Zwischen Acker- und Gartenstraße liegt die Ernst-Reuter-Siedlung. Der Name erinnert an den charismatischen Bürgermeister Westberlins, der wie fast kein anderer die Nachkriegs- und Aufbauzeit der Stadt prägte.
Eine Büste mitten in einem baumumstandenen Rondell zeigt ihn, den Namenspatron der Ernst-Reuter-Siedlung. An diesen Mann erinnern, heißt an seine aufrüttelnde Rede zu Zeiten der Berlin-Blockade erinnern. „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“ – dieser Satz ging in die Geschichte der deutschen Teilung ein. Als Reuter die Rede hielt, war er 59 Jahre alt und der demokratisch gewählte Stadtrat Westberlins (mehr dazu unten). Das Bauprojekt „Thomashof“, heute die Ernst-Reuter-Siedlung, war sein Projekt:
Er wollte bezahlbare Wohnungen mit Lebensqualität schaffen. Hier, zwischen Ackerstraße und Gartenstraße, befand sich einst der berüchtigte Meyers Hof, ein Wohn- und Gewerbehof mit neun Hinterhöfen, in dem zu heftigsten Zeiten bis zu 2.000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen lebten. Auf dem Nachbargrundstück in der Ackerstraße produzierte Keyling & Söhne, mit späterem Namen Eisengießer AG, Dauerbrandöfen und andere Eisenteile in großem Stil. Im Krieg wurde die Eisengießerei durch die Bombenangriffe fast vollständig zerstört, und von dem ohnehin baufälligen Meyers Hof standen nur noch die Vorderhäuser.
Das zerstörte Nachkriegsberlin brauchte dringend Wohnraum. Im Osten, im russischen Sektor, wuchs 1950 die Vorzeigebaustelle der Stalinallee – heute Karl-Marx-Allee und Frankfurter Allee. Im Westen, im französischen Sektor, bot sich als Aushängeschild das relativ große Areal der alten Eisengießerei für eine prestigeträchtige Neubebauung an. Entzerren, entsiedeln, begrünen – so könnte man die Idee salopp zusammenfassen.
1953 bis 1955 baute die Thomashof-Grundstücks-AG im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus 422 Wohnungen, mit Fahrstuhl und Müllschluckern, Balkons und kleinen Gärten vor den Erdgeschosswohnungen. Man wollte einen luxuriösen Gegenentwurf zu dem sonst von Mietskasernen geprägten Kiez schaffen. Zur feierlichen Einweihung der Siedlung am 18. Juli 1954 erschien sogar der damalige Bundespräsident Theodor Heuss. Ernst Reuter war nur zehn Monate zuvor verstorben. Ihm zu Ehren erhielt der ursprüngliche „Thomashof“ den Namen Ernst-Reuter-Siedlung.
Hintergründe der Berlin-Rede
Am 6. September 1948 verhinderten bestellte kommunistische Demonstranten zum dritten Mal innerhalb von zwei Wochen eine Sitzung der Berliner Stadtverordneten. Das Stadtparlament war den Sozialisten um Walter Ulbricht ein Dorn im Auge. Denn die SED hatte 1946 nur 19,8 Prozent der Wählerstimmen erhalten, die SPD, CDU und die liberale LDP dagegen viermal so viel. Um die Sprengung des Berliner Parlaments durch die SED zu verhindern, riefen die demokratischen Parteien für den 9. September 1948 zu einer Großkundgebung im britischen Sektor auf. Ernst Reuter war zu dieser Zeit ein gewöhnlicher Stadtrat. Er sprach an diesem Tag ohne Manuskript, lediglich ein paar Notizen hatte er vor sich. Als brillanter Rhetoriker redete er sich selbst in Rage. Dabei entstand sein berühmtester Satz: „Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“
Ernst Rudolf Johannes Reuter
geboren: 29. Juli 1889 in Apenrade, Provinz Schleswig-Holstein
gestorben: 29. September 1953 in Westberlin
Von 1912 an gehörte Ernst Reuter der SPD an und betätigte sich für sie als Wanderredner und Journalist. Im 1. Weltkrieg geriet er in russische Kriegsgefangenschaft, trat 1919 in die KPD ein, die ihn aber 1922 wieder ausschloss. Zurück in der SPD wurde er 1926 Berliner Stadtrat für Verkehr und 1931 Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg. Nach Inhaftierung durch die Nationalsozialisten ging er 1935 mit seiner Familie ins Exil nach Ankara. Ende 1946 kehrte Reuter nach Berlin zurück und wurde Stadtrat für Verkehr und Versorgungsbetriebe. Seine Wahl zum Oberbürgermeister im Juni 1947 erkannte die sowjetische Besatzungsmacht nicht an. Nach der Spaltung der Stadt übte er sein Amt als Regierender Bürgermeister nur in den Westsektoren aus. Er setzte sich für die Gründung eines westdeutschen Staates ein und sorgte für eine enge Verknüpfung Westberlins mit der Bundesrepublik.
Text: Anke Kuhnecke, Fotos: Theresa Rüster
Der Text stammt aus dem Kiezmagazin brunnen. Das Heft erscheint vier Mal im Jahr und wird von einer ehrenamtlichen Bürgerredaktion gemacht.