Immer am 3. Sonnabend im Monat pünktlich um 20 Uhr wird im „Kamine und Wein“ vorgelesen. Die Lesebühne Amygdala tritt seit mehr als zwei Jahren in der Prinzenallee 58 auf, das nächste Mal am Samstag (18. Juni). Lesebühnenautor Holger Haak gibt mit diesem Text über einen unfreiwilligen Ausflug zur Post in der Müllerstraße einen Eindruck, was die Zuschauer bei einem Lesebühnenabend erwartet.
“Ich habe schlechte Laune! Ich stehe bei der Post in der Müllerstraße in einer Wartegemeinschaft, welche langläufig aufgrund ihrer sich schlängelnden und länglichen Form auch als Schlange bekannt ist. Ich stehe dort an! Mit einem gelben Zettel in der Hand. Eine Benachrichtigung, dass ich meine Sendung abholen darf, weil ein Bote mal wieder zu faul war, die Stufen bis zu uns ins Dachgeschoß zu nehmen.
Mit dieser Benachrichtigung und zugleich Abholschein in einem stehe ich in einer Schlange an einem Schalter an, den ich von meiner Warte aus noch nicht mal sehen, geschweige denn vermuten kann. Es ist also nicht wirklich sicher, dass ich tatsächlich an einem Schalter anstehe. Vielleicht wollen die vielen Leute hier ja auch nur eine Wohnung im neuen Trendbezirk Wedding besichtigen. Genau. Das ist es. Die wollen gar keine Briefmarken kaufen. Dafür gibt es ja schließlich auch Automaten. Automaten, die kein vernünftiger Mensch mit Abitur und Studium ohne weitere Zusatzausbildung bedienen kann.
Also stellt man sich an der Schlange in der Post an. Und hat am Ende durch Zufall eine Wohnung im Wedding bekommen. Dabei brauchte man doch nur eine Briefmarke für die Postkarte nach Hause. „Urlaub schön. Essen Gut. Stadt Berlin groß. Aber kein Flughafen. Morgen mit Bahn nach Frankfurt. Main, nicht Oder! Wollen doch mit Flugzeug heim.“
Und jetzt hat der Neuling eine Wohnung in Berlins Mitte am Hacken. Nur sieht er diese nicht. Weil er ja jetzt gerade bei der Post in der Schlange steht. Er braucht nämlich Briefmarken für die Briefe nach Hause, um all seine Leute zu informieren, wie geil es hier in Berlin sei. So modern! Die haben da sogar Briefmarkenautomaten, die keine Sau kapiert. Das schreibt der dann.
Woher ich das weiß? Ich weiß das, weil dieser Typ nämlich gerade vor mir in der Schlange bei der Post steht und genau das in seinem Facebook-Profil postet. Das tut er mit und auf seinem iPad, welches er so vor sich hält, dass sogar ich mich, der hinter ihm steht und über seine Schulter guckt, darin spiegeln könnte. Könnte! Wenn es ausgeschaltet und schwarz wäre. Stattdessen kann und muss ich alles lesen, was er darauf mit patschenden Fettfingern eingibt. In Schriftgröße 196!
Mitunter macht er auch schöne Rechtschreibfehler. Das hebt meine Stimmung zwischenzeitlich ein wenig. Ich muss an die lustige Postkarte von neulich denken: „Wir essen Opa! – Kommas können Leben retten.“ Und ich frag mich, warum er denn keine E‑Mails schickt statt der Briefe. Es macht Blöb. Ich stell mich auf meine Zehenspitzen, um besser über seine Schulter gucken zu können. Er hat einen neuen Kommentar unter seinem Posting: „Warum schickste denn keine E‑Mails statt der Briefe?“ Hach, fühl ich mich gerade gut. Auch solch kleine Bestätigungen sind Labsal für die Psyche.
Nun wird es spannend. Wie wird er wohl antworten? Er will was auf die Scheibe vor ihm patschen, doch ist er sogleich, genau wie ich selbst, abgelenkt, weil es hinter uns ein wenig unruhig wird. Und da bemerken wir auch schon den Grund für die Unruhe. Eine Frau prescht mit entschlossenem Gesichtsausdruck an uns und der Warteschlange vorbei Richtung Verkaufstresen. Ach, kiek ma da. Da ist tatsächlich so etwas wie ein Schalter. Davor ein gespanntes Absperrband. Hinter dem Tresen steht ein Männlein mit blauer Weste, die offiziell wirkt und bedient offensichtlich gerade einen Kunden, welcher vor dem Tresen, aber von uns aus gesehen schon hinter dem Absperrband steht. Die Frau macht einen kleinen Bogen um einen Poller mit dem Absperrband und steht nun quasi auf gleicher Höhe wie der Kunde. Sie redet auf den Postangestellten ein. Dieser hört zu. In unserer Wartegemeinschaft macht sich eine aggressive Stimmung breit. Er wird sie doch nicht jetzt etwa vorziehen? Wenn er das macht, ja dann… Dann ist er fällig. Aber sowas von!
Als die Frau mit ihrem Psalm fertig zu sein scheint, wird es schlagartig still im Raum. Der Postler scheint kurz zu uns herüber zu schauen und abzuwägen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon voraus, was passieren wird. In Anbetracht der Bestimmtheit dieser Frau, denkt er, er entschiede sich für das kleinere Übel und nimmt mit einem kleinen Nicken und einer Zustimmung ihren kleinen Auftrag entgegen. Das ist das Signal für den Mob, welcher die Wartegemeinschaft spontan auflöst und sich geballt in voller Mannesstärke auf die beiden wirft. Mit Paketklebeband aus dem McPapershop-Regal werden die beiden gefesselt und geknebelt und dann mit Heftklammern an die Wand getackert. Mit Kugelschreiberminen darf dann jeder Mal auf diese menschlichen Dart-Scheiben werfen. Nebenbei wird die Filiale komplett verwüstet. Ein Briefmarkenautomat wird gesprengt. Erst die herbeigerufene Polizei mit drei Mannschaftswagen, Warnschüssen und Pfefferspray kann die wildgewordene Meute auseinandertreiben und die beiden vor dem Äußersten bewahren. Das wird schön! Ich freu mich drauf!
Tatsächlich geschieht dann allerdings etwas anderes. Mit einer kurzen Geste in die Richtung, in welcher in weiter und unbestimmter Ferne das Ende der Schlange zu vermuten ist, und einem Schulterzucken mit Seitenblick zu uns, erteilt er der Frau und ihrem Anliegen offensichtlich eine Absage. Diese rauscht mit einem nun puterrot gewordenen Gesicht an uns vorbei. „Unverschämtheit!“, bricht es dabei aus ihr heraus. Recht hat sie, denk’ ich mir und hab spontan wieder schlechte Laune. Sie meint zwar wohl eher die Absage des Postlers. Ich allerdings finde es wirklich unverschämt, uns hier den Spaß zu nehmen, den wir gehabt hätten. So eine kleine Rangelei – unter Nachbarn – das fördert doch das Zusammengehörigkeitsgefühl und hebt die Stimmung.”
Lesebühne Amygdala
Holger Haak hat diesen Text für die Lesebühne Amygdala geschrieben, der er angehört. Die Lesebühne feiert in diesem Jahr ihr fünfjähriges Bestehen. Den ersten Auftritt hatte sie im Mai 2011 im Berlin-Carré Artroom am Alexanderplatz. Vor mehr als zwei Jahren sind die Vorleser in den Soldiner Kiez umgezogen. Sie treten immer am 3. Sonnabend im Monat pünktlich um 20 Uhr im „Kamine und Wein“ in der Prinzenallee 58 auf. Im Sommer wird die erste Anthologie der Lesebühne Amygdala veröffentlicht. Im Internet ist die Lesebühne unter www.amygdala-berlin.de zu finden. Die nächsten Termine im „Kamine und Wein“ finden am 18. Juni, 16. Juli und 20. August jeweils um 20 Uhr statt.
Der Text ist in der Mai-Ausgabe des Kiezmagazins Soldiner erschienen. Wir sind Kooperationspartner der Bürgerredaktion, die das Magazin ehrenamtlich vier Mal im Jahr herausgibt. Autor dieses Textes ist Holger Haak von der Lesebühne Amygdala. Mehr über die Soldiner-Kiezredaktion unter www.dersoldiner.wordpress.com.