Vor vier Jahren führten wir ein Interview mit dem damals neu gewählten Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel. Nun endet diese (erste) Amtszeit bald (er wahlkämpft dafür, den Bezirk eine zweite Runde zu regieren). Der 19. Juni ist 100. Tag vor dem Wahlabend. In der 100-Tagesfrist sehen wir die letzte Gelegenheit, um Bilanz zu ziehen, zurückzuschauen, Erfolge und Misserfolge zu wiegen. Wir bitten den Grünen-Politiker auf das Geschaffte und auf das Liegengebliebene der letzten fünf Jahre zu blicken. Hier das Interview:
Behaupten wir einfach mal, heute ist die letzte Möglichkeit, um Bilanz zu ziehen, bevor der Wahlkampf heißläuft. Welche Ihrer Entscheidungen als Bezirksbürgermeister verbuchen Sie auf der Habenseite und welche auf der Sollseite?
Stephan von Dassel: 85 Prozent der Spielhallen wurden geschlossen, die Zahl der kostenpflichtigen Parkplätze verdoppelt, mehr Transparenz bei Lebensmittelkontrollen geschaffen, die Verwaltung nach den Sparorgien wieder nachhaltig gestärkt und mehr als 1.000 neue Kolleginnen und Kollegen eingestellt. Die sind in der Regel viel jünger, diverser und gehen auch mit einem anderen Anspruch an (digitalen) Service der Verwaltung an die Arbeit.
Fairtrade und kommunale Entwicklungspolitik wurden im Bezirksamt verankert, das Büro des Bezirksbürgermeisters, in dem einst Nationalsozialisten saßen, im Rathaus Tiergarten zum Museum umgewandelt, die Fassade des Rathauses am Mathilde-Jacob-Platz zur Open-Air-Gallery gestaltet, neue Praktikumsplätze für bildungsbenachteiligte Jugendliche geschaffen sowie mehr als 50 Langzeitarbeitslose eingestellt.
Leider hat die Pandemie insbesondere im Bereich der Bürgerämter und des Standesamtes weniger statt mehr Service verursacht. Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass wir an noch mehr Stellen die Infrastruktur für Radfahrende sicherer und attraktiver gemacht hätten.
Ziemlich ratlos bin ich bezüglich des Mülls auf Straßen und in Parks. Unsere Sperrmüllaktionstage, Mehrwegprojekte, Öffentlichkeitskampagnen, unsere neuen Abfalleimer und nicht zuletzt die stärkeren Kontrollen durchs Ordnungsamt halten viele Menschen anscheinend nicht davon ab, den öffentlichen Raum als großen Mülleimer zu betrachten. Das ärgert mich jeden Tag. Wie zum Beispiel auch das rücksichtslose Verhalten vieler Menschen gegenüber der Natur am Plötzensee. Da haben wir als Gesellschaft insgesamt noch viel Arbeit vor uns.
Nach der Wahl 2016 wollten Sie, dass die fünf Stadträte (aus vier Parteien) ein kooperatives Führungsteam bilden. Heute nennen das einige den Robert-Habeck-Style. Wie gut ist Ihnen das gelungen?
Als Bezirksamtskollegium der fünf Stadträte haben wir für den Umgang unter den Beschäftigten Vorbildcharakter. Ich bin daher froh über das gute kollegiale Miteinander. Dazu hat sicherlich beigetragen, dass im Gegensatz zu früher alle Ämter unabhängig von ihrer politischen Zuordnung in gleicher Weise von zusätzlichen Stellen, Geldern oder aktuell Verbesserungen im IT-Bereich profitiert haben. Aber natürlich ringen wir kontrovers insbesondere bei der Nutzung der Frage, wo zusätzliche Wohnungen, wo neue Schul‑, Kita- oder Gewerbeflächen entstehen sollen und was aus ökologischen Gründen unbebaut bleiben muss.
Sie gingen an den Start mit einer Zielvereinbarung für die Verwaltung. Welche Aufträge haben es bis zum Zieleinlauf geschafft und welche nicht? Und warum nicht?
Sicher ist der erste Erfolg bereits, dass wir uns überhaupt auf ein Zielsystem einigen konnten, das unserer Gesamtverantwortung für den Bezirk entspricht, sehr konkrete Ziele benennt, sie stetig weiterentwickelt und den Stand der Zielerreichung ehrlich und öffentlich dokumentiert.
Aktuell haben wir eine positive Baumbilanz, konnten unsere Kultureinrichtungen sichern, können ausreichend Schulplätze anbieten und gewinnen mehr neue Beschäftigte als uns verlassen. In vielen Bereichen ‒ wie mehr Personal fürs Ordnungsamt, mehr Kapazitäten für die Einbürgerung und mehr Vielfalt in der Verwaltung ‒ sind wir auf einem guten Weg.
Dagegen sind wir beim Kita-Ausbau, mehr günstigem Wohnraum oder einer besseren Gesundheitsquote und nicht zuletzt beim Klimaschutz noch weit weg von unseren Zielen. Wir teilen all unsere Ziele immer in einzelne Schritte auf. So erkennen wir schneller, woran es konkret hakt. Oft ist es auch die Zusammenarbeit zwischen den Ämtern. Die Zusammenarbeit in einer großen Behörde zu verbessern und die innere Bürokratie abzubauen, ist schwieriger als ich dachte. Insbesondere während der Pandemie.
Sie gehören zu den wenigen Politikern in Mitte, die der eigenen Partei nicht immer nach dem Munde reden. Warum kreuzen Sie manchmal lieber vor der Brise, anstatt die Segel einfach in den Wind zu stellen?
Gute Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit. Und ich habe den Anspruch, alle Menschen in unserem Bezirk zu vertreten, nicht nur die, die meine Partei gewählt haben oder gar Mitglied in dieser sind. Bei besonders schwierigen Themen – wie zum Beispiel dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße oder den geeigneten Hilfen für obdachlose Menschen – müssen wir möglichst viele Perspektiven berücksichtigen, um zu Verbesserungen für die Betroffenen zu kommen. Wenn man sich über das Ziel einig ist, dann kann Streit über den besten Weg dorthin durchaus produktiv sein. Das zeichnet doch eine lebendige und menschennahe Politik aus.
Manche haben den Eindruck, das Ordnungsamt haben Sie nicht widerwillig übernommen. Obwohl das ein Feld ist, auf dem die Wähler die CDU erwarten. Was ist das Grüne, das Sie in den letzten fünf Jahren in das Feld der Sicherheit und Ordnung gebracht haben?
Ich will einen öffentlichen Raum für alle – Anwohnende aller Altersklassen und Lebenslagen, Berlinbesuchende wie auch vermeintliche Problemgruppen. Damit keine Gruppe eine andere dominiert oder gar verdrängt, muss die öffentliche Hand immer wieder zugunsten der schwächsten Gruppe eingreifen – ob es Kinder auf einem spritzenbelasteten Spielplatz, ältere oder eben suchtkranke Menschen sind. Mit Angeboten für hilfebedürftige Menschen, Ergänzungen der Infrastruktur, aber auch der Zusammenarbeit mit der Polizei und konsequentem Handeln des Ordnungsamtes versuchen wir das fragile Gleichgewicht im öffentlichen Raum aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen – situationsangemessen und im Sinne des Gemeinwohls. Sich von Kritik und Misserfolgen nicht entmutigen zu lassen, Anwohnende und Beschäftigte anzuhören und ihre Sorgen ernst zu nehmen und immer wieder bereit zu sein, neue Wege zu gehen – wie bei der geplanten künstlerischen Beleuchtung der Brücken am Alexanderplatz – das kennzeichnet für mich eine grüne Sicherheits- und Ordnungspolitik.
Interview mit Stephan von Dassel zum Start seiner Amtszeit “Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel im Interview” vom 21. Februar 2017.
Ist ein solches Interview zum Ende einer Amtszeit schon Wahlkampf? Wir hoffen nicht. Bilanz ziehen, kann man eben nur am Ende – oder 100 Tage vor dem Ende. Versprochen: den nun anlaufenden Wahlkampf wird der Weddingweiser begleiten. So werden Interviews mit den vier aussichtsreichen Kandidaten für das Amt des Bezirksbürgermeisters folgen (so diese Rede und Antwort stehen wollen).