Wedding als Industriestandort, als Ansammlung von Mietskasernen, Friedhöfen und Krankenhäusern, das hat wohl jeder schon einmal gehört. Aber der Wedding soll ein Standort für Forschung sein – und das schon seit über 130 Jahren? Das wissen nicht viele. Wir stellen euch zwei, auch baulich sehr beeindruckende Orte vor, in denen im Wedding geforscht wird.
v.l. Tor an der Seestr., Institut für Gärungsgewerbe (Straße und Hof), Detail eines preußischen Adlers
Der preußische Staat hatte großes Interesse daran, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern und zu verbessern. Ein Landstreifen des Gutsbezirks Tegel, der an die Stadtgrenze Berlins reichte, wurde vom Staat kostenlos für die Ansiedlung von Instituten zur Verfügung gestellt. An der Seestraße siedelte sich 1890 zunächst die Versuchs- und Lehrbrauerei (VLB) an. Hier wurde der deutsche Brauernachwuchs ausgebildet. Die VLB wurde 1897 in das Institut für Gärungsgewerbe und Stärkefabrikation integriert. Bekannt war sie später vor allem unter dem Namen Hochschulbrauerei, die bis 1981 existierte und zeitweise 50 Gaststätten mit Bier belieferte. Im ehemaligen Sudhaus befinden sich heute Labore des Deutschen Herzzentrums. Der Festsaal der Hochschulbrauerei, in dem zahlreiche Veranstaltungen stattfanden, wurde 1956 nach Kriegszerstörungen wieder aufgebaut. Nach Schließung der Brauerei wurde er als Joe am Wedding noch für einige Jahre ein wichtiger Standort im Berliner Nachtleben.
Quelle: VLB-berlin.org (links), Wikimedia Commons / dtuk (rechts)
1901 wurde im hinteren Bereich der Institute die große Ausstellungshalle eröffnet, die im 2. Weltkrieg zerstört wurde. Dennoch ist die pompöse Architektur der Kaiserzeit heute noch an den erhalten gebliebenen Forschungsgebäuden ablesbar. Dazu gehörten auch die Versuchs- und Lehranstalt für Spirituosenfabrikation und Fermentstechnologie, die Versuchsanstalt der Hefeindustrie, das Institut für Lebensmittelwissenschaft und Biotechnologie, die Preußische Spirituosenmanufaktur und das Deutsche Herzzentrum. Unmittelbar in der Nachbarschaft siedelten sich später das für die Erforschung von Infektionskrankheiten zuständige Robert-Koch-Institut (mit einem 2015 eingeweihten Hochsicherheitslabor) und das Institut für Zuckerindustrie an. Letzteres spielt eine große Rolle, weil in Berlin 1747 die Gewinnung von Zucker aus Rüben entdeckt wurde. Der Arbeit des Instituts ist es letztlich zu verdanken, dass Zucker vom Luxusgut zum Grundnahrungsmittel wurde!
Wichtigster Nachbar der Wissenschaftsstadt an der Seestraße, das muss man keinem Weddinger erklären, ist aber natürlich das Virchow-Klinikum (heute Teil der Charité) – eine 1906 eingeweihte, riesige Krankenhausstadt im Grünen.
v.l.: Neubau Forschungsgebäude, Sudhaus der VLB,, Zuckerinstitut
Nicht nur eine glorreiche Vergangenheit ist an der Seestraße Ecke Amrumer Straße zu finden. Auch die Zukunft spielt hier eine große Rolle. 34 Millionen Euro von Bund und Land wurden in einen neuen Bio- und Medizintechnologie-Campus investiert. Dessen Kernstück wird das Wissenschaftshaus „Der Simulierte Mensch“ (Si-M) sein. Dort sollen Technologien entwickelt werden, um menschliches Gewebe per 3D-Biodruck herzustellen und auf Chips zu simulieren. Ziel sind neue Krebs- und Infektionstherapien.
Ganz neu im Wissenschaftsviertel ist übrigens die Theke, wo ihr auch etwas essen und trinken könnt.
v.l. Einfahrt zu Seestr. 13, Fassadendetails des Instituts für Gärungstechnik
Heute gehören drei Gebäude in dem Gebiet zur Technischen Universität (TU) Berlin, wo zur Getreideverarbeitung, dem Gärungsgewerbe und der Zuckerindustrie gelehrt und geforscht wird.
Doch nicht nur in diesen zu Forschungszwecken erbauten Institutsgebäuden ist die Hochschule untergebracht. Auch in dem riesigen AEG-Komplex mit den beiden Standorten Ackerstraße und Quartier am Humboldthain befinden sich Außenstellen der TU, darunter auch die Brau- und Getränketechnologie. Dieses beeindruckende Ensemble stand früher für harte körperliche Arbeit in der Industrie. Schon 1887 war die Allgemeine Elektricitätsgesellschaft in der Ackerstraße am Gartenplatz mit einer Fabrik vertreten, doch der aus dem Schlacht- und Viehhof am Humboldthain entstandene Fabrikkomplex entwickelte sich bis 1912 zu einer riesigen Produktionsstätte von 116 000 qm. In früheren Wohnhäusern, in neu errichteten mehrstöckigen Fabrikgebäuden und großen Produktionshallen wurde Schalt- und Messinstrumente, Kleinmotoren, Transformatoren, Antriebsmaschinen, Turbinen und Kabel hergestellt. 14.000 Menschen waren zu Spitzenzeiten dort beschäftigt. Sogar eine U-Bahn wurde zwischen der Ackerstraße und der Brunnenstraße gebaut, um die beiden Werksteile unterirdisch auf der Schiene zu verbinden. Heute ist der schienenlose Tunnel im Rahmen von Führungen der Berliner Unterwelten zu besichtigen.
v.l.: Standort Ackerstr., Montagehalle mit Glasdach, Montagehalle
Nachdem 1982/83 die insolvente AEG die Produktion einstellte, schien das letzte Stündlein der Fabrik geschlagen zu haben. Es wurden Teile der Fabrik zur Brunnenstraße hin abgerissen. Jedoch wurden die architektonisch wertvolle Maschinenhalle von Peter Behrens und einige an der Volta- und Hussitenstraße gelegene Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Dort siedelten sich später verschiedene universitäte Einrichtungen, das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration sowie Medienhäuser wie die Deutsche Welle an. Im zur Brunnenstraße gelegenen Areal ist bis auf das Beamtentor, das 1987 von Architekt Franz Schwechten erbaut wurde, nichts mehr von der AEG übrig geblieben. Moderne Gebäude, darunter die ehemalige Nixdorf-Computerfabrik mit der charakteristischen Glasfassade, aber auch Bankverwaltungen, geben dem einstigen Industriestandort ein nüchternes, modernes Gepräge.
v.l.: Fabrik, Laborgebäude, Fabrik
Noch immer ist der Besuch des AEG-Geländes ausgesprochen beeindruckend. Allein die Montagehalle für Großmaschinen an der Ecke Hussitenstraße und Voltastraße (1911/12 gebaut, 1928 verlängert), die Kleinmotorenfabrik mit ihrer 189 Meter langen Straßenfront aus halbrunden Säulen und die vom begehbaren Hof sichtbaren Fabrikgebäude aus Backstein gehören zu den herausragendsten Monumenten der deutschen Industriegeschichte.
v.l.: Montagehalle Hussitenstr., Kleinmotorenfabrik Voltastr., Beamtentor
Um sie nicht unerwähnt zu lassen, ist natürlich auch die Berliner Hochschule für Technik (BHT) ein wichtiger Forschungsstandort im Brüsseler Kiez.
Die Geschichte des Wedding wäre ohne die Industrie sicher anders verlaufen. Aber auch der weit weniger bekannte Forschungsstandort Wedding, der viel mit der Industrie zu tun hat, ist in vielerlei Hinsicht bedeutender als die meisten oberflächlichen Wedding-Kenner vermuten. Vielleicht sollten sich die Weddinger viel mehr auf die wichtige Rolle ihres Stadtteils für Forschung und Wissenschaft besinnen?