Was macht den Wedding so reizvoll? Die Einen finden den Wedding im Grunde total vorhersehbar, ungefähr so wie den ältesten Freund aus Grundschulzeiten. Wer diesen Teil der Stadt mit dieser Einstellung durchquert, wird seine Erwartungshaltung schnell bestätigt sehen. Die Anderen hingegen entdecken ständig etwas Neues, vollkommen Unerwartetes in den Straßen und Parks des Wedding…
Bürgertum trifft sozialen Brennpunkt
Der alte Bezirk Wedding grenzte auf vielen Kilometern an den Ostteil Berlins. Für uns ist es ganz normal, dass an den kaum zusammengewachsenen Nahtstellen zwischen West und Ost zwei total unterschiedliche Lebenswirklichkeiten völlig unbeeindruckt nebeneinander her existieren. Man stelle sich zum Beispiel auf die Behmstraßenbrücke. Richtung Süden geht der Blick auf den 368 Meter hohen Fernsehturm, heute “das” touristische Symbol für Berlin. Wendet man den Blick Richtung Norden, ist Berlin auf einmal gar nicht großstädtisch: die Schrebergärten der Kolonie Sandkrug stehen für das kleinbürgerliche Idyll. Richtung Osten erblickt der Betrachter die großflächig erhaltenen Mietskasernen des früheren Arbeiterbezirks Prenzlauer Berg, wo das neue urbane Bürgertum heute seinen Latte macchiato mit Biomilch trinkt. Radikal anders wirken dagegen die 70er-Jahre-Waschbetonhochhäuser in westlicher Richtung mit ihren hohen Ausländeranteil als architektonischer Ausdruck eines “sozialen Brennpunkts”.
Geheimdienst trifft Sozialbau
Oder nehmen wir die eigenartige städtebauliche Situation zwischen Liesenstraße, Chausseestraße und Boyenstraße. Die baulichen Kontraste zwischen den neuen Edel-Wohnobjekten (“the Garden”) in Alt-Mitte und den Sozialbauten mit den vielen Satellitenschüsseln auf Weddinger Seite könnte kaum größer sein. Und straßenaufwärts folgt sogleich mit dem Bayer Schering-Gelände auch noch ein großer Industriebetrieb mitten in der Stadt. Verstärkt werden dürfte dieser – in jeder Hinsicht heftige Zusammenstoß – durch die Fertigstellung der ziemlich indiskret gebauten Bundesnachrichtendienst-Zentrale und den Zustrom von solventen Geheimdienstmitarbeitern auf Wohnungssuche.
Eine Religion trifft die andere
Und innerhalb des Wedding? Typisch für viele Kirchen ist die Osterkirche im Sprengelkiez. Am Sonntag feiern in den Kirchen oft zwei Gemeinden ihre Gottesdienste. Einerseits zum Beispiel die traditionelle evangelische und zwei Stunden später eine farbenfroh gekleidete afrikanische Gemeinde. Und sogar innerhalb einer Kirchengemeinde treffen sich beim interreligiösen Frauentee Christinnen und Muslima regelmäßig. Und schon ein paar Ecken weiter gibt es Moscheegemeinden.
Platte West trifft Altbau
Rein baulich ist der Wedding natürlich ein steingewordener Gegensatz in sich selbst. Vor allem im Brunnenviertel in Gesundbrunnen fällt auf, dass es hier nicht so aussieht, wie sich ein unbedarfter Besucher die Mitte Berlins vorstellt. Das lässt sich mit dem Abrisswahn der Nachkriegszeit erklären, denn im Kalten Krieg galt es, das in Sichtweite von Ost-Berlin gelegene Gewirr von Mietskasernen (legendär: Meyer’s Hof in der Ackerstraße) in ein aufgeräumtes, modernes Wohngebiet zu verwandeln. Dazu wurden fast alle Altbauten, die den Krieg überstanden hatten, abgerissen und durch Plattenbauten ersetzt. Nur eine Handvoll Wohnhäuser aus der Kaiserzeit, vor allem an der Putbusser Straße, an der Jasmunder Straße und an der Gleimstraße haben diese Kahlschlagsanierung überlebt und wirken in dem neuen Kontext wie aus der Zeit geraten.
Ausdruckstanz trifft Köfteladen
Die Badstraße ist eine verblichene Schönheit und ein ehemaliges Amüsierviertel in Gesundbrunnen, das heute auf eine migrantische Laufkundschaft ausgerichtet ist. Schicke und angesagte Läden und Cafés sucht man hier vergeblich. Umso größer ist dann der Kontrast an der Uferstraße, wo sich mit den Uferstudios und den Uferhallen ein kunstaffines, oft englischsprachiges Publikum tummelt. Seit das ehemalige BVG-Werkstattareal in einen von Künstlerateliers und Tanzbühnen genutzten Ort verwandelt wurde, reibt sich der gemeine Gesundbrunner oft die Augen in Anbetracht der ungewohnten Hipster aus der Kreativszene. Doch wie so oft im Wedding verlaufen sich die wie von einem anderen Planeten per U‑Bahn angereisten Fremden schon an der nächsten Ecke und fallen dann nicht weiter auf.
See trifft Straße
Und jetzt noch ein Stadt-Land-Kontrast gefällig? Es reicht, sich an das Nordende unseres Plötzensees zu stellen. Nicht nur Ortsfremde können kaum fassen, dass sie sich hier in Berlin-Mitte und nicht irgendwo in der Mark Brandenburg befinden. Doch direkt daneben, kaum zu überhören, rauscht der Autoverkehr auf dem Autobahnzubringer Seestraße. Noch einen Steinwurf weiter, am Westhafenkanal, werden Waren und Güter umgeschlagen.
Kurz gesagt: so gleichmäßig, wie sich soziale Probleme und das ästhetische Mittelmaß über den ganzen Wedding und Gesundbrunnen zu verteilen scheinen, darf in unserem Teil der Stadt immer noch ziemlich viel Überraschendes und Widersprüchliches nebeneinander her existieren. Das macht auch den Reiz einer Weltstadt aus. Wollen wir hoffen, dass auch in Zukunft für möglichst viele Lebensweisen und Kulturen genügend Raum bleibt.
[…] wie ehedem. Viel “gefährlicher” sind da solche auf Dauer angelegten Projekte wie die Uferstudios, die Osram-Höfe oder das Himmelbeet. Dort sind Menschen zugange, die es doch tatsächlich darauf […]
Ein sehr gelungener Artikel, weil er die Vielfalt im Wedding aber auch die Brüche thematisiert. Irritierend finde ich nur die Zwischenüberschrift: “Gläubige treffen Ungläubige”. Ob die Besucher der Salafisten-Moschee den Kontakt mit anderen überhaupt wollen, sei dahin gestellt. Ich erinnere mich noch als die Moschee eröffnete. Das war kurz vor dem dritten Oktober, an dem seit vielen Tagen der “Tag der offenen Moscheen” stattfindet. Die Woche davor schaute ich regelmäßig, ob es ein Angebot in der Sprengelstraße geben würde. Es gab keinerlei schriftlichen Hinweis so ging ich am 3. Oktober in die Moschee in der Lynarstraße. Interessant war, daß am nächsten Tag an der Salafistenmoschee ein Plakat zu sehen war, daß man zum Tag der offenen Moschee einlädt.
Einen Ort gibt es dann im Sprengelkiez doch, wo sich Menschen unterschiedlicher religiöser Traditionen und auch säkulare Menschen treffen – also Gläubige und Ungläubige – nämlich die interreligiöse Bibliolog-Werkstatt, die einmal monatlich mittwochs im Sprengelhaus stattfindet, dieses Jahr zum Thema: “Essen und Trinken in heiligen Schriften”:
http://bibliologberlin.wordpress.com/2014/01/30/interreligiose-bibliolog-werkstatt-2014-essen-und-trinken-in-der-bibel/