Als Konrad von der Arbeit kam, setzte er sich zu uns an den Tisch, an dem die Kinder gerade beide noch mit Schulaufgaben beschäftigt waren und fing an, zu plaudern.Habt Ihr schon gehört – das Abitur soll jetzt staatlich verbessert werden, wenn der diesjährige Durchschnitt schlechter ausfällt als der, der letzten zwanzig Jahre.Es ist exakt diese Art von Hausaufgabenbetreuung, die mir am Tag fehlt, wenn Konrad weg ist. „Ironie off“. Ich bat ihn also solche Themen zu vermeiden, denn völlig egal, wer was verbessert oder was jetzt auch immer passiert: Es wird ein Leben nach und mit dem Virus geben, es wird eine Zukunft geben und dieses beknackte Abitur auch. Inzwischen schreiben sie ja nun auch schon die Klausuren – für die sie immer noch lernen müssen! Nebenbei bemerkt, finde ich, hätte ich höchstselbst das Abitur ehrenhalber verdient für das, was ich an Hausaufgaben, Hilfe zur Selbsthilfe, Klassenfahrten, Sommerfesten, Weihnachtsfeiern, Lesepatenschaften, Nase putzen, Wutanfälle ertragen, Plusquamperfekt erklären, Inhaltsverzeichnissen in Schnellheftern ordnen und Betreuung im Allgemeinen geleistet habe! Hatte ich das schon mal erwähnt? Ich finde, ich hab ein Recht auf die Reifeprüfung!
Apropos Reife: Als ich Konrad riet, die Kids besser nicht weiter abzulenken und zu demoralisieren, verließ er gereizt, laut stöhnend den Raum. Ja, Konrad kann das mit der lösungsorientieren, positiven Gesprächsführung. Gut, dass wir im Wedding wohnen, hier sind die Leute einiges gewohnt. Ich ließ ihm seine fünf Minuten, versuchte Ben dazu zu kriegen, trotz Aussicht auf ein staatlich verbessertes Abitur seine Aufgaben zu beenden und ging zu Konrad, um ihm zu erklären, dass ich wirklich den halben Tag damit beschäftigt bin, die beiden Pubertiere a) drinnen, b) fern von ihren Freunden und c) bei Laune zu halten, als er auf die Idee kam, mir zu erörtern, worin das Grundproblem bestand: DU wolltest doch die Kinder! – Jaaaaaa, natürlich. Ich nun wieder! Und selbstverständlich ist der arme Herr von und zu Systemrelevanz nicht an solchen Entscheidungen beteiligt. Naaaaain, die schuldige Anke braucht keinen Partner, die schuldige Anke kann Kinder völlig allein mit Hilfe der „Macht“ her beordern. Wohl ein Jedi ich bin. Versohlen ich ihm den Hintern gern würde. Dummerweise reagieren Männer um die 50 nur sehr schwach auf derart drastische Maßnahmen.
Ich entschied mich diplomatisch und ging wortlos in die Küche, um einen Kaffee zu kochen und meinen Gedanken nachzuhängen. Kaffee ist immer gut. Für den Bruchteil einer Sekunde meditierte ich über der Frage, ob vier Löffel Pulver wohl zu stark wären, wenn ich ihm den Kaffee samt Thermoskanne an den Kopf… aber lassen wir das. Wenigstens ist Konrad zu Hause. Ich musste lachen. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Kann ich ahnen, dass ein kleines Stoßgebet um etwas mehr Zeit mit der Familie reichen würde, um die Erde anzuhalten, 8 Milliarden Menschen nach Hause zu schicken und uns unsere Familien und Urängste gründlich um die Ohren zu hauen? Nächstes Mal bete ich um eine Villa am Strand. Was ist nur mit der Welt los? Alle Menschen müssen gleichermaßen zu Hause bleiben, egal ob krank oder gesund, egal ob alt oder jung. Nur die „Systemrelevanten“ dürfen noch zur Arbeit gehen, nur die, die unser Leben im Alltag aufrecht erhalten. Danke dafür! Jetzt erwacht ganz langsam wieder das Leben und mit dem Erwachen die Angst vor neuen Erkrankungen und irgendwann selbst betroffen zu sein. Vor einigen Monaten noch war unsere Erde dabei, zu verbrennen, der Müll in den Meeren nahm derart verheerend zu, dass selbst in den Tiefen des Ozeans Plastik zu finden war und das fand sich auch in den Fischen, die wir zum Mittag essen sollten!Unsere Böden wurden derart übersäuert, dass die Nitritwerte im Trinkwasser vielerorts erheblich stiegen. Die Kriege und Armut wüteten so schlimm in den von uns wenig beachteten Ländern, dass Menschen dort keine Wahl mehr hatten, als die Flucht anzutreten. „Wirtschaftsflüchtling“ wurden diese Menschen hier verächtlich genannt. Hier bei uns ist heute kein Krieg.
Wir haben ein Zuhause, medizinische Versorgung, ein kuscheliges Bett, ein warmes Sofa, weiche Decken, wir haben Strom, Telefon, Internet, mehr als ausreichend Essen und Toilettenpapier. Und trotzdem kam es hierzulande zu Prügelszenen in Supermärkten um die letzte Dose Ravioli. Mögen wir diese Verzweiflung niemals vergessen und in Zukunft verständnisvoller mit Geflüchteten umgehen! Überhaupt gibt es einiges, von dem ich mir wünsche, an das wir in Zukunft denken werden.Wir sind eigentlich alle ganz nette Leute. Oder bin ich total naiv? Nachdem wir die ersten Tage der Angst und Hamsterkäufe überwunden hatten, fanden wir uns solidarisch zusammen. Das ist doch toll! Es gibt plötzlich Whatsappgruppen und Telefonkonferenzen von Nachbarn, Bekannten, von ganzen Kirchengemeinden und täglich miteinander beten, plaudern, einander teilhaben lassen am Alltag, Rat suchen und geben. Wir achten auf unsere betagten und einsamen Nachbarn, kaufen für sie mit ein. Wir haben unter unseren Masken und in 2 Meter Entfernung liebe Worte und ein Lächeln, das wir durch unsere Augen sichtbar machen, fragen Fremde an der Bushaltestelle, wie es ihnen ginge. Viele singen abends auf dem Balkon, klatschen um 19:00 gemeinsam, joggen gemeinsam durch denPark oder helfen am Telefon bei den Hausaufgaben der Kinder, wenn die Alleinerziehende Mama von gegenüber sich mal nicht zweiteilen kann. Wir sind gute Menschen und zwar unabhängig vom Alter, Geschlecht oder unserer Kultur. Das hat diese Krise doch auch gezeigt. Bitte erhalten wir uns das. Denken wir in Zukunft daran, dass ein Lächeln viel bedeutet, dass Solidarität immer gefragt ist und nicht nur im absoluten Notfall. Die soziale Kälte in unseren Reihen war vor Corona oft unerträglich. Kaum dass man im Hausflur ein leises „Tag“ gemurmelt hat, wenn man am unliebsamen Nachbarn vorbei kam. Familien, die über Jahre hinweg kein Wort mehr miteinander wechselten, es gab schon vorher viele sehr einsame alte Menschen. Unsere Erde ist 2019 verbrannt, die Verschmutzung der Luft, des Wassers und der Erde selbst war unerträglich geworden, die Ausbeutung der Bodenschätze und der Menschen in einer Art Hierarchie, wobei den Ärmsten noch das genommen wurde, was sie sich bitter erarbeiteten, um uns hier Kleidung und Wohlstandsgegenstände billig zu beschaffen war eine einzige, fürchterliche Schande. Dahin möchte ich nicht mehr zurück. Dann doch lieber weniger kaufen, dafür qualitativ hochwertiger, nicht von Kindern gefertigt und bitte zu einem Preis, der es dem Arbeiter ermöglicht, wie wir hier auch zu essen, zu wohnen und in den Urlaub zu fahren.Überhaupt Urlaub: Ob ich dieses Jahr noch an mein geliebtes Meer komme? Ob ich dieses Jahr meinen geliebten Wedding verlasse, um einige Tage alles, was ich hier zu Hause im Homeoffice, Homeschooling, Home sweet Home-Hausarrest zu verarbeiten?
Will ich das? Es geht uns gut hier. Wir haben Parks, Gärten, Balkonien, unsere Nachbarn, Freunde, Bekannte und Familien auf dem Handy, wir haben Empfang! Und die Eisdiele um die Ecke, syrisches Baklava, italienische Feinkost, den Wochenmarkt auf dem Leo …Nee, wir machen Urlaub auf der Müllerstraße. Aber jetzt erst mal einen Kaffee!
Autorin: Anke von Eckstaedt