr schnell erweitert wurde. Bereits um 1900 wurden ‘Widerstände’, ‘Röntgen-Apparate’ und ‘Elektronische Fächer- und Kleingeräte’ angeboten. Im Jahr 1909 erschien Levy in „Blom’s Engros‑, Export- und Handels-Adressbuch“ unter: Elektrische Apparate, Elektrische Maschinen, Motoren, Röntgenapparate, Ventilatoren und Widerstände. Kurzum, alles was einen Motor brauchte, wurde bei Levy in der Müllerstraße 30 hergestellt. Der Vertrieb erfolgte über den eigenen Versand und stationäre Händler. In Wien warb 1909 die Dr. Paul Holitscher & Co mit Geräten von Max Levy. Auch in Prag waren Levys Produkte bei Julius Boschan in der Niklassstraße erhältlich. Aus dem Spezialunternehmen machte Levy in kurzer Zeit eine eigenständige Marke, die europaweit ihre Produkte und Erfindungen mit wiedererkennbarem Logo vermarktete. Heute sind die Ventilatoren im Industrie-Look beliebte Sammlerstücke. Sie wurden in großen Stückzahlen hergestellt und vertrieben.
5.
Die versteckte Fabrik
Das Betriebsgelände der “Max Levy GmbH” war fast nicht direkt einsehbar, denn nur an der Nazarethkirchstraße gab es ein unbebautes Grundstück neben der Hausnummer 50, was sich auch bis 1928 nicht ändern sollte. In den ersten Jahren gab es zwei größere Gebäude und ein kleines Haus für Forschung, Produktentwicklung, Fertigung und Versand.
Später wurde eines der beiden größeren Gebäude abgerissen. An seiner Stelle entstand ein mehrgeschossiges Gebäude über einem H‑förmigen Grundriss. Die breite Produktpalette erforderte mehr Platz. Am Ende der 1920er Jahr sollen hier circa 800 Menschen beschäftigt gewesen sein. Seinerzeit gehörten zum Unternehmen auch drei Tochtergesellschaften mit 34 in- und 27 ausländischen Vertretungen. Nach vielen Jahren mit immer neuen Ideen, zahlreichen Patenten sowie Zertifikaten war ein kleines Imperium entstanden, dass vom Wedding aus seinen Siegeszug gestartet hatte.
Brückenallee 33: Adresse von Max Levy
6.
Jüdische Verflechtungen
Vielleicht war es Zufall, aber Max Levy wohnte mit seiner Ehefrau Josephine Levy-Rathenau nach der Hochzeit im Jahr 1900 in der Brücken Allee 33. Das Wohnhaus im vornehmen Hansaviertel war 1891–1892 nach den Plänen des Architekten der Hutfabrik Gattel, dem jüdischen Baumeister Georg Lewy, errichtet worden. Durchaus beeindruckend waren die Wohnungen, denn zum repräsentativen Wohnbereich gehörten 5 Zimmer, dann kamen 4 Schlafzimmer und anschließend Küche, Kammern und Mädchenzimmer sowie Badezimmer zum Lichthof. Zu den technischen Besonderheiten zählten 1892 die Zentralheizung und elektrische Beleuchtung. Ebenfalls womöglich (k)ein Zufall war, dass Ella Gattel (*28.12.1883, Freitod +21.12.1942), eine der Töchter des jüdischen Hutimperiums Gattel, in den Nazarethkirchstraße 49 wohnte – unmittelbar neben der Fabrik vom Max Levy. Heute erinnert ein Stolperstein an die Chemielaborantin, die sich vor der Deportation das Leben nahm. Und im Vorderhaus Müllerstraße 30 gab es um 1930 das jüdische Geschäft der Gebrüder Bendel für “Beleuchtungskörper und Elektronische Anlagen”.
Karte von 1940 mit Fabrik und Umgebung
7.
Auf dem Höhepunkt
Zum 25-jährigen Firmenjubiläum gab Max Levy ein kleines Buch zur Firmengeschichte heraus. Kurz zuvor, am 15. November 1921, starb seine erste Frau. Vier Jahre später heiratet Max Levy seine zweite Frau Clara (Claire) Hagelberg (*1894, +1988). Mit ihr bekam er zwei Kinder: Günter Ernst (*1926, +2019) und Ellen Lore. Sie gingen 1931 nach Italien, wo Max Levy am 4. April 1932 in Meran verstarb. Anschließend zog seine Frau mit den Kindern in die Schweiz und kam nach Deutschland zurück, um nach Belgien zu emigrieren.
Literatur/Quellen:
Bundesarchiv, Gedenkbuch, Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland, 1933–1934.
Glaser, Otto: Röntgenindustrie und Patentfragen, 1995.
Jaeger Hans: Max Levy, Neue Deutsche Biographie, 1985.
Levy, Max: Div. Aufsätze im Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik, 1897–1901.
Nürnberger, Jürgen und Maier, Dieter G.: Josephine Levy-Rathenau (1877−1921), Ein Leben für die Berufsberatung, HdBA-Bericht, Nr. 05, S. 73–95.
Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Ausgabe 14.1938, IX. Handel und Gewerbe, 109. Tätige Gesellschaften mbH mit Sitz in Berlin und einem Stammkapital von mindestens 1 Million Reichsmarkt zu Ende 1936, S. 79f.
Hallo Jürgen,
ich bin eine Enkelin von Dr.Max Levy und möchte ergänzen, dass meine Großmutter Clara zusammen mit ihren beide Kinder Günter ( mein Vater) und Ellen Lore kurz vor Kriegsbeginn Berlin verließ, um über Belgien und England nach Brasilien zu emigrieren. Erst Mitte der 1960er Jahre kehrten meine Großmutter, mein Vater( mit Frau und 2 Kinder) nach Europa ‑bzw. nach Belgien- zurück. Ellen Lore Levy lebt noch in Brasilien.
Vielen Dank für die tolle Arbeit rund um Wedding!
Gruß aus Schleswig-Holstein
Stella Levy
Hallo Stella, vielen Dank für Deinen Kommentar und die Ergänzungen. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, dass man mit Ellen Levy in Kotakt kommt. Viele Grüße, Carsten
Ja – und was is nun mit der Fortsetzung? Gruß aus der Müllerstraße 30
Hallo Jürgen, vielen Dank für Deine interessierte Nachfrage. Derzeit entsteht das Buch über das jüdische Leben im Wedding, 1871–1929 mit vielen neuen Informationen – auch zu diesem Haus. Danach könnte die Fortsetzung des Artikels in Angriff genommen werden. Viele Grüße, Carsten
Ja, es war mal ein schöner begrünter Platz!
Ich kenne ihn, bin 1951 in der Groni geboren und meine geliebte Tante habe ich ständig dort besucht.
Heute lädt er nicht mehr zu verweilen ein, er entwickelt sich zum Slum.
Schade drum!