Die Frau in der ersten Stuhlreihe für die Besucher ist neugierig: Wo sitzen die Fraktionen? Wo denn die CDU? Und die Stadträte, sind das die da vorn? Sie ist extra gekommen, um den feierlichen Moment zu erleben, in dem Benjamin Fritz (CDU) zum Bildungsstadtrat gewählt wird. Doch sie wird enttäuscht. Zunächst passiert in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) nichts. Auch nach 30 Minuten nicht. Sie geht. Zwei Stunden hätte sie warten müssen, weil vor der Wahl des neuen Bezirksstadtrats erst einmal die Personalie Martin Leuschner (CDU) dazwischen gekommen ist. Und das kam so:
Eine Minute bevor die BVV am 16. März um 17.30 Uhr zusammentritt, bittet die Fraktion der SPD darum, den Ältestenrat einzuberufen. Der Ältestenrat ist – umgangssprachlich formuliert – der harte Kern der BVV und regelt die Bedingungen der Sitzung, zum Beispiel die Tagesordnung. Susanne Fischer, Fraktionsvorsitzende der SPD, sagt, ihre Partei habe zwar formal nach dem Ältestenrat gerufen, aber es sei der Wunsch mehrerer Parteien gewesen. Es hätten noch wichtige Fragen geklärt werden müssen.
Tarek Massalme, Fraktionssprecher der Grünen, verrät ein klein wenig mehr. Es sei um den Vorschlag der CDU für den stellvertretenden Vorsteher der BVV gegangen. Da die CDU mit zwölf Verordneten zweitstärkste Kraft in der BVV ist, darf sie diesen vorschlagen. Die Position hat symbolischen Wert, wobei Erfahrung im Ablauf der Sitzungen nicht schlecht sind. Tarek Massalme sagt zur Wahl: “Es bestand die Gefahr, dass die Person keine Mehrheit findet”. Die Person, das ist Martin Leuschner. Der Fraktionsvorsitzende der CDU in der BVV Sebastian Pieper sagt, das sei “ein ungewöhnlicher Vorgang”, denn “andersherum wählen wir ja auch die Kandidaten der anderen Parteien, auch wenn die uns nicht immer gefallen”. Tarek Massalme sagt, Martin Leuschner habe sich den Fraktionen nicht vorgestellt. Sebastian Pieper sagt, das sei nicht üblich. Außerdem “war Herr Leuschner schon einmal im Vorstand der BVV”. Ein Blick ins Archiv zeit, dass er im Jahr 2019 zwar nicht zum stellvertretenden Vorsteher gewählt, aber in den Vorstand der BVV gewählt war – also zum “Quasi”-Stellvertreter.
Während das Publikum am 16. März wartet, einigt sich der Ältestenrat nach zwei Stunden darauf, die Wahl des stellvertretenden Vorstehers zu verschieben. Übereinstimmende Begründung der Parteien für dieses Vorgehen: Wäre die Wahl erfolglos gewesen, hätte dies die BVV lahmgelegt, die Bezirkspolitik wäre nicht handlungsfähig gewesen. Dieser Stopp wurde durch den Aufschub vermieden.
Nächster Tagesordnungspunkt: Benjamin Fritz (CDU) wird zum neuen Bildungsstadtrat gewählt. Den Posten hatte seine Vorgängerin Maja Lasić von der SPD freigemacht, indem sie ihre Wahl ins Abgeordnetenhaus angenommen hatte. Benjamin Fritz wurde von seinen Parteifreunden umarmt, von zahlreichen anderen Verordneten mit einem Händeschütteln beglückwünscht und fast alle Fraktionen hatten Blumensträuße dabei. Und dann durfte er sich an den Tisch ganz vorn im Saal setzen: sozusagen auf die Regierungsbank. Korrekt formuliert: Er nahm Platz am Tisch der sechs Stadträte. Die Besucherin, die extra für diesen Moment gekommen war, hätte vermutlich bemerkt, dass für das neue Mitglied in der Riege der Bezirkslenker kein Namensschild vorbereitet worden war.
Beinahe untergegangen ist am 16. März in der Aufregung um Martin Leuschner, dass die BVV auch die Wahl des stellvertretenden Bürgermeisters aufgeschoben hat. Bislang war das Baustadtrat Ephraim Gothe von der SPD.