Tag um Tag laufen Menschen aus aller Welt die Bernauer Straße entlang. Sie laufen die Gedenkstätte Berliner Mauer ab, vom U‑Bahnhof Bernauer Straße zum Nordbahnhof, schauen sich den Beton an, der die Bürger der DDR von Westberlinern trennte, die ehemalige Todeszone. Sie laufen auch über Markierungen auf dem Boden, die die Fluchttunnel andeuten, die hier unter der Erde verliefen: von Ostberlin in die Freiheit, in den Westen. Ob die Besucher:innen der Gedenkstätte das Licht im Tunnel noch brennen sehen? Das ist zumindest die Frage oder die Behauptung, die eine szenische Lesung über die Tunnelfluchten in den Raum gestellt hat: Im Tunnel brennt noch Licht!? Das Stück hatte am Freitag (7.7.) Premiere in den Räumen der ehemaligen Oswald Brauerei an der Brunnenstraße.
Es ist ein kleines Ensemble, das in den immer kühlen Räumen der früheren Brauerei die deutsche Teilung thematisiert. Mathias Binner, Anja Fliess, Petr Manteuffel und Susanne Menner lesen, spielen und singen die Zuschauer:innen zusammen mit Frank-Wolfgang Rosenthal und Christina Irrgang in eine andere Zeit. Eine Zeit, die an genau diesem Ort so stattgefunden haben könnte. Wie bei einem Mosaik fügen sich die Szenen aneinander, die die Geschichte eines Tunnelbaus erzählen. Es geht um den Abschied von geliebten Menschen, Verrat, Stasi-Verhöre, Erlebnisse im Gefängnis, die Hoffnung auf eine bessere DDR. Als Klammer für die Mosaiksteinchen dient ein Lesekreis, wie er in den 1970er Jahren populär war.
Gespielt wird im historischen Brauereikeller, Gastgeber sind der Berliner Unterwelten e.V. und das stadTheater Kassel, etwa 20 Menschen haben im Publikum Platz. Sie schauen auf einen Tisch mit drei Stühlen, eine alte Schreibmaschine, Bücher von Kafka, eine Flasche mit Kognak, ein Einkaufsnetz mit Apfelsinen. Es wird gelesen, es werden falsche Zigaretten geraucht und es wird gesungen, viel gesungen. Der Gesang ist überhaupt das Beste, ruft er doch die Emotionen am stärksten und unmittelbarsten hervor. Fast mitgesungen hätten sie, sagten im Anschluss an die Vorstellung einige Zuhörer:innen. Zu hören waren Lieder von Renft, Wolf Biermann, Veronika Fischer, Bettina Wegner und auch das russische Kampflied „Partisanen von Amur“, das in der DDR von den Schulkindern gelernt werden musste.
Der besondere Ort spielt ebenfalls eine Rolle in der szenischen Lesung mit Musik. Ganz am Schluss wird das Publikum zum Teilnehmenden an der Tunnelflucht, erhebt sich von den Plätzen und wird hastig durch die Gewölbe der ehemaligen Oswald Brauerei geführt, tief hinab in die Gänge, vorbei an einem echten Fluchttunnel, eine schmale Wendeltreppe hinauf und direkt in die Arme eines Stasi-Offiziers. Hier enden Flucht und szenische Lesung.
Zugegeben, die szenische Lesung fand nicht im Wedding statt. Brunnenstraße 143, das ist vom Stadtteil aus gesehen schon knapp hinter der Bernauer Straße, Alt-Mitte. Der ganz kleine Ausflug raus aus dem Wedding hat sich aber gelohnt für diese Reise in eine Zeit, die historisch betrachtet noch sehr nah, aber gleichzeitig bereits auch sehr weit entfernt ist. Die markierten Linien der Mauergedenkstätte haben an dem Abend einen Klang bekommen, einen Fluchttunnel-Sound, sie haben literarische und persönliche Texte bekommen. Ein Bild und zwei Stunden guter Unterhaltung an einem sehr authentischen Ort. Auch das ist Erinnerungskultur.
Service
Wer sich auch auf diese kleine Zeitreise begeben will, hat dazu im September nochmals Gelegenheit. Die szenische Lesung mit Musik „Im Tunnel brennt noch Licht!?“ findet am 8. und 9. September jeweils um 20 Uhr statt (Einlass 19.15 Uhr). Der Eintritt kostet 15 Euro. Kartenvorbestellungen sind bereits jetzt per E‑Mail unter [email protected] möglich. Weil es im Brauereikeller immer kühl ist, sollte man einen Pullover oder eine Strickjacke mitnehmen.