Zu den herausragenden Figuren eines Berliner Stadtteils wie dem Wedding gehören nicht nur Menschen, die dort geboren sind oder den größten Teil ihres Lebens in ihm verbrachten. Beides war bei Georg Benjamin nicht der Fall. Er wurde am 10. September 1895 als zweiter Sohn großbürgerlicher jüdischer Eltern in der Villenkolonie Grunewald geboren. Sein Aufenthalt im Wedding erstreckte sich lediglich auf 13 entscheidende Jahre zwischen 1920 und der nationalsozialistischen Herrschaft 1933. Diese Zeit war die für Georg Benjamins persönliche und politische Identität ausschlaggebende Lebensphase. Hier gründete er eine Familie mit der späteren Justizministerin der DDR, Hilde Benjamin; hier wandelte er sich vom reformnahen Sozialmediziner und Kinderarzt zum Parteigänger der kommunistischen Bewegung in ihrem Weg von ihren revolutionären Anfängen zu der in der Stalinzeit allmählich einsetzenden bürokratischen Verhärtung. Dabei lag der Schwerpunkt seiner öffentlichen Tätigkeit im Wedding eindeutig auf der praktischen Arbeit als Kinder- und Schularzt sowie in der kommunalpolitischen Vertretung der KPD in Bezirksversammlung des Wedding und in gesundheitspolitischen Organisationen.
Wenn heute ähnliche Zuwanderungen bürgerlich geprägter Minderheiten in den Ortsteil Wedding des neu gebildeten Bezirks Berlin-Mitte geschehen, sind sie die Vorboten einer wie in vergleichbaren Bezirken allmählich einsetzenden Gentrifizierung. Die Träger des „bunten Wedding“ sind wie üblich Studenten, Künstler, Start-up-Einzelgänger und Kreative jeder Art. In den Zwanzigerjahren war der Wedding noch ein überwiegend proletarisches Wohngebiet. Der „rote Wedding“ lockte auch bürgerliche Besucher an, meist mit einer eher sozialtouristischen Motivation, die Georg Benjamin fremd blieb. Flaneure wie Alexander Graf Stenbock-Fermor und Franz Hessel machten bei ihren literarischen Stadterkundungen Abstecher in den proletarischen Wedding. Sie waren der Analyse der modernen Großstadt in Georg Benjamins Bruder Walter Benjamins Schriften näher als dem Versuch Georg Benjamins, durch seine Anwesenheit eine berufliche und politische Praxis zu begründen.
Schularzt im Wedding
Georg Benjamins wachsende Identifikation mit seinem Wahlbezirk Wedding vollzog sich in einigen Phasen. Zunächst war der Kontrast zwischen seinem bürgerlichem Habitus und seiner politischer Haltung noch deutlich. Benjamins erster Wohnort im neu gebauten Ledigenwohnheim am Brunnenplatz, neben dem Amtsgericht Wedding, ließ eine Verbindung akademischer Ausbildungsinteressen und der persönlichen Wahl eines proletarischen Umfelds zu. Denn in einer frühen Art teilnehmender Forschung verfasste Benjamin hier seine sozialmedizinische Doktorarbeit. Ganz in der Nähe befindet sich das Wohnhaus am Leopoldplatz, von dessen großem Vorderhauszimmer seine politische Verortung in der KPD und in der linken Opposition des Arbeitersamariterbunds erfolgte. Als sich Benjamins berufliche Position mit der Übernahme einer Schularztstelle im Bezirk Wedding stabilisiert und er 1926 Hilde Lange geheiratet hatte, zogen beide, die auch politisch kooperierten, in die neue Siedlung von Max Taut am Schillerpark. In der Periode der Intensivierung der politischen Kämpfe – gegen die Nazis und gegen die Sozialdemokraten – zog das Ehepaar aus der ruhigen Situation am Schillerpark in das Zentrum der sozialen Auseinandersetzungen in der Badstraße am Gesundbrunnen. In der gleichen Straße arbeitete Georg Benjamin auch in seiner ärztlichen Praxis, die er nach der Entfernung aus der Schularztstelle 1931 eröffnete.
Neben seiner starken Beanspruchung durch sein Schularztamt entfaltete Benjamin eine rege gesundheitspolitische Publikationstätigkeit in medizinischen Fachorganen und in populären sozialistischen Zeitschriften, darunter auch der Roten Fahne. Wie andere Ärzte war er an den Protesten gegen die verheerenden Auswirkungen des Abtreibungsparagraphen § 218 beteiligt, aber in einer für ihn typischen Weise auch durch illegale Eingriffe zugunsten Arbeiterfrauen. Er erhob auch Einspruch gegen die Anfänge der Euthanasieprojekte, an denen sein Doktorvater sich beteiligte. Vor allem jedoch galt sein Interesse den elenden Lebensbedingungen von Kindern in seiner Umgebung, die schwere gesundheitliche Schäden verursachten.
Überzeugter Kommunist
Georg Benjamin war eine sehr beliebte Person unter einen Patienten und Parteigenossen, die ihn oft als den „heiligen Georg“ bezeichneten, sei es wegen seiner häufig bewiesenen Hilfsbereitschaft, sei es spöttisch wegen seiner überzeugten Abstinenz von Alkohol und Tabak. Am unfreiwilligen Ende seiner Zeit im Wedding bewies er auffälligen Mut beim Hissen einer großen roten Fahne aus dem Fenster seiner Praxis vor den Wahlen des März 1933, vor den Augen von SA und Polizei. Bis zu seinem Tod im Stacheldraht des KZ Mauthausen war er zunächst mehrfach in Gefängnissen und Konzentrationslagern der Nazis, bei wiederholter Mitwirkung an Widerstandsaktionen der KPD. Nach seiner Verurteilung im Herbst 1936 nach der tausendfach angewandten Formel „Vorbereitung des Hochverrats” verbüßte er eine fast sechsjährige Gefangenschaft im Zuchthaus Brandenburg-Görden, bevor ihn die Gestapo zur Vernichtung nach Mauthausen überstellte. Das Schlussurteil der Brandenburger Gefängnisverwaltung stellte fest: „Die Strafe hat den Juden in keiner Weise beeinflußt.“
Eine im Kalten Krieg verbreitete und bis heute immer noch vertretene Variante der Totalitarismustheorie setzt die stalinistischen und nationalsozialistischen Regimes gleich. Dies soll meist einen strikten Antikommunismus abstützen. Solche Gleichsetzung berührte gelegentlich auch Georg Benjamins posthumen Ruf und seine Einschätzung als Widerstandskämpfer. Dies Motiv war schon früh nach Georg Benjamins Ermordung im KZ Mauthausen in der Vernichtung von Gedenktafeln für ihn auch im Bezirk Wedding. Ob man seine gelegentlich in der Korrespondenz mit seiner Frau begegnenden und eher schwachen Vorbehalte gegen die stalinistische Zurichtung der sowjetischen Politik anlässlich des Nichtangriffspaktes zwischen dem nationalsozialistischen Regierung und der UdSSR höher einschätzt oder seine übergreifende Leistung als bürgerlicher Unterstützer und Helfer der proletarischen Einwohner des Wedding in seinen verschiedenen Rollen, bleibt eine Frage der Deutungshoheit über seine Biographie und ihren historischen Kontext. Seine überragende Rolle war zweifellos die eines Kämpfers für die Schwachen, die im Elend durch Krankheit und Unterdrückung Bedrohten, der Kinder in Armut und der vom § 218 bedrückten Frauen. Diesen Zielen konnte sein Einsatz für die KPD und deren Nebenorganisationen nur punktuell dienlich sein, entwertet jedoch seine Lebensleistung nicht.
Autor: Bernd-Peter Lange
Georg Benjamin wurde vor 125 Jahren geboren.