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Großes Dorf Wedding

8. Mai 2020
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Schwedenhaus in der Gartenarbeitsschule Wedding
Im SUZ Mit­te an der Scharnweberstraße

Der Wed­ding ist ein Umschlag­platz für vie­les – auch für vie­le Neu-Ber­li­ner. Für vie­le ist unser Stadt­teil tra­di­tio­nell erst eimal nur ein Ort des Ankom­mens, oft nur für eine Über­gangs­zeit, bis man sich beruf­lich und fami­li­är eta­bliert und ein end­gül­ti­ges Zuhau­se in einem ande­ren Teil Ber­lins gefun­den hat. Man muss nur ein­mal das Buch „Wed­ding“ von Horst Evers lesen. Neben den vie­len Neu-Wed­din­gern, die aus allen mög­li­chen Tei­len der Welt zu uns migriert sind, ist unser Stadt­teil oft auch ein Ein­gangs­tor für Zuge­zo­ge­ne aus ande­ren Tei­len Deutsch­lands. Wenn sie sich hier dau­er­haft nie­der­las­sen (und immer mehr tun das aus frei­en Stü­cken), wis­sen sie um die Vor­tei­le des Lebens im Wed­ding. Und mer­ken spä­ter: Die Kieze sind auch nur vie­le gro­ße Dörfer.

Sie bringen das Land in die Stadt

Graf­fi­ti in der Koloniestraße

Die Wenigs­ten, die hier ankom­men, haben vor­her in einer gro­ßen Stadt gelebt. Im Gegen­teil, vie­le dürf­ten aus den für Deutsch­land so typi­schen Klein- und Mit­tel­städ­ten kom­men oder vom plat­ten Land.

Irgend­wann lässt bei fast jedem die Fas­zi­na­ti­on für “die Groß­stadt” nach und sie ver­liert den Reiz des Neu­en. Einen Pro­mi auf der Stra­ße gese­hen, na und? Die gan­ze Nacht über fah­ren Bus­se – klar, war das mal anders? Mei­ne tür­ki­schen Nach­barn vom glei­chen Stock­werk? Habe ich schon mal gese­hen, aber noch nie län­ger mit ihnen gespro­chen – war­um auch?

Aber auch der frü­he­re Dorf­be­woh­ner lernt, Leu­te nicht anzu­star­ren, selbst wenn ihr Aus­se­hen außer­halb der gelern­ten Norm ist, ande­re Lebens­sti­le und Ansich­ten nicht nur zu akzep­tie­ren, son­dern als völ­lig nor­mal anzu­se­hen. Com­mu­ni­ties aller Kul­tu­ren, Spra­chen und Reli­gio­nen leben im Wed­ding oft neben­ein­an­der her, und doch tei­len sich die meis­ten die­sen Stadt­teil auf Augen­hö­he – egal ob alt­ein­ge­ses­sen oder nicht. Das emp­fin­den eini­ge Weni­ge als Bedro­hung, vie­le als eine gewis­se Frei­heit, letzt­lich ist es eine Berei­che­rung des eige­nen Horizonts.

Parcour-Sportler an einem Verkehrsschild
Foto: Paul Alpha

Irgend­wann haben die meis­ten zuge­zo­ge­nen Wed­din­ger ihre ers­te Woh­nung auf­ge­ge­ben und sind geblie­ben, trotz der Hass­lie­be, die man nor­ma­ler­wei­se gegen die vie­len Nach­tei­le des Wed­din­ger Groß­stadt­le­bens ent­wi­ckelt hat. Der Müll auf den Stra­ßen ist ärger­lich, aber die Stra­ße fegen – wie ich als Dorf­kind – muss auch nicht mehr sein. Man erin­nert sich noch dun­kel an das wenig auf­re­gen­de Dorf­le­ben, wo man stän­dig unter sozia­ler Kon­trol­le stand. Und dann wird mir klar, dass ich dahin nicht mehr zurück­möch­te. Unglaub­lich gut sor­tier­te tür­ki­sche Gemü­se­märk­te, Geschäf­te, die spät­abends auf haben, ein lege­rer Klei­dungs­stil, der nie­man­den auf­regt – die­se Wed­din­ger Annehm­lich­kei­ten möch­te man irgend­wann nicht mehr missen.

Bekannte Gesichter stören nicht mehr

Beet im Gemeinschaftsgarten Himmelbeet in der Ruheplatzstraße 12. Foto: Hensel
Im Him­mel­beet Foto: Hensel

Je län­ger man in sei­nem Kiez im Wed­ding und Gesund­brun­nen lebt, des­to weni­ger kommt einem die­ser dicht­be­sie­del­te Stadt­teil, der selbst schon die Ein­woh­ner­zahl einer Stadt wie sagen wir Saar­brü­cken hat, wie ein anony­mer Groß­stadt­dschun­gel vor. Die Sehn­sucht nach einem Gar­ten, der eige­nen Par­zel­le, wird grö­ßer. Gut, dass es Gemein­schafts­gär­ten und Klein­gar­ten­ko­lo­nien gibt!

Und trifft man nicht immer die glei­chen Mit­men­schen beim Bäcker, in der Kiez­bar und im Super­markt? Was man auf dem Dorf noch zutiefst gehasst hat, stört einen auf ein­mal nicht mehr. In den Stra­ßen­blocks um mich her­um woh­nen auch nur 1.000 Men­schen? Es müs­sen ja nicht alle anony­me Unbe­kann­te sein. Und dann ertappt man sich: Man­che Gesich­ter sieht man immer wie­der, bis man sich zu grü­ßen beginnt. Den Nach­barn Werk­zeug lei­hen? Klar, war­um nicht, man weiß ja, wo er wohnt. Der älte­ren Dame die Ein­käu­fe in die Woh­nung tra­gen? Logisch, man hat sie doch schon oft gese­hen, wie sie sich abmüht.

Kolonistenhaus
Kolo­nie­stra­ße

Es pas­siert ganz schlei­chend: Die gro­ße wei­te, uner­schöpf­li­che Wed­din­ger Welt wird irgend­wann klein­tei­lig, ver­traut und über­sicht­lich. Wie auf dem Dorf, nur ganz ohne Land­lust. Aber der Unter­schied ist: Es bleibt im Wed­ding jedem selbst über­las­sen, wie viel “Dorf” man zulässt und wert­schätzt. Das ist die Wahl­frei­heit im Ver­gleich zum ech­ten Land­le­ben: Man kann auch wei­ter in der Anony­mi­tät bleiben.

Und über­haupt – war der Wed­ding nicht sowie­so die längs­te Zeit ein Dorf?

Joachim Faust

hat 2011 den Blog gegründet. Heute leitet er das Projekt Weddingweiser. Mag die Ortsteile Wedding und Gesundbrunnen gleichermaßen.

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