Der Wedding ist ein Umschlagplatz für vieles – auch für viele Neu-Berliner. Für viele ist unser Stadtteil traditionell erst eimal nur ein Ort des Ankommens, oft nur für eine Übergangszeit, bis man sich beruflich und familiär etabliert und ein endgültiges Zuhause in einem anderen Teil Berlins gefunden hat. Man muss nur einmal das Buch „Wedding“ von Horst Evers lesen. Neben den vielen Neu-Weddingern, die aus allen möglichen Teilen der Welt zu uns migriert sind, ist unser Stadtteil oft auch ein Eingangstor für Zugezogene aus anderen Teilen Deutschlands. Wenn sie sich hier dauerhaft niederlassen (und immer mehr tun das aus freien Stücken), wissen sie um die Vorteile des Lebens im Wedding. Und merken später: Die Kieze sind auch nur viele große Dörfer.
Sie bringen das Land in die Stadt
Die Wenigsten, die hier ankommen, haben vorher in einer großen Stadt gelebt. Im Gegenteil, viele dürften aus den für Deutschland so typischen Klein- und Mittelstädten kommen oder vom platten Land.
Irgendwann lässt bei fast jedem die Faszination für “die Großstadt” nach und sie verliert den Reiz des Neuen. Einen Promi auf der Straße gesehen, na und? Die ganze Nacht über fahren Busse – klar, war das mal anders? Meine türkischen Nachbarn vom gleichen Stockwerk? Habe ich schon mal gesehen, aber noch nie länger mit ihnen gesprochen – warum auch?
Aber auch der frühere Dorfbewohner lernt, Leute nicht anzustarren, selbst wenn ihr Aussehen außerhalb der gelernten Norm ist, andere Lebensstile und Ansichten nicht nur zu akzeptieren, sondern als völlig normal anzusehen. Communities aller Kulturen, Sprachen und Religionen leben im Wedding oft nebeneinander her, und doch teilen sich die meisten diesen Stadtteil auf Augenhöhe – egal ob alteingesessen oder nicht. Das empfinden einige Wenige als Bedrohung, viele als eine gewisse Freiheit, letztlich ist es eine Bereicherung des eigenen Horizonts.
Irgendwann haben die meisten zugezogenen Weddinger ihre erste Wohnung aufgegeben und sind geblieben, trotz der Hassliebe, die man normalerweise gegen die vielen Nachteile des Weddinger Großstadtlebens entwickelt hat. Der Müll auf den Straßen ist ärgerlich, aber die Straße fegen – wie ich als Dorfkind – muss auch nicht mehr sein. Man erinnert sich noch dunkel an das wenig aufregende Dorfleben, wo man ständig unter sozialer Kontrolle stand. Und dann wird mir klar, dass ich dahin nicht mehr zurückmöchte. Unglaublich gut sortierte türkische Gemüsemärkte, Geschäfte, die spätabends auf haben, ein legerer Kleidungsstil, der niemanden aufregt – diese Weddinger Annehmlichkeiten möchte man irgendwann nicht mehr missen.
Bekannte Gesichter stören nicht mehr
Je länger man in seinem Kiez im Wedding und Gesundbrunnen lebt, desto weniger kommt einem dieser dichtbesiedelte Stadtteil, der selbst schon die Einwohnerzahl einer Stadt wie sagen wir Saarbrücken hat, wie ein anonymer Großstadtdschungel vor. Die Sehnsucht nach einem Garten, der eigenen Parzelle, wird größer. Gut, dass es Gemeinschaftsgärten und Kleingartenkolonien gibt!
Und trifft man nicht immer die gleichen Mitmenschen beim Bäcker, in der Kiezbar und im Supermarkt? Was man auf dem Dorf noch zutiefst gehasst hat, stört einen auf einmal nicht mehr. In den Straßenblocks um mich herum wohnen auch nur 1.000 Menschen? Es müssen ja nicht alle anonyme Unbekannte sein. Und dann ertappt man sich: Manche Gesichter sieht man immer wieder, bis man sich zu grüßen beginnt. Den Nachbarn Werkzeug leihen? Klar, warum nicht, man weiß ja, wo er wohnt. Der älteren Dame die Einkäufe in die Wohnung tragen? Logisch, man hat sie doch schon oft gesehen, wie sie sich abmüht.
Es passiert ganz schleichend: Die große weite, unerschöpfliche Weddinger Welt wird irgendwann kleinteilig, vertraut und übersichtlich. Wie auf dem Dorf, nur ganz ohne Landlust. Aber der Unterschied ist: Es bleibt im Wedding jedem selbst überlassen, wie viel “Dorf” man zulässt und wertschätzt. Das ist die Wahlfreiheit im Vergleich zum echten Landleben: Man kann auch weiter in der Anonymität bleiben.
Und überhaupt – war der Wedding nicht sowieso die längste Zeit ein Dorf?
Ein schöner Bericht, danke Joachim!