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Interview mit Christopher Schriner:
Neuer Stadtrat denkt von der Zukunft her

17. Juni 2024
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Wenn man zugespitzt sagt: Na, öffentlicher Raum, das ist doch im Grunde die Stadt. Dann ist Christoph Schriner (Grüne) nicht nur einfach Stadtrat, weil das Amt so heißt, sondern weil er dieses Amt als Aufgabe für den öffentlichen Raum versteht. Seit dem 25. April ist der Architekt gewählt, um sich in Mitte um Straßen, Grünflächen und Ordnung zu kümmern. Er folgt auf Dr. Almut Neumann. Zum Amtsantritt spricht er über sein Amtsverständnis.

Stadtrat Christopher Schriner (Grüne). Foto: Andrei Schnell

Treten Sie in die Fußstapfen Ihrer Vorgängerin oder erfinden Sie ihr Amt neu?

Ich habe in der Mitte der Legislatur mein Amt angetreten. Das muss man anerkennen. Eine Kontinuität im Handeln wird es bei bestimmten Themen mit Sicherheit geben: Das Bezirksamt und Frau Neumann haben zum Beispiel die Themen sichere Kreuzungen, Fahrradstraßen, Kiezblocks extrem gut vorgemacht und das werden wir auf jeden Fall weiterführen. Hier wird mit sehr einfachen Maßnahmen sehr viel erreicht, was das Leben vieler Menschen im Alltag sicherer und lebenswerter macht.

In einem Satz gesagt, warum ist die Abkehr vom Auto wichtig?

Jetzt haben wir ein Dilemma. In den Medien – wie viele Zeichen hat dieser Artikel? – neigen wir, Sie und ich, dazu, Botschaften zu verkürzen. Ich würde deshalb gerne etwas weiter ausholen: Wir erleben in unseren Städten und in unserem Bezirk aus verschiedenen Gründen gerade vielfältige Veränderungen. Nicht nur bei der Frage, wie wir uns fortbewegen, sondern auch bei der Frage, wie wir uns an veränderte klimatische Bedingungen anpassen und wie wir möglichst ressourcenschonend bauen, heizen und Strom verteilen können – um nur einige zu nennen. Im Ergebnis berührt das dann zum Beispiel auch Fragen der Gestaltung und unseres ästhetischen Empfindens. Wir haben darüber hinaus einen gesellschaftlichen Wandel mit einer älter werdenden Gesellschaft und Fragen und Aufgaben bei der Einwanderung.

Wenn wir öffentliche Räume gestalten, können wir sehr viele dieser Themen angehen. Die Motivation hinter meinem Handeln ist: Wie schaffen wir es, unsere Stadt, unseren Bezirk, so zu entwickeln, dass wir all diese Themen bedenken und gute Lösungen anbieten? Sichere Mobilität für alle gehört notwendigerweise mit dazu. Ich finde es überraschend, dass das überhaupt infrage gestellt wird. Dass wir Radwege als einen Teil sicherer Mobilität bauen müssen, ist keine Frage. Wenn wir darüber diskutieren wollen, dann doch: warum nicht schneller?

Die politischen Gegenspieler werfen den Grünen häufig vor, die Menschen nicht mitzunehmen.

Da würde ich unterscheiden.

In Teilen sind diese Vorwürfe einfach politische Kommunikation unserer Wettbewerber. Zum anderen müssen wir auch anerkennen, dass wir grundsätzliche Veränderungen, die wir politisch auf allen Ebenen verabredet haben, noch nicht an jeder Stelle so erklären konnten, dass alle sie nachvollziehen können.
Deutschland hat gesagt, wir wollen 2045 klimaneutral sein – um die Lebensgrundlagen unserer Kinder und Enkelkinder zu schützen; damit existieren Pfadabhängigkeiten. Die führen dazu, dass wir Ziele und Schritte dahin für Jahre im Voraus festgesetzt haben. Diese Planung bricht mit einem Politikverständnis, das eher verwaltet. Ein Beispiel: Die Verkehrsplanung hat lange gesagt: Wir nehmen die Daten der letzten Jahre und rechnen die hoch in die Zukunft.

Politik bedeutet heute: Wir haben ein Ziel und dafür gestalten wir Maßnahmen, um das zu erreichen. Zum Beispiel bei den Verkehrsmitteln; wir brauchen Menschen, die vom Auto in den Umweltverbund (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) umsteigen. Das zu ermöglichen, ist heute der Auftrag an die Politik – abgeleitet aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, dem Klimaschutzgesetz und vielen anderen Gesetzen und daraus abgeleiteten Plänen wie dem Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr (StEP Move).
Diesen Paradigmenwechsel in der Politik – weg von „Verwalten“, hin zu einem steuernden, gemeinsamen „Gestalten“ – müssen wir ausführlicher kommunizieren.

Kommen wir zu einem konkreten Fall. Was bedeuten ihre Ausführungen zum Beispiel beim Plötzensee?

Grundsätzlich gehört Grün und Natur zur Stadt dazu. Alle kennen Fälle von Familien, die, sobald sie Kinder haben, versuchen, aus der Stadt rauszuziehen, um mehr Grün zu haben. Mit Folgen. Für den Verkehr zum Beispiel. Ich sage auch als Vater von drei Kindern, dass ich nicht immer in den Grunewald fahren möchte, um eine schöne und ruhige Grünfläche zu erleben.

Für den Plötzensee gibt es gute Gründe, warum er in einem Landschaftsschutzgebiet liegt. Da muss man ehrlich sagen: Das Erleben von Natur ist an dieser Stelle dann nicht, von jeder Stelle aus im Wasser zu baden zu können, sondern eben nur im Strandbad. Nur so können wir die Natur vor Ort erhalten.
In Berlin-Mitte leben 80.000 Menschen mehr als vor 20 Jahren. Bei gleichzeitigem Fast-Null-Leerstand in den Wohnungen haben wir auch mehr Nutzung der öffentlichen Räume. Konflikte sind da erwartbar, und es ist Aufgabe der Politik, diese anzugehen und Lösungen anzubieten. Für mein Handeln gilt dabei: Ich erwarte nicht, dass es „die“ eine Maßnahme gibt, die alles für immer löst. Und Maßnahmen, mit denen alle immer zufrieden sein werden, wird es auch nicht geben. Auch das ist bei einer vielfältigen Stadt wie Berlin nicht anders zu erwarten. Ich möchte hier für ein bisschen mehr Empathie und Gelassenheit werben.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

16 Comments

  1. Ich wünsche mir, dass der neue Stadtrat mehr die Belange von ÖPNV-Nutzern in den Blick nimmt. Seine Vorgängerin hat es zugelassen dass eines der wenigen Bus-Wartehäuschen auf der Müllerstraße außer Betrieb genommen wurde (Bus 120 Türkenstraße). Der Haltepunkt wurde verlegt. An neuer Stelle muss man nun bei jedem Wetter eng vor einem Obsthändler stehen, keine Sitze mehr für Ältere oder Kranke. Ich sehe dort häufig Menschen mit Krücken (Paul Gerhard Stift = Ärztehaus!). Bitte wieder mehr Sitzmöglichkeiten auf der Müllerstraße schaffen!

      • Ich habe vor ein paar Wochen mit einem netten Busfahrer gesprochen: Die Verlegung ist leider dauerhaft. Vor dem alten Wartehäuschen sind schon dauerhaft Parkplätze aufgepinselt worden.

    • Ich glaube (bin mir aber nicht ganz sicher), dass das nicht in die Zuständigkeit des Bezirksamts fällt. Ob die BVG ein Wartehäuschen aufstellt oder abbaut, entscheidet vor allem die BVG selbst. War aber nicht bei der Planung des vor Jahren geplantes Umbaus der Müllerstraße der Senat am Zuge? Denn wenn jemand an der Stelle politisch eingreifen kann (weil die Müllerstraße eine Hauptstraße ist), dann ist das der Senat.

      In die Zeit von Frau Dr. Neumann fällt gerade das Programm für mehr Sitzmöglichkeiten, wobei die Standorte vom Behindertenverband, von der Seniorenvertretung, vom Fuss e.V. und von der Stadtteilkoordination vorgeschlagen wurden. Wir hatten darüber berichtet: https://weddingweiser.de/neue-baenke/

      Ich glaube, dass dieses Programm noch nicht beendet ist. Eventuell kann man da beim Bezirk noch neue Standorte vorschlagen. Vielleicht käme ja der Haltepunkt infrage? Einen Versuch wäre es wert.

      • Ein Wartehäuschen oder eine Bank an neuer Stelle wurde wohl geprüft. Dafür ist wegen des Händlers kein Platz, sonst wird es für Rollstühle und Kinderwagen zu eng.
        Laut Busfahrer war die Verlegung wohl nicht der Wunsch der BVG. Er findet die Verlegung auch unmöglich. Bleibt die Frage: Wer trifft solche Entscheidungen??

  2. Öffentlicher Raum für subtile AgitProp eines offensichtlich genehmen bezirklichen Mandatsträgers. Kritischer Journalismus geht anders, ist im Weddingweiser verständlicherweise nicht erwartbar. Wie gehabt, Präferierung von ÖPNV, Rad- und Fußgängerverkehr, Zurückfahren des Autoverkehrs durch volkspädagogisches Einwirken. Nicht wirklich originell. Was ist eigentlich ein Auto? Nicht nur tauglich für Fortbewegung, sondern zugleich längst mobiler Schutzraum. Der alte Benz hat mir im sog. Brunnenviertel bereits 1996 mein Leben bewahrt, dort letztmalig 2018 die Unversehrtheit meine Zähne. Zurück blieb mein arg demoliertes Vehikel, vom Versicherer mit Schrottwert entgolten. "Das gibt´s doch gar nicht, da müssen Sie doch…." Ein Aspekt der Automobilität in sozialen Brennpunkten, nie thematisiert. Was bleibt? Das verlorene Vertrauen in körperlicher Unversehrtheit im öffentlichen Raum und politische Neuausrichtung.

    • Warum "verständlicherweise"? Da fehlt mir eine Information. / Auch irritiert mich, dass Sie in Ihrem Angriff auf mein Tun von "subtil" sprechen. Eigentlich war es meine Absicht, ganz unverdeckt in die Öffentlichkeit zu bringen, wie der neue Stadtrat denkt. / Wenn es um originelle Argumente geht, dann ist das Klischee vom gefährlichen Nachbarn nicht wirklich außerordentlich. Mein altbackenes Argument: Ich bin im Brunnenviertel täglich in meiner körperlichen Unversehrtheit bedroht, wenn ich die Brunnenstraße an einer Stelle ohne Ampel (zum Beispiel in Höhe ehemaliger Kaisers) überquere.

  3. Was als erstes auffällt: Mehr Politsprech als bei Frau Dr. Neumann. Sind "Pfadabhängigkeiten" heute das was früher die "Sachzwänge" waren?

    • Vielleicht ist die Pfadabhängigkeit indirekt der neue Sachzwang. Im ersten Schritt, ist Pfadabhängigkeit eine Konsequenz aus einem offen gelegten Ziel: Klima neutral werden. Der Sachzwang ist die Konsequenz aus einem verschleierten Ziel: Wir würden gern neue Schulen bauen, wenn wir nicht so dringend sparen müssten (unausgesprochen: die Reichen mehr Steuern zahlen müssten).

  4. „Fast-Null-Leerstand“

    Alles klar Bro.
    Torstraße Ecke Friedrichstraße, Friedrichstraße Ecke Oranienburger Straße,
    Torstraße 190, neben dem falafel laden. Das sind in einem
    Umkreis von 500m mehrere Gebäude, die Leerstehen. Humanitäre und nicht gewinnorientierte Wohnungspolitik wird von grünen nicht gefördert. Da helfen auch grün-bemalte Radwege nichts.

    • Oder den ganzen Blödsinn wieder abreißen? Alle 5 Blocks im Kiez? Und statt dessen einfache Bremsschwellen verbauen alle 100 Meter? Dann sähe unser Kiez auch nicht aus wie eine Dauerbaustellle.

      • Tatsächlich wird die Farbgebung der Poller rot/weiß diskutiert. Denkbar wäre ja, Künstler sich austoben zu lassen. Kommt vielleicht noch. Zunächst zog das Argument: Sie sollen auffallen, weil sie neu sind. Dieses Argument verliert im Lauf der Zeit sicher an Kraft.

    • Über die Ecke habe ich mit ihm kurz gesprochen. Obwohl beim Interviewtermin erst kurz im Amt, war die Situation mit dieser Kreuzung bereits an ihn herangetragen worden.

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