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Home Sweet Home: Systemrelevant

6. April 2020

Serie Da kam heu­te Kon­rad vom Dienst nach Hau­se – drei Tage pro Woche ist er nun im Home­of­fice und an zwei Tagen muss er noch ins Büro – und hält mir einen Zet­tel unter die Nase, auf dem steht, sein Büro­job sei jetzt „sys­tem­re­le­vant“. Für mich per­sön­lich schon jetzt das Unwort des Jah­res 2020. Sys­tem­re­le­vanz. Da fra­ge ich mich, was wir Nor­ma­los sind? Ganz unten in der Nah­rungs­ket­te? Beutetiere?

Wie­vie­le Men­schen haben denn teil­wei­se jahr­zehn­te­lang, wie ich auch, ehren­amt­lich dem Sys­tem gedient, indem sie sich in den Eltern­bei­rat haben wäh­len las­sen, als Lese­pa­ten in Schu­len gehol­fen, Kin­der­grup­pen mit Haus­auf­ga­ben betreut, die betag­ten Eltern, Groß­el­tern und Schwie­ger­el­tern gepflegt, neben der Arbeit mit Ver­dienst noch den Haus­halt geschmis­sen, die Kin­der erzo­gen, älte­re Nach­barn mit­ver­sorgt, noch in Sup­pen­kü­chen oder bei der Cari­tas oder in der Kir­che gear­bei­tet? Es gab und gibt so vie­le ehren­amt­lich arbei­ten­de Bür­ger und Bür­ge­rin­nen, manch­mal noch nicht ein­mal offi­zi­ell, son­dern unsicht­bar in der Nach­bar­schaft, im Bekann­ten­kreis, im Kran­ken­haus neben­an zum Geschich­ten­vor­le­sen auf der Kinderstation…

Sys­tem­re­le­vanz ist etwas ande­res. Aha.

Nach anfäng­li­chen leich­ten bis mit­tel­schwe­ren Wut­at­ta­cken die­se beklopp­te neu­ar­ti­ge Dif­fe­ren­zie­rung betref­fend und nach ers­ten apo­ka­lyp­ti­schen Phan­ta­sien, in denen ich eine Grup­pe Rebel­len mit Klo­pa­pier durch das ver­wais­te Ber­lin zum Robert–Koch–Institut füh­re und letzt­end­lich das Virus besie­ge und wir end­lich wie­der nor­mal leben könn­ten, hat­te ich heu­te mor­gen tat­säch­lich so was wie gute Laune.

Ers­te Son­nen­strah­len wärm­ten mein Gesicht, eini­ge Vögel zwit­scher­ten und ich woll­te Kaf­fee. Es wird Früh­ling, auch ohne Men­schen. Die­ser Pla­net braucht nicht uns, wir brau­chen ihn. Okay, man braucht eini­ge Tage, bis man sich an „zu Hau­se blei­ben“ gewöhnt hat, bis man sieht, dass das Klo­pa­pier sich nicht schnel­ler abrollt als frü­her und man trotz Virus kei­nen Durch­fall hat.

Nach einer hei­ßen Dusche, dem Wecken der Kin­der und dem Früh­stück war es also soweit: Schul­ar­bei­ten – nächs­ter Ver­such. Ich mache es kurz: Maria woll­te mit Ben spie­len und pie­sack­te ihn die gan­ze Zeit, Ben mecker­te her­um, woll­te Maria am liebs­ten in ihrem Zim­mer fest­bin­den und Kon­rad woll­te Kaffee.

Gemein­sa­mes „Home­pa­ren­ting“ wäre ja mal eine Idee gewe­sen, aber natür­lich ist Herr von und zu Sys­tem­re­le­vanz nicht wil­lens, im Sin­ne des Home­schoo­lings ein Macht­wort zu spre­chen, son­dern besinnt sich gera­de die­ser Tage dar­auf, dass moder­ne Väter mehr den bes­ten Freund und eher weni­ger den Erzie­her der Kin­der her­aus hän­gen las­sen. Es reicht ja, wenn es sich ein Eltern­teil verscherzt.

„Ach Anke, lass doch die Kin­der… wenn sie doch gera­de so schön spie­len…, ach Ben und Maria, jetzt tut doch Mama mal den Gefallen. “

Dan­ke, Kon­rad. Das war exakt die Unter­stüt­zung, auf die ich gehofft hat­te. Knurrr. Nach­dem ich tief Luft geholt und deut­li­che Wor­te über den wei­te­ren han­dy- und WLAN-frei­en Ver­lauf des Tages gefun­den hat­te, wenn also jetzt hier nicht sofort kon­zen­triert gear­bei­tet wer­den wür­de, und nach­dem Kon­rad diplo­ma­ti­scher­wei­se wort­los, aber flink in sein Arbeits­zim­mer geflo­hen ist, Maria trä­nen­frei, aber laut­stark vor sich hin schluchz­te und Ben mir ver­si­cher­te, dass er auch zu sei­ner Freun­din zie­hen könn­te, wenn ich so wei­ter machen wür­de wie bis­her, saßen wir also gemein­sam am gro­ßen Tisch und arbeiteten.

Ben ver­such­te abge­fah­re­ne phy­si­ka­li­sche Zusam­men­hän­ge über Kern­fu­si­on a) zu ver­ste­hen und b) zu berech­nen. Nun kam ja die Fra­ge auf, ob über­haupt noch Abitur­klau­su­ren geschrie­ben wer­den wür­den, oder ob man den Schü­lern nicht even­tu­ell ein Aner­ken­nungs­ab­itur zuge­ste­hen könn­te , was gleich­zei­tig bei uns zu einer Dis­kus­si­on über die Sinn­haf­tig­keit der Auf­ga­ben führte.

Vor­aus­schau­en­der­wei­se einig­te sich die Regie­rung dar­auf, die Prü­fun­gen statt­fin­den zu las­sen, was zu neu­en Pro­ble­men führ­te, denn nun muss­te sich Ben vor­be­rei­ten und das ohne Freun­de, ohne Leh­rer, ohne wirk­li­che Lust drauf, dafür mit viel „Mut­ti“ am Küchentisch.

Ich woll­te eben noch­mals tiiii­ief durch­at­men, als Kon­rad sei­nen Kopf zur Tür her­ein steck­te und mich an mei­ne ehe­li­chen Pflich­ten erin­ner­te. Für einen Moment wur­de es still am Tisch. Ben hat­te die Rede­wen­dung ver­stan­den und sah mich ent­setzt an, Maria ver­stand nicht ganz, wes­halb ich so irri­tiert war und Kon­rad grins­te. Ich sah ihn sprach­los ver­blüfft an. Hat­te er eben echt vor den Kin­dern … „Ehe­li­che Pflich­ten“ … nach 23 Jah­ren… Ich mei­ne… Nein, aber nicht doch! Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

Auf den guten Kon­rad ist doch immer Ver­lass. Sein maskulin–betörender Beschüt­zer­instinkt küm­mert sich in Zei­ten des „Nicht-Anfas­sens“ und „Zwei Meter Abstand-Hal­tens“ kei­nes­wegs mehr um die nie­de­ren Trie­be einer Mitt­vier­zi­ge­rin. Hier ging es mehr um exis­ten­zi­el­le Gelüs­te. Er mein­te, er habe Hun­ger und erin­ner­te mich an mei­ne gran­dio­sen Fähig­kei­ten als Köchin. Klar. Wer sys­tem­re­le­vant ist, darf sich wohl auch beko­chen las­sen. Noch ‘n Stück Kuchen dazu?

Wäh­rend Ben Maria die Dis­kre­panz erklär­te zwi­schen dem, was ich dach­te, das Kon­rad mein­te und dem, was Kon­rad wirk­lich woll­te, Maria minu­ten­lang vor sich hin kicher­te und Kon­rad in Phan­ta­sien über Kar­tof­fel­puf­fer schwelg­te, schlurf­te ich in die Küche und schmiss den Was­ser­ko­cher an. Wenn ich was nicht lei­den kann, sind es Kar­tof­fel­puf­fer. In deut­schen Haus­hal­ten gibt es in Not­zei­ten Nudeln! Punkt!

Als ich vor unge­fähr einem Jahr sag­te, ich wür­de mir mehr Zeit mit Kon­rad wün­schen, ob er sich nicht ein Sab­bat­jahr vor­stel­len könn­te – da hat­te ich mir mehr Wohn­wa­gen vor­ge­stellt, mor­gens nicht wis­sen, wo man abends anhält, lös­li­cher Kaf­fee aus einer Blech­t­as­se, Gitar­ren­mu­sik am Lager­feu­er, Trom­meln, Dre­ad­locks und die gren­zen­lo­se Wei­te Europas.

Ich hat­te mir eher weni­ger geschlos­se­ne Gren­zen, „beim Hän­de­wa­schen ein Vater­un­ser“ , „in die Arm­beu­ge nie­sen“ und „zu Hau­se blei­ben“ vor­ge­stellt. Hier ist eini­ges aus dem Ruder gelau­fen! Ich beschloss, mich an den Ver­ant­wort­li­chen zu wenden.

GOTT! Wir müs­sen reden!

Fort­set­zung folgt

Text: Anke von Eckstaedt

Gastautor

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