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Litfaßsäulen: Aussterbende Gattung

16. April 2019
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Ber­li­ner Stra­ßen sind irgend­wie anders. Typisch sind die gepflas­ter­ten, brei­ten Geh­we­ge, auf denen im Wed­ding auch vie­le Ein­kaufs­wa­gen her­um­ste­hen, die wei­ßen Stra­ßen­schil­der mit einer welt­weit ein­ma­li­gen Schrift­art, die Gas­la­ter­nen und unend­lich vie­le Lit­faß­säu­len. Sie prä­gen das Stadt­bild wie nir­gend­wo sonst in Deutsch­land – es gab zuletzt noch 2.500 von ihnen.

Schö­ning­stra­ße

Nach einer ver­lo­re­nen Aus­schrei­bung baut nun der alte Betrei­ber Wall die 60 bis 70 Jah­re alten und unge­wöhn­lich schma­len Säu­len aus Beton und Eter­nit ab und ent­sorgt sie, weil sie teil­wei­se Asbest ent­hal­ten, als Son­der­müll. Nur noch 1.500 neue und der brei­te­ren Norm ent­spre­chen­de Lit­faß-Säu­len sind vom zukünf­ti­gen Betrei­ber bean­tragt. Somit ver­schwin­det ein Stück Ber­li­ner Geschich­te, das mit dem Dru­cker Ernst Lit­faß 1854 hier sei­nen Anfang nahm und bis heu­te, in all ihren Vari­an­ten, zum gewohn­ten Stra­ßen­bild dazu­ge­hört. Von den his­to­ri­schen Säu­len dür­fen min­des­tens 12 in ganz Ber­lin stehenbleiben.

Exer­zier­stra­ße

Obwohl heu­te die Häu­ser­wän­de mit Graf­fi­ti über­zo­gen und die Later­nen­mas­te mit Bot­schaf­ten und Abreiß­zet­teln beklebt sind, kann man sich kaum vor­stel­len, wel­che revo­lu­tio­nä­re Neue­rung die­se Säu­len damals gewe­sen sein müs­sen. Die unzäh­li­gen Flug­blät­ter, Zeich­nun­gen und poli­ti­schen Bot­schaf­ten hin­gen zuvor über­all, wo sie sich befes­ti­gen lie­ßen. Anfangs dien­ten die Zylin­der nur der Wer­bung für Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen, spä­ter kamen auch Kriegs­be­rich­te dazu. Und nach den Welt­krie­gen wur­de die Bevöl­ke­rung von den Besat­zungs­mäch­ten infor­miert. Auch Ver­miss­ten­an­zei­gen oder Wahl­auf­ru­fe wur­den auf die Säu­len geklebt. Das alles war in einer Zeit ohne elek­tro­ni­sche Medi­en oder das Inter­net von enor­mer Bedeu­tung. Eine Ahnung davon bekommt man heu­te noch in Zei­ten des Wahl­kampfs, wenn die Par­tei­en jeden frei­en Win­kel mit ihren Pla­ka­ten überziehen.

Wollank­stra­ße

Nun haben die alten Lit­faß­säu­len noch eine Gal­gen­frist bis zur Jah­res­mit­te. Sie sind ein­far­big beklebt und fügen sich damit ganz beson­ders unauf­fäl­lig ins Stra­ßen­bild ein, solan­ge sie auf ihren Abbau war­ten. Das ist wider­sin­nig, denn eigent­lich ist der Zweck der Wer­bung ja eben genau das: auf­zu­fal­len. Eini­ge von ihnen wer­den nun mit Bot­schaf­ten ver­se­hen – “mehr Respekt, weni­ger Wer­bung”, zum Bei­spiel. Dabei könn­ten sie doch auch dazu die­nen, inter­es­san­te Infos aus dem Kiez zu verbreiten.

Und wie sehen die neu­en Säu­len aus? Wir haben die ers­te “Neue” ent­deckt, in der Trift­stra­ße. Modern, kühl, schwarz. So sieht die Zukunft der Lit­faß­säu­len also aus. 

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

1 Comment Leave a Reply

  1. Ich woh­ne Hoch­par­terre und hat­te 45 Jah­re lang eine Sicht auf die Kreu­zung Holz­hau­ser Stra­ße Jacob­sen­weg. Seit dem 6.3. hat man uns eine Lit­faß­säu­le noch nicht mal 4 Meter ent­fernt vor die Fens­ter gesetzt, was sowohl uns als auch die Geschäf­te eben­erdig und die Mie­ter im geschütz­ten Alt­bau in höhe­ren Eta­gen ent­setzt hat, denn der Aus­blick auf ein dre­cki­ges schwar­zes Dach ist nicht gera­de ange­nehm. Es ist soviel Platz auf gro­ßen Ecken in Ber­lin für die­se Säu­len wenn es unbe­dingt sein muss, obwohl nicht klar ist wie­viel Asbest in die­sen Unge­heu­ern noch ent­hal­ten ist. Ich habe weder in Tegel, Herms­dorf, Froh­nau, Wit­ten­au, Lübars usw. Lit­faß­säu­len ent­deckt die in der­ar­ti­ger Nähe von Fens­tern der Miet­woh­nun­gen auf­ge­stellt wur­den und habe seit dem 7.3. stär­ker wer­den­de Kopf­schmer­zen. Es ist ein­fach ein Witz dass man mir in der heu­ti­gen Woh­nungs­not­la­ge lapi­dar rät umzu­zie­hen. Mein Mann hat schwe­re COPD und Krebs.

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