Mastodon

Fluchttunnel entdeckt – und weg:
Keine Zeit für Unterwelten

21. Juni 2023

Wohl­mei­nen­de Sonn­tags­re­den zur DDR-Geschich­te waren aller­or­ten am 17. Juni zu hören, der Auf­stand der Arbei­ter vor 70 Jah­ren wur­de wort­reich gewür­digt. Eben­falls im Juni: Ein bei Bau­ar­bei­ten in der Ber­nau­er Stra­ße ent­deck­ter Flucht­tun­nel aus DDR-Zei­ten wird nicht so doku­men­tiert, wie es mög­lich gewe­sen wäre. Diet­mar Arnold, Vor­sit­zen­der des Ber­li­ner Unter­wel­ten e.V., sagt, er sei rich­tig sauer. 

Blick in den Flucht­tun­nel Ber­nau­er Stra­ße. Foto: Lan­des­denk­mal­amt, Mar­lit Seeger.

Heu­te heißt es Dienst nach Vor­schrift, zu DDR-Zei­ten sag­te man: Es geht alles sei­nen sozia­lis­ti­schen Gang. An die­se Rede­wen­dung erin­nert der Umgang mit dem frisch ent­deck­ten Flucht­tun­nel in der Ber­nau­er Stra­ße. Die Mög­lich­keit, ihn zu ver­mes­sen, zu foto­gra­fie­ren und kom­plett zu erfas­sen, wur­de ver­passt. Alles rich­tig gemacht, sagen die einen zu dem Fall. Ver­ta­ne Chan­ce, kom­men­tie­ren die ande­ren verbittert. 

Bau­herr auf dem Grund­stück Ber­nau­er Stra­ße 26 bis 30 ist die lan­des­ei­ge­ne Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft Mit­te (WBM). Sie teilt mit: “Die Ent­schei­dung, den his­to­ri­schen Tun­nel zu bewah­ren, spie­gelt unser Enga­ge­ment für den Schutz und die Aner­ken­nung des kul­tu­rel­len Erbes wider.” Bewah­ren heißt an die­ser Stel­le, “den Tun­nel nicht zu zer­stö­ren oder mit Beton auf­zu­fül­len”. Statt­des­sen lässt die WBM den Tun­nel mit Flüs­sig­bo­den ver­fül­len. Das Lan­des­denk­mal­amt ist mit die­sem Vor­ge­hen ein­ver­stan­den. Denn Flüs­sig­bo­den sei rever­si­bel, wie das Amt mit­teilt. “Damit ist der Tun­nel gegen Ein­sturz oder auch gegen unkon­trol­liert ein­drin­gen­des Schich­ten­was­ser geschützt”, schreibt das Landesdenkmalamt.

Unterwelten sprechen von vertaner Chance

Diet­mar Arnold ist alles ande­re als glück­lich, er ist sehr ver­är­gert. Ihn regt die Eile der WBM auf. Bevor der Bau­herr den Flucht­tun­nel ver­fül­len ließ, hät­te er den Fund zumin­dest gern fach­ge­recht doku­men­tiert, Mess­da­ten gesi­chert und Fotos vom Inne­ren gemacht. Das hät­te nicht lan­ge gedau­ert, sagt der Vor­sit­zen­de der Ber­li­ner Unter­wel­ten. Falls die WBM Angst vor Ver­zö­ge­run­gen gehabt haben soll­te, so wären die­se mini­mal gewe­sen, sagt er. Die WBM sagt dage­gen, dass auf der Bau­stel­le eine archäo­lo­gi­sche Fach­fir­ma tätig gewe­sen sei. Dabei han­delt es sich um das Büro Archaeo­fakt Döh­ner, Usch­mann und Part­ner GbR. 

Bild­un­ter­schrift: Ein­gang zum frei­ge­leg­ten Flucht­tun­nel. Fotos: Lan­des­denk­mal­amt, Mar­lit Seeger

Diet­mar Arnold sagt, er hät­te umfang­rei­che­re Ergeb­nis­se lie­fern kön­nen als die, die bekannt gewor­de­nen sind. Denn er wäre mit wei­te­ren aus­ge­wie­se­nen Exper­ten in den Flucht­tun­nel hin­ein­ge­gan­gen. Das Büro Archaeo­fakt hat den Tun­nel ledig­lich vom Ein­gang her begut­ach­tet. Das sagt das Lan­des­denk­mal­amt. Diet­mar Arnold ver­weist dar­auf, dass er und Archäo­lo­gen sei­nes Ver­eins Erfah­rung mit unge­si­cher­ten Bau­wer­ken unter der Erde haben. Man müs­se wis­sen, was man tut und wie man sich dort bewegt. Der Ber­li­ner Unter­wel­ten e.V. sei dar­auf spe­zia­li­siert, unbe­kann­te Anla­gen zu erschlie­ßen. Das soll­te nach mehr als 25 Jah­ren des Ver­eins in der Stadt bekannt sein. 

Selbst als die WBM eine Abdeck­plat­te aus Beton gegos­sen hat­te, sei der Tun­nel für eine umfas­sen­de Doku­men­ta­ti­on noch nicht ver­lo­ren gewe­sen, so Diet­mar Arnold. Einen 3D-Scan, ein Befah­ren mit Robo­tern und die Suche nach Fund­stü­cken sei­en bis zur Ver­fül­lung mit dem Flüs­sig­bo­den mög­lich gewe­sen. “Ich ver­ste­he, dass das Lan­des­denk­mal­amt nicht anord­nen kann, in einen sol­chen Tun­nel zu gehen. Wir hat­ten ange­bo­ten, auf eige­ne Kos­ten und auf eige­nes Risi­ko den Tun­nel zu doku­men­tie­ren”, sagt Diet­mar Arnold und ver­weist auf ande­re Flucht­tun­nel, die die Ber­li­ner Unter­wel­ten bereits erfasst haben. Fakt ist, dass der gemein­nüt­zi­ge Ver­ein bereits an zahl­rei­chen ande­ren Orten, Herz­blut und Enga­ge­ment bewie­sen hat. Der WBM scheint den­noch das Ver­trau­en zu feh­len, sie teilt zu dem Ange­bot knapp mit: “Eine Bege­hung des Tun­nels ist aus tech­ni­schen Grün­den nicht möglich.”

Auf die Fra­ge, was aus Sicht des Lan­des­denk­mal­am­tes mit der durch­ge­führ­ten Doku­men­ta­ti­on an Erkennt­nis­sen gewon­nen wur­de, ant­wor­tet die Pres­se­stel­le des Amtes: “Der Tun­nel lag in einer Tie­fe von cir­ca fünf Metern unter der heu­ti­gen Ober­flä­che, er ist als schma­ler Kriech­gang gegra­ben und ver­mut­lich ohne durch­ge­hen­de Aus­stei­fung in den har­ten anste­hen­den Lehm gegra­ben. Sein Ver­lauf kann im Wesent­li­chen rekon­stru­iert werden.”

Die Bernauer ist die Straße der Fluchttunnel

Grund­stein­le­gung in der Ber­nau­er Stra­ße. Hier befin­det sich der Tun­nel. Fotos: And­rei Schnell

Dass unter der Bau­stel­le Ber­nau­er Stra­ße 26 bis 30 ein Flucht­tun­nel lie­gen muss, das wuss­te die lan­des­ei­ge­ne Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft Mit­te (WBM) schon vor Bau­be­ginn. Des­halb sei­en Mes­sun­gen ver­an­lasst wor­den, deren Ergeb­nis­se sogar auf einen mög­li­chen zwei­ten Tun­nel hin­ge­wie­sen hät­ten. So war es am Frei­tag (16.6.) bei der Grund­stein­le­gung auf der Bau­stel­le von Mit­ar­bei­tern der WBM zu hören. Aller­dings habe sich die Exis­tenz eines zwei­ten Tun­nels nicht bestä­tigt, sagt die Pres­se­stel­le des Lan­des­denk­mal­am­tes. Die Ver­ant­wort­li­chen auf der Bau­stel­le sind davon aus­ge­gan­gen, den Flucht­tun­nel nicht nahe­zu­kom­men. Die Anoma­lien sei­en tief im Boden ange­zeigt wor­den. Für sie sei es eine Über­ra­schung gewe­sen, als der Tun­nel beim Ver­fül­len eines gemau­er­ten Ring­brun­nens sicht­bar wurde.

Der in der Ber­nau­er Stra­ße ent­deck­te Tun­nel ver­lief zwi­schen der Haus­num­mer 80 und der Schön­hol­zer Stra­ße 18 bis 22. Er wur­de im Jahr 1970 von Wed­din­ger Sei­te aus vor­ge­trie­ben. Sechs Män­ner gru­ben, um Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge aus der DDR her­aus­zu­ho­len. Die Unter­drü­ckungs­po­li­zei der DDR, die Sta­si, setz­te Son­den ein, um anhand von Geräu­schen die Flucht­hel­fer zu orten. Am Ende schei­ter­te der Flucht­ver­such an Ver­rat. Das Sta­si-Unter­la­gen-Archiv beim Bun­des­ar­chiv beschreibt auf ihren Web­sei­ten den Fall aus dem Jahr 1970 anschaulich.

Fast ein Dut­zend der heu­te nach­weis­ba­ren 75 Flucht­tun­nel­pro­jek­te in Ber­lin wur­den in der Nähe der Ber­nau­er Stra­ße gegra­ben. Man­che von Ost­ber­lin aus, eini­ge vom Wed­ding aus. Grund für die Häu­fung ist neben dem sta­bi­len leh­mi­gen Mer­gel­bo­den, dass das Grund­was­ser tief liegt und des­halb den Tun­nel­bau nicht behin­dert. Der berühm­te Tun­nel 29, an den eine Gedenk­ta­fel in der Schön­hol­zer Stra­ße 7 erin­nert, befin­det sich unweit des jetzt ent­deck­ten Tun­nels. Über den Tun­nel 29 hat der Sen­der Sat.1 im Jahr 2001 einen Zwei­tei­ler mit Hei­no Ferch gedreht.

Andrei Schnell

Meine Feinde besitzen ein Stück der Wahrheit, das mir fehlt.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

MastodonWeddingweiser auf Mastodon
@[email protected]

Wedding, der Newsletter. 1 x pro Woche



Unterstützen

nachoben

Auch interessant?