Diesmal überschreiten wir eine Grenze, denn obwohl die Strafanstalt Plötzensee zwar im Namen an den im Wedding gelegenen Plötzensee erinnert, befindet sie sich in Charlottenburg-Nord. Außerhalb des heutigen S‑Bahnrings und wenige Meter westlich vom Plötzensee schlummert eine einzigartige Geschichte, denn auch im Gefängnis Plötzensee gab es jüdisches Leben.
Zwischen 1868 bis 1879 entstand das Strafgefängnis Plötzensee und die ersten Gebäude wurden 1872 in Betrieb genommen. In allen Berliner Gefängnissen wurden jüdische Straftäter untergebracht. Die Einweisung in ein bestimmtes Gefängnis konnte nicht nur mit der Straftat, sondern auch mit dem Glaubensbekenntnis zusammenhängen – Protestanten in Tegel, Katholiken und Juden in Plötzensee, so das Israelitische Familienblatt 1925. Laut dieser Quelle gab es in Plötzensee eigens für Juden reservierte Häuser, was sich in den Plänen nicht bestätigen lässt. Jedoch gab es in der Anstalt Plötzensee für Straftäter jüdischen Glaubens einige Besonderheiten.
Koscheres Essen für die jüdischen Insassen
Bereits wenige Jahre nach der Inbetriebnahme der Strafanstalt gab es ca. 40 jüdische Insassen, so eine Nachricht vom 9. Oktober 1878. Anlass für den Bericht war die Neuorganisation der Verpflegung. Bis dahin bereitete die Gefängnisküche keine koscheren Speisen zu, sondern die jüdische Gemeinde brachte zu den hohen Feiertagen entsprechend zubereitete Gerichte. Im Jahr 1878 richtete man „von Staatwegen“ besondere Geräte in der Anstaltsküche ein, um koschere Kost für die hohen Festtage zuzubereiten, so Die jüdische Presse am 10. Oktober 1878. An den normalen Wochentagen gab es kein koscheres Essen.
Zehn Jahre später entbrannte eine Diskussion über die Kostenübernahme. In der Zeitung Der Gemeindebote wurde am 17. September 1897 berichtet: „Während früher z.B. im hiesigen Centralgefängnisse zu Plötzensee die jüdischen Gefangenen rituelle Verpflegung am Passahfeste und am Neujahrsfeste wie auch Vorabend und nach Schluß des Versöhnungstages erhielten, und zwar auf Anstaltskosten, ist durch die erwähnte Verfügung die Versorgung der jüdischen Gefangenen mit ritueller Kost nur für das Passahfest gestattet, und auch nur dann, wenn die jüdische Gemeinde dieselbe auf ihre eigenen Kosten liefern will.” Der deutsche Rabbinerverband wandte sich an die Minister, damit die Kosten wieder übernommen werden. Jedoch waren die Minister nicht zur Kostenübernahme bereit. Somit wurde der Zustand von vor 1878 wiederhergestellt.
Recht auf Seelsorge
Bereits nach der Inbetriebnahme des Strafgefängnisses wurden jüdische Straftäter in Plötzensee inhaftiert. Zum Sabbat kam alle 14 Tage Rabbiner Dr. S. Krüger aus Steglitz in die Anstalt, so ein Bericht von 1878. Rabbiner Krüger übernachtete von Freitag auf Samstag in der Anstalt und richtete auch das jüdische Neujahrsfest für die Insassen aus. Und er setzte sich für die Befreiung von der Arbeit während aller jüdischen Feiertage ein.
Ab 1893 gab es einen festen jüdischen Seelsorger für die Insassen von Plötzensee – Herrn Levy. Bis 1912 zählte diese Leistung mit zu den großen Unterschieden zu anderen Berliner Einrichtungen. Daneben legte ein Gesetz vom Justizminister vom 4. Mai 1914 fest, dass jüdische Gefangene mit Strafen von drei Monaten aufwärts Anspruch auf ein Gefängnis mit jüdischem Seelsorger haben.
Bis in die 1920er Jahre hinein gab es nur einen angestellten jüdischen Seelsorger für alle Berliner Gefangenen-Anstalten, was als zu wenig kritisiert wurde. Daneben arbeiteten einige Berliner Rabbiner auch unentgeltlich als Seelsorger in den Gefängnissen.
Novum: Die „königlich-preußische Anstalts-Synagoge“
Im Strafgefängnis Plötzensee gab es bereits bei der Planung und Gebäudeerrichtung die Berücksichtigung jüdischer Insassen hinsichtlich ihrer Religionsausübung. „Für den Gottesdienst jüdischer Sträflinge ist im 2. Gefängnis ein besonderer Betsaal eingerichtet“, so die Beschreibung in Berlin und seine Bauten 1877. In den Plänen von 1877 befindet sich dieser Raum im zweiten Obergeschoss des 2. Gefängnisses und ist als Synagoge eingezeichnet.
Von der Inbetriebnahme bis zum Jahr 1908 hatte sich die Zahl der jüdischen Insassen von 40 auf 80 bis 100 so gut wie verdoppelt. Der Seelsorger und Prediger Levy setzte sich für die Einrichtung einer neuen Synagoge ein. Noch im Januar 1908 wunderte man sich über die im preußischen Etat enthaltenen 100 000 Mark für ein neues jüdisches Gotteshaus in der Strafanstalt Plötzensee: „(…) daß aber der preußische Staat zum erstenmal Geldmittel für den jüdischen Kultus, sei es auch der unglücklichen Strafgefangenen, hergibt, ist immerhin ein Novum“, so die Allgemeine Zeitung des Judenthums am 24. Januar 1908.
Am 8. November 1908 wurde die neue Synagoge im Lazarettgebäude der Anstalt feierlich eingeweiht, so Der Gemeindebote am 20. November 1908. Über die Feier: „Die Gesänge wurden unter Harmoniumbegleitung von dem aus jüdischen Strafgefangenen bestehenden Synagogenchor exakt ausgeführt. Nach Einhebung der Thorarolle durch Professor Dr. Maybaum sprach Rabbiner Dr. Blumenthal das Weihegebet, welches auf die Zuhörer einen stimmungsvollen Eindruck machte. Der Anstaltsgeistliche, Prediger Levy, sprach das Kaisergebet und die Festpredigt, welche sich mit ihren herzgewinnenden Worten hauptsächlich an die Gefangenen richtete“. Drei Jahrzehnte wurde die Synagoge von den jüdischen Insassen benutzt.
Der renommierte jüdische Gefängnisarzt von Plötzensee
Von 1872 bis 1905 war der jüdische Medizinalrat Dr. Abraham Adolf Baer als leitender Oberarzt im Strafgefängnis Plötzensee tätig. Für seine Verdienste erhielt Baer 1882 von der American Association for the Cure of Inebriates die Ehrenmitgliedschaft und 1905 den Königlichen Kronen-Orden 3. Klasse – Baer starb am 24. Februar 1908.
Er galt als Begründer der modernen Gefängnis-Hygiene, so Der Gemeindebote am 6. März 1908. Baer hat sich in wissenschaftlichen Schriften mit den Ernährungsverhältnissen, der Lungenschwindsucht und der hygienischen Erziehung in Gefängnissen beschäftigt. Auch der Alkoholismus als Volkskrankheit und dem Vorurteil, dass Alkoholismus zum Verbrechen anstifte, widmete Baer mehrere Studien. Darüber hinaus beschäftigte er sich mit Selbstmord in Kindesalter.
Hinrichtungen jüdischer Insassen
In der jüdischen Tagespresse wurde sowohl über die Verbüßung von Haftstrafen als auch die Hinrichtung jüdischer Insassen berichtet. Zu gleich mehreren Artikeln führten die Hinrichtungen des 28-jährigen Künstlers Sally Epstein und des 33-jährigen Hans Ziegler 1935 und von Helmut “Helle” Hirsch, der am 4. Juni 1937 hingerichtet wurde. Epstein und Ziegler wurden wegen angeblicher Mittäterschaft bei der Ermordung von Horst Wessel (SA-Sturmführer) zum Tode verurteilt. Kurz vor der Hinrichtung am 10. April 1935 um 6 Uhr in der Frühe soll Epstein noch gerufen haben: „Nicht wir sind die Mörder, Ihr seid die Mörder!“, so Die Stimme am 17. April 1935. Erst 2009 wurden das Unrechtsurteil von der Berliner Staatsanwaltschaft kassiert.
Der Fall des 21-jährigen Helmut Hirsch bewegte die internationale Öffentlichkeit, denn er war Jude und amerikanischer Staatsbürger. Auf dem Bahnhof von Stuttgart wurde er wegen Sprengstoffbesitz am 21. Dezember 1936 verhaftet. Seine Verbindungen zu Widerstandsgruppen machte den Fall für die Justiz klar: Hochverrat. Er wurde am 4. Juni 1937 hingerichtet. Die Nacht vor der Hinrichtung verbrachte ein Rabbiner bei ihm im Gefängnis Plötzensee. Ein Antrag des US-amerikanischen Generalkonsuls, die Asche an die Eltern nach Prag auszuliefern, wurde abgelehnt.
Insgesamt wurden während der nationalsozialistischen Diktatur mehr als 2.800 Insassen durch den Strang oder das Fallbeil ermordet. Ihre Herkunft reichte von Berlin bis in alle deutsch besetzten Gebieten Europas. Heute wird in der Gedenkstätte Plötzensee an diese Gräueltaten erinnert.
Berufsverbot und Auflösung der Knast-Synagoge
Trotz Synagoge und Seelsorger gab es nie eine Gleichstellung der Konfessionen im Gefängnis Plötzensee. Jüdische Insassen konnten zu keiner Zeit die Haftstrafe im Einklang mit ihren Grundsätzen verbüßen. Das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 – die so genannten Nürnberger Gesetze – legte fest, dass Staatsangehörige jüdischen Glaubens nicht als Reichsbürger gelten konnten. Es wurde beschlossen, dass jüdische Beamte bis zum 31. Dezember 1935 in den Ruhestand gehen. Dadurch verloren sie ihr Einkommen, die gesellschaftliche Stellung und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Auch in der Strafanstalt Plötzensee musste der Strafanstaltsrabbiner in den Ruhestand gehen. Bis zum Stichtag waren in Berlin 216 jüdische Beamte aus der Reichsjustizverwaltung ausgeschieden. Und im Jahr 1939 wurde die Anstalts-Synagoge aufgelöst. Somit wurde ein weiteres Kapitel jüdischen Lebens ein Ende gesetzt.
Gute, traurige Recherche.
Vielen Dank.
Mit bewegten Grüßen,
Isabel Girau