Um Heiko Wernings neues Buch “Wedding sehen und sterben” zu besprechen, möchte ich ausholen: Ich war einmal bei einer Lesebühne. Bevor es losging, war lediglich ein Tisch zu sehen, auf dem eine tote Ratte lag. Links neben mir fragte einer, warum eine Ratte? Rechts neben mir einer: warum eine tote. Und hinter mir hörte ich: Die tote Leseratte ist ein Symbol für den Niedergang der Buchkultur. Klar, ich war fremdgegangen, ich war bei einer Lesebühne im Prenzlauer Berg. Sorry. Zur Entschuldigung kann ich vorbringen, dass ich hier Bleistift und Kladde herauszog, um eine Buchkritik zu Heiko Wernings “Wedding sehen und sterben” vorzuformulieren. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von Erlebnissen aus dem Jahre Null.
Korrekt geht so: Wenn bei einer Lesebühne eine tote Ratte auf dem Lesetisch liegt, dann darf man auf keinen Fall zeigen, dass ein Anlass zum Wundern vorliegen könnte. “Ist schließlich Berlin hier. Geht mich nichts an”, formuliert Heiko Werning im Angesicht der Ratte. So geht eben die Weddinger Lebensart an der Müllerstraße, wo der Friseur “Sunny Day”, der Bäcker “Sunny Mornings” und die Spielothek “Sunny Nights” heißt. Auch Dönerläden haben bei Heiko Werning schöne Namen: “You kill it, we grill it”. Der Stadt-Aufschreiber vom Wedding beobachtet eben genau.
Nicht alle seine Lageberichte könnten nur im Wedding so und nicht anders geschrieben werden. Aber es geht in der Textsammlung niemals um die große, weite Welt; alles muss von Heiko Wernings Hinterhof in der Seestraße fußläufig erreichbar sein. Donald Trump, der König des Irrwahns, muss leider draußen warten. Heiko Werning reichen die Schizophrenen vom U‑Bahnhof Seestraße vollauf.
Ab Seite 166 wird sein Buch virusaktuell – der Lockdown und seine Weddinger Ausartungen werden Thema. Und auch die Wiederholung während des zweiten Lockdowns stellt den Lesebühnen-Autor (nicht Poetry Slamer!) vor keine Herausforderungen. Schließlich schreibt er seit Jahrzehnten immer wieder über das Gleiche – nämlich über einen Stadtteil, in der man in der Grundschule lernt “akzentfrei in drei Sprachen Fotze zu sagen”. 2010 legte Heiko Werning los mit seinen Freundschaftsanfragen an den Wedding: “Mein wunderbarer Wedding”. 2014 folgte “Vom wilden Wedding” und 2017 “Vom Wedding verweht”.
Einige der Beobachtungen eines Münsteranes in einer “abweisenden, im Grunde unbewohnbaren Umgebung” stammen aus dem Jahr Null. Also aus dem Jahr 2020, als mit dem Coronadingens eine neue Zeitrechnung begann. Die vor dem großen Aufräumen der Wohnung und die danach.
An Selbstkritik wird nicht gespart. So merkt der Dichter Werning, dass auch er aus der neuartigen Verschenkekiste im Hausflur nur eines nicht brauchen kann – das Buch. Die Buchkultur ist eben tot, selbst Poeten lassen Druckwerke links liegen. Und damit schließt sich der Kreis der von mir vorgetragenen Gedanken, wir sind wieder bei der Ratte:
Jeder kann Weddinger werden. Heiko Werning hat es geschafft und auch die jungen Menschen aus aller Herren Bundesländer können es schaffen. Das Buch schließt mit versöhnlichen Worten eines Wunderlings über die Sonderbarkeiten der nachfolgenden Wedding-Generation. “Für die Ratten habe ich jetzt einfach xxx xxxxxx Xxxxxxxxxxxxx xxxx xxx Xxxxxxxxxxxxx xxxxxxxx. Xxxx xxxxxx xxx xxxxx xxxx xxxxxxxxxxx, xxx xxx xxxx xxx Xxxx xxxxxxxxx xxx xxxxx xxxxxxxxxxx.” Text ist unkenntlich gemacht wegen Spoiler, du weißt schon.
Heiko Werning: “Wedding sehen und sterben. Geschichten aus dem Bermuda-Dreieck Berlins”, 208 Seiten, 16 Euro, ISBN 978−3−89320−261−4