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Die jüdische Perspektive auf die Strafanstalt Plötzensee, 1878–1939:
Knast-Synagoge und koscheres Essen

6. Juni 2022
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Dies­mal über­schrei­ten wir eine Gren­ze, denn obwohl die Straf­an­stalt Plöt­zen­see zwar im Namen an den im Wed­ding gele­ge­nen Plöt­zen­see erin­nert, befin­det sie sich in Char­lot­ten­burg-Nord. Außer­halb des heu­ti­gen S‑Bahnrings und weni­ge Meter west­lich vom Plöt­zen­see schlum­mert eine ein­zig­ar­ti­ge Geschich­te, denn auch im Gefäng­nis Plöt­zen­see gab es jüdi­sches Leben.

Zwi­schen 1868 bis 1879 ent­stand das Straf­ge­fäng­nis Plöt­zen­see und die ers­ten Gebäu­de wur­den 1872 in Betrieb genom­men. In allen Ber­li­ner Gefäng­nis­sen wur­den jüdi­sche Straf­tä­ter unter­ge­bracht. Die Ein­wei­sung in ein bestimm­tes Gefäng­nis konn­te nicht nur mit der Straf­tat, son­dern auch mit dem Glau­bens­be­kennt­nis zusam­men­hän­gen – Pro­tes­tan­ten in Tegel, Katho­li­ken und Juden in Plöt­zen­see, so das Israe­li­ti­sche Fami­li­en­blatt 1925. Laut die­ser Quel­le gab es in Plöt­zen­see eigens für Juden reser­vier­te Häu­ser, was sich in den Plä­nen nicht bestä­ti­gen lässt. Jedoch gab es in der Anstalt Plöt­zen­see für Straf­tä­ter jüdi­schen Glau­bens eini­ge Besonderheiten.

Foto der Strafanstalt Plötzensee, 1871. Quelle: Architekturmusem der Technischen Universität Berlin.
Foto der Straf­an­stalt Plöt­zen­see, 1871. Quel­le: Archi­tek­tur­mu­sem der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Berlin.

Koscheres Essen für die jüdischen Insassen

Bereits weni­ge Jah­re nach der Inbe­trieb­nah­me der Straf­an­stalt gab es ca. 40 jüdi­sche Insas­sen, so eine Nach­richt vom 9. Okto­ber 1878. Anlass für den Bericht war die Neu­or­ga­ni­sa­ti­on der Ver­pfle­gung. Bis dahin berei­te­te die Gefäng­nis­kü­che kei­ne kosche­ren Spei­sen zu, son­dern die jüdi­sche Gemein­de brach­te zu den hohen Fei­er­ta­gen ent­spre­chend zube­rei­te­te Gerich­te. Im Jahr 1878 rich­te­te man „von Staat­we­gen“ beson­de­re Gerä­te in der Anstalts­kü­che ein, um kosche­re Kost für die hohen Fest­ta­ge zuzu­be­rei­ten, so Die jüdi­sche Pres­se am 10. Okto­ber 1878. An den nor­ma­len Wochen­ta­gen gab es kein kosche­res Essen.

Zehn Jah­re spä­ter ent­brann­te eine Dis­kus­si­on über die Kos­ten­über­nah­me. In der Zei­tung Der Gemein­de­bo­te wur­de am 17. Sep­tem­ber 1897 berich­tet: „Wäh­rend frü­her z.B. im hie­si­gen Cen­tral­ge­fäng­nis­se zu Plöt­zen­see die jüdi­schen Gefan­ge­nen ritu­el­le Ver­pfle­gung am Pas­sah­fes­te und am Neu­jahrs­fes­te wie auch Vor­abend und nach Schluß des Ver­söh­nungs­ta­ges erhiel­ten, und zwar auf Anstalts­kos­ten, ist durch die erwähn­te Ver­fü­gung die Ver­sor­gung der jüdi­schen Gefan­ge­nen mit ritu­el­ler Kost nur für das Pas­sah­fest gestat­tet, und auch nur dann, wenn die jüdi­sche Gemein­de die­sel­be auf ihre eige­nen Kos­ten lie­fern will.” Der deut­sche Rab­bi­ner­ver­band wand­te sich an die Minis­ter, damit die Kos­ten wie­der über­nom­men wer­den. Jedoch waren die Minis­ter nicht zur Kos­ten­über­nah­me bereit. Somit wur­de der Zustand von vor 1878 wiederhergestellt.

Gesamtplan der Strafanstalt Plötzensee von 1877
Gesamt­plan der Straf­an­stalt Plöt­zen­see von 1877

Recht auf Seelsorge

Bereits nach der Inbe­trieb­nah­me des Straf­ge­fäng­nis­ses wur­den jüdi­sche Straf­tä­ter in Plöt­zen­see inhaf­tiert. Zum Sab­bat kam alle 14 Tage Rab­bi­ner Dr. S. Krü­ger aus Ste­glitz in die Anstalt, so ein Bericht von 1878. Rab­bi­ner Krü­ger über­nach­te­te von Frei­tag auf Sams­tag in der Anstalt und rich­te­te auch das jüdi­sche Neu­jahrs­fest für die Insas­sen aus. Und er setz­te sich für die Befrei­ung von der Arbeit wäh­rend aller jüdi­schen Fei­er­ta­ge ein.

Ab 1893 gab es einen fes­ten jüdi­schen Seel­sor­ger für die Insas­sen von Plöt­zen­see – Herrn Levy. Bis 1912 zähl­te die­se Leis­tung mit zu den gro­ßen Unter­schie­den zu ande­ren Ber­li­ner Ein­rich­tun­gen. Dane­ben leg­te ein Gesetz vom Jus­tiz­mi­nis­ter vom 4. Mai 1914 fest, dass jüdi­sche Gefan­ge­ne mit Stra­fen von drei Mona­ten auf­wärts Anspruch auf ein Gefäng­nis mit jüdi­schem Seel­sor­ger haben.

Bis in die 1920er Jah­re hin­ein gab es nur einen ange­stell­ten jüdi­schen Seel­sor­ger für alle Ber­li­ner Gefan­ge­nen-Anstal­ten, was als zu wenig kri­ti­siert wur­de. Dane­ben arbei­te­ten eini­ge Ber­li­ner Rab­bi­ner auch unent­gelt­lich als Seel­sor­ger in den Gefängnissen.

Die erste Synagoge in der ursprünglichen Planung
Die ers­te Syn­ago­ge in der ursprüng­li­chen Planung

Novum: Die „königlich-preußische Anstalts-Synagoge“

Im Straf­ge­fäng­nis Plöt­zen­see gab es bereits bei der Pla­nung und Gebäu­de­er­rich­tung die Berück­sich­ti­gung jüdi­scher Insas­sen hin­sicht­lich ihrer Reli­gi­ons­aus­übung. „Für den Got­tes­dienst jüdi­scher Sträf­lin­ge ist im 2. Gefäng­nis ein beson­de­rer Bet­saal ein­ge­rich­tet“, so die Beschrei­bung in Ber­lin und sei­ne Bau­ten 1877. In den Plä­nen von 1877 befin­det sich die­ser Raum im zwei­ten Ober­ge­schoss des 2. Gefäng­nis­ses und ist als Syn­ago­ge eingezeichnet.

Hier befand sich die erste Synagoge
Hier befand sich die ers­te Synagoge

Von der Inbe­trieb­nah­me bis zum Jahr 1908 hat­te sich die Zahl der jüdi­schen Insas­sen von 40 auf 80 bis 100 so gut wie ver­dop­pelt. Der Seel­sor­ger und Pre­di­ger Levy setz­te sich für die Ein­rich­tung einer neu­en Syn­ago­ge ein. Noch im Janu­ar 1908 wun­der­te man sich über die im preu­ßi­schen Etat ent­hal­te­nen 100 000 Mark für ein neu­es jüdi­sches Got­tes­haus in der Straf­an­stalt Plöt­zen­see: „(…) daß aber der preu­ßi­sche Staat zum ersten­mal Geld­mit­tel für den jüdi­schen Kul­tus, sei es auch der unglück­li­chen Straf­ge­fan­ge­nen, her­gibt, ist immer­hin ein Novum“, so die All­ge­mei­ne Zei­tung des Judenth­ums am 24. Janu­ar 1908.

Am 8. Novem­ber 1908 wur­de die neue Syn­ago­ge im Laza­rett­ge­bäu­de der Anstalt fei­er­lich ein­ge­weiht, so Der Gemein­de­bo­te am 20. Novem­ber 1908. Über die Fei­er: „Die Gesän­ge wur­den unter Har­mo­ni­um­be­glei­tung von dem aus jüdi­schen Straf­ge­fan­ge­nen bestehen­den Syn­ago­gen­chor exakt aus­ge­führt. Nach Ein­he­bung der Tho­ra­rol­le durch Pro­fes­sor Dr. May­baum sprach Rab­bi­ner Dr. Blu­men­thal das Wei­he­ge­bet, wel­ches auf die Zuhö­rer einen stim­mungs­vol­len Ein­druck mach­te. Der Anstalts­geist­li­che, Pre­di­ger Levy, sprach das Kai­ser­ge­bet und die Fest­pre­digt, wel­che sich mit ihren herz­ge­win­nen­den Wor­ten haupt­säch­lich an die Gefan­ge­nen rich­te­te“. Drei Jahr­zehn­te wur­de die Syn­ago­ge von den jüdi­schen Insas­sen benutzt.

Dr. Abraham A. Baer, Oberarzt im Strafgefängnis Plötzensee von 1872-1905
Dr. Abra­ham A. Baer, Ober­arzt im Straf­ge­fäng­nis Plöt­zen­see von 1872–1905

Der renommierte jüdische Gefängnisarzt von Plötzensee

Von 1872 bis 1905 war der jüdi­sche Medi­zi­nal­rat Dr. Abra­ham Adolf Baer als lei­ten­der Ober­arzt im Straf­ge­fäng­nis Plöt­zen­see tätig. Für sei­ne Ver­diens­te erhielt Baer 1882 von der Ame­ri­can Asso­cia­ti­on for the Cure of Ine­bria­tes die Ehren­mit­glied­schaft und 1905 den König­li­chen Kro­nen-Orden 3. Klas­se – Baer starb am 24. Febru­ar 1908.

Er galt als Begrün­der der moder­nen Gefäng­nis-Hygie­ne, so Der Gemein­de­bo­te am 6. März 1908. Baer hat sich in wis­sen­schaft­li­chen Schrif­ten mit den Ernäh­rungs­ver­hält­nis­sen, der Lun­gen­schwind­sucht und der hygie­ni­schen Erzie­hung in Gefäng­nis­sen beschäf­tigt. Auch der Alko­ho­lis­mus als Volks­krank­heit und dem Vor­ur­teil, dass Alko­ho­lis­mus zum Ver­bre­chen anstif­te, wid­me­te Baer meh­re­re Stu­di­en. Dar­über hin­aus beschäf­tig­te er sich mit Selbst­mord in Kindesalter.

Helmut "Helle" Hirsch, hingerichtet am 4. Juni 1937 im Strafgefängnis Plötzensee
Quelle: Brandeins University
Hel­mut “Hel­le” Hirsch, hin­ge­rich­tet am 4. Juni 1937 im Straf­ge­fäng­nis Plöt­zen­see
Quel­le: Brand­eins University

Hinrichtungen jüdischer Insassen

In der jüdi­schen Tages­pres­se wur­de sowohl über die Ver­bü­ßung von Haft­stra­fen als auch die Hin­rich­tung jüdi­scher Insas­sen berich­tet. Zu gleich meh­re­ren Arti­keln führ­ten die Hin­rich­tun­gen des 28-jäh­ri­gen Künst­lers Sal­ly Epstein und des 33-jäh­ri­gen Hans Zieg­ler 1935 und von Hel­mut “Hel­le” Hirsch, der am 4. Juni 1937 hin­ge­rich­tet wur­de. Epstein und Zieg­ler wur­den wegen angeb­li­cher Mit­tä­ter­schaft bei der Ermor­dung von Horst Wes­sel (SA-Sturm­füh­rer) zum Tode ver­ur­teilt. Kurz vor der Hin­rich­tung am 10. April 1935 um 6 Uhr in der Frü­he soll Epstein noch geru­fen haben: „Nicht wir sind die Mör­der, Ihr seid die Mör­der!“, so Die Stim­me am 17. April 1935. Erst 2009 wur­den das Unrechts­ur­teil von der Ber­li­ner Staats­an­walt­schaft kassiert.

Der Fall des 21-jäh­ri­gen Hel­mut Hirsch beweg­te die inter­na­tio­na­le Öffent­lich­keit, denn er war Jude und ame­ri­ka­ni­scher Staats­bür­ger. Auf dem Bahn­hof von Stutt­gart wur­de er wegen Spreng­stoff­be­sitz am 21. Dezem­ber 1936 ver­haf­tet. Sei­ne Ver­bin­dun­gen zu Wider­stands­grup­pen mach­te den Fall für die Jus­tiz klar: Hoch­ver­rat. Er wur­de am 4. Juni 1937 hin­ge­rich­tet. Die Nacht vor der Hin­rich­tung ver­brach­te ein Rab­bi­ner bei ihm im Gefäng­nis Plöt­zen­see. Ein Antrag des US-ame­ri­ka­ni­schen Gene­ral­kon­suls, die Asche an die Eltern nach Prag aus­zu­lie­fern, wur­de abgelehnt.

Ins­ge­samt wur­den wäh­rend der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Dik­ta­tur mehr als 2.800 Insas­sen durch den Strang oder das Fall­beil ermor­det. Ihre Her­kunft reich­te von Ber­lin bis in alle deutsch besetz­ten Gebie­ten Euro­pas. Heu­te wird in der Gedenk­stät­te Plöt­zen­see an die­se Gräu­el­ta­ten erinnert.

Berufsverbot und Auflösung der Knast-Synagoge

Trotz Syn­ago­ge und Seel­sor­ger gab es nie eine Gleich­stel­lung der Kon­fes­sio­nen im Gefäng­nis Plöt­zen­see. Jüdi­sche Insas­sen konn­ten zu kei­ner Zeit die Haft­stra­fe im Ein­klang mit ihren Grund­sät­zen ver­bü­ßen. Das Reichs­bür­ger­ge­setz vom 15. Sep­tem­ber 1935 – die so genann­ten Nürn­ber­ger Geset­ze – leg­te fest, dass Staats­an­ge­hö­ri­ge jüdi­schen Glau­bens nicht als Reichs­bür­ger gel­ten konn­ten. Es wur­de beschlos­sen, dass jüdi­sche Beam­te bis zum 31. Dezem­ber 1935 in den Ruhe­stand gehen. Dadurch ver­lo­ren sie ihr Ein­kom­men, die gesell­schaft­li­che Stel­lung und die Zuge­hö­rig­keit zur Gesell­schaft. Auch in der Straf­an­stalt Plöt­zen­see muss­te der Straf­an­stalts­rab­bi­ner in den Ruhe­stand gehen. Bis zum Stich­tag waren in Ber­lin 216 jüdi­sche Beam­te aus der Reichs­jus­tiz­ver­wal­tung aus­ge­schie­den. Und im Jahr 1939 wur­de die Anstalts-Syn­ago­ge auf­ge­löst. Somit wur­de ein wei­te­res Kapi­tel jüdi­schen Lebens ein Ende gesetzt.

Carsten Schmidt

Zum Autor: Carsten Schmidt (Dr. phil.), promovierte am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Sein Interessensschwerpunkt für Stadtgeschichte verfolgt einen interdisziplinären Ansatz zwischen Gesellschaft- und Architekturgeschichte. Er ist Autor des Buchs: Manhattan Modern. Im Juni 2023 erschien sein neues Buch Bittersweet - Jüdisches Leben im Roten Wedding, 1871–1933 Zu finden ist er auch auf Twitter.

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