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Licht, aber kein Hoffnungsschimmer, über dem Wedding

17. November 2019
Licht über dem Wedding
Cover des Buches “Licht über dem Wed­ding” von Nico­la Karls­son. Piper Veralg

17.11.2019: “Sie hass­te den Wed­ding, denkt Han­nah.” Das ist doch mal eine emo­tio­nal ein­deu­ti­ge Gefühls­la­ge zu einen Stadt­teil, dem nicht nur der Wed­ding­wei­ser die schöns­ten Sei­ten abge­win­nen möch­te. Um das Schö­ne des Wed­dings geht es im Roman von Nico­la Karls­son nicht. Hier geht ums häss­li­che Schei­tern. Eines, das nicht tren­dig in ein prah­le­ri­sches “Schö­ner Schei­tern” gedreht wird.  Hier die Buch­re­zen­si­on, zu einer Geschich­te, in der nichts schön getüncht wird.

Kehrt der “ent­lar­ven­de” sozi­al­kri­ti­sche Roman zurück? Die 1974 in West-Ber­lin gebo­re­ne Nico­la Karls­son schreibt kei­nen unter­hal­ten­den Roman für den Abspan­nung suchen­den Leser. Es geht ihr auch nicht dar­um, den Leser mit einer unglaub­li­chen Geschich­te zu packen wie es die Dreh­buch­au­to­ren einer Net­flix-Serie machen. Die Autorin will mit ihrem Roman etwas mit­tei­len. Sie hat es zu sagen. Geht The­men an, über die zuletzt nur wenig zu lesen war. Es schreibt von Alko­hol, von Ver­lie­rern, von denen ganz unten (die sonst nur Gün­ter Wall­raff ins Blick­feld zieht).

Nicila Karlsson
Autorin Nico­la Karls­son. Foto Ver­lag Piper

In “Licht über dem Wed­ding” erzählt sie das Leben von zwei Frau­en, zwei jun­gen Frau­en, die bei­de im Wed­ding woh­nen, ver­mut­lich im Brun­nen­vier­tel. Sie woh­nen in einem Hoch­haus. Gemeint ist damit: Sozi­al­bau. Und wer an Sidos “Mein Block” denkt (wobei das dort besun­ge­ne Hoch­haus bekann­ter­ma­ßen im Mär­ki­schen Vier­tel steht), dürf­te die rich­ti­ge Asso­zia­ti­on haben. Wobei Han­nah, die mit durch­ge­drück­tem Rücken durchs Leben geht, ihr Leben im Hoch­haus als ein Leben im Appart­ment-Wol­ken­krat­zer am Cen­tral Park in New York insze­niert. Sie ver­dient Geld mit Fotos, die sie zei­gen. Als Schön­heit. Gestell­te Bil­der sag­te man frü­her. Heu­te sind sol­che Fotos auf Insta­gram und Co etwas wert. Ihr Gegen­part ist Agnes. Sie ver­stellt sich nicht. Die lang­sam anschwel­len­de Gen­tri­fi­zie­rung des Wed­dings durch Leu­te wie Han­nah kom­men­tiert sie so: “In ihr Haus hat­ten sie sich noch nicht ver­lau­fen. Nicht vie­le jeden­falls. Rico sag­te, da kämen bald mehr.” Sie hat mit Insta­gram nichts am Hut. Ihr Den­ken dreht sich um die Fra­ge, wie man sich durch­setzt. “Sonst war man das Opfer”.

Lesens­wert ist defi­ni­tiv das vier­te Kapi­tel, das beschreibt, wie Han­nah mit einem mit Pail­let­ten besetz­tem Abend­kleid in eine der letz­ten übrig­ge­blie­be­nen Suff­knei­pen im Wed­ding geht. Ihr Ziel: ein kras­ses Foto machen. Diva besucht “Zum Dicken” könn­te das Kapi­tel hei­ßen, das schlicht mit der Zahl 4 über­schrie­ben ist. Ein Kapi­tel, dass beweist, das Nico­la Karls­son zu den Kön­nern gehört.

Ein Roman übers Milieu

Unge­schminkt ist der Roman. Das macht den Kon­trast aus, dass Han­nah sich schminkt, sich insze­niert, einen schö­nen Schein zeigt. Aber was ver­birgt sich hin­ter die­ser ange­mal­ten Fas­sa­de? Nicht bloß bei Han­nah. Was hin­ter dem Anschein ist, das ist in dem Roman das Bru­ta­le. Ans Licht kommt, wie Alko­hol Men­schen zer­stört. Das beschreibt Nico­la Karls­son rück­sichts­los – eben unge­schminkt. Es geht um psy­chi­sche Pro­ble­me. Es geht um Fami­lie als Folterkammer.

Bei­na­he scha­de, dass man all dies bei­na­he genau­so in sozi­al­kri­ti­schen Roma­nen bereits gele­sen hat. Wenn auch vor einer Gene­ra­ti­on. Zum Bei­spiel 1982 in Frank Baers “Kein Grund zur Panik. Roman einer Jugend im Wed­ding”. Das ist ein Pro­blem, wenn nicht bloß unter­hal­ten wer­den soll: Wie fin­den Autoren einen neu­en Dreh für eine schon oft beschrie­be­ne Sache? Und die sich ja auch nicht ändert, bloß weil 30 Jah­re Tral­la­la-Roma­ne vor­über­ge­zo­gen sind. Wenn man nicht bloß Pop will. Aber viel­leicht ist es auch gut so. Immer­hin hat lan­ge nie­mand mehr ver­sucht, einen Roman übers Milieu zu schreiben.

Eben­falls scho­nungs­los ist Nico­la Karls­sons ers­ter Roman “Tes­sa” von 2013. Auch hier gern zugrei­fen und lesen.

Hier geht es zur Buch­be­schrei­bung im Ver­lag Piper, 20 Euro, erschie­nen am 1. März 2019, 320 Sei­ten, Hard­co­ver mit Schutz­um­schlag, EAN 978−3−492−05941−1.

Autorenfoto Andrei SchnellAnd­rei Schnell bemerkt in “Licht über dem Wed­ding” eine Rück­kehr der Sozi­al­ro­ma­ne aus den 1980er Jahren.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

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