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Ein Rentenexperte aus dem Wedding erzählt:
Engagiert bei der Rente und in der Kirche

3. Juli 2024
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Die Ren­ten­si­tua­ti­on in der Bevöl­ke­rung ist in gewis­ser Wei­se so viel­fäl­tig wie die eines Wohn­quar­tiers. Ich konn­te einen im Wed­ding ver­wur­zel­ten Ren­ten­ex­per­ten inter­view­en, der sich mit For­schungs­fra­gen der Alters­ren­te beruf­lich befass­te. Dr. Rein­hold Thie­de ist Wed­din­ger seit dem Beginn der 1980er Jah­re. Er hat mit mir auch über sein Ehren­amt bei der Kir­chen­ge­mein­de St. Joseph (Mül­lerstra­ße 161) gespro­chen und über wesent­li­che Beob­ach­tun­gen und Fra­gen zur Ren­ten­ent­wick­lung der ver­gan­ge­nen Jahrzehnte.

Wed­ding­wei­ser: Herr Dr. Thie­de, wie kamen Sie in den Wed­ding, und wie lan­ge leben Sie schon hier?

Herr Dr. Thie­de: Ich bin im Jahr 1983 hier­her gezo­gen und habe mich von Anfang an wohl­ge­fühlt. Mei­ne Frau und ich haben uns des­halb auch Ende der 90er Jah­re bewusst für die Anna-Lindh-Schu­le als staat­li­che Schu­le für unse­re Toch­ter ent­schie­den, da wir weder eine katho­li­sche noch eine pri­va­te Schu­le für unser Kind bevor­zu­gen woll­ten. Uns hat schon damals die Viel­falt des Wed­dings über­zeugt, schließ­lich hat das Schul­le­ben unse­rer Toch­ter ihr und uns einen bun­ten Bekann­ten­kreis gege­ben und uns teil­ha­ben lassen.

Wed­ding­wei­ser: Wie sehen Sie den Wed­ding heute?

Herr Dr. Thie­de: Ich mag nach wie vor die Viel­falt und das bun­te Leben hier. Die vie­len Restau­rants mit unter­schied­li­chen Küchen­tra­di­tio­nen, den Wed­ding­markt, das Prime­time-Thea­ter und so wei­ter. Oder auch die Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten, auch wenn die durch die Schlie­ßung des gro­ßes Real-Markts und von Kar­stadt lei­der klei­ner gewor­den sind.

Wed­ding­wei­ser: Sie enga­gie­ren sich lang­jäh­rig in der St. Joseph-Kir­che. Was ist Ihnen dort wichtig?

Herr Dr. Thie­de: Ich enga­gie­re ich seit mei­ner Jugend in der katho­li­schen Kir­che, war neu­lich auch auf dem 103. Katho­li­ken­tag in Erfurt. Tat­säch­lich ist mir wich­tig, dass die Kir­che nach drau­ßen geht zu den Men­schen, also nicht hin­ter den Kir­chen­mau­ern ver­bleibt. Nahe am Men­schen kann man direkt hel­fen, den Armen oder Bedürf­ti­gen eine Stüt­ze sein, oder manch­mal auch nur Ansprech­part­ner und ein­fach zuhö­ren. Die Bett­le­rin, die immer vor der Kir­chen­tür sitzt, haben wir ein­ge­la­den, zum Gemein­de­ca­fé in den Pfarr­saal zu kom­men – jetzt ist sie jeden Sonn­tag da. Wir hat­ten auch lan­ge eine Sup­pen­kü­che in St. Joseph, die lei­der ein­ge­stellt wur­de, weil die enga­gier­te Frau die Arbeit nicht mehr tra­gen konn­te und wir nicht genug Hel­fer hat­ten; die Räum­lich­kei­ten wer­den seit­her von einer Flücht­lings­fa­mi­lie genutzt.

Ein Gemein­de­mit­glied sag­te mir ein­mal: Es ist bes­ser sich zu ent­schul­di­gen als zu fra­gen. Will hei­ßen: Sich zu ent­schul­di­gen, wenn etwas nicht gut geklappt hat oder man kei­ne Geneh­mi­gung für sein Tun hat­te, ist bes­ser, als lan­ge zu zögern und nichts zu tun.

Wed­ding­wei­ser: Macht sich die Viel­falt des Wed­ding auch in St. Joseph bemerkbar?

Herr Dr. Thie­de: Ganz ein­deu­tig. Wir haben, ich glau­be es war anläss­lich der gro­ßen 100-jäh­ri­gen Jubi­lä­ums­fei­er der Kir­che im Jahr 2009, in unse­re Mit­glie­der­ver­wal­tung geschaut und waren bass erstaunt, dass unse­re Gemein­de Mit­glie­der aus über 100 Län­dern hat!

Wed­ding­wei­ser: Sie erklä­ren das Gebäu­de und geben Füh­run­gen. Was ist so beson­ders an der St. Joseph-Kirche?

Herr Dr. Thie­de: Die Kir­che St. Joseph und ihre Innen­ge­stal­tung sind kunst­his­to­risch inter­es­sant – und auch ein­fach fas­zi­nie­rend. Eben­so inter­es­sant – aus ganz ande­rer Sicht – ist die Kryp­ta der Kir­che, die als ein­drucks­vol­le Gedenk­stät­te für den Pries­ter Max Josef Metz­ger gestal­tet ist, der in St. Joseph leb­te und in der Nazi­zeit wegen sei­nes Ein­sat­zes für Frie­den und Völ­ker­ver­stän­di­gung zum Tode ver­ur­teilt und hin­ge­rich­tet wurde.

Neben den Füh­run­gen durch Kir­che und Kryp­ta enga­gie­re ich mich zum Bei­spiel im Pfarr­ge­mein­de­rat. St. Joseph hat eine sehr leben­di­ge Gemein­de, die sich auch mit ande­ren Grup­pen der Zivil­ge­sell­schaft ver­netzt. Des­halb haben wir uns sei­ner­zeit inten­siv an der Bür­ger­platt­form Wed­ding-Moa­bit-Tier­gar­ten betei­ligt und Ende letz­ten Jah­res auch in der Initia­ti­ve „Wed­ding zeigt Far­be“ mit­ge­wirkt, zuletzt auch bei der Kiez-Demo Mit­te März. Das ist für mich ein Kern des Christ­seins: sich für die Benach­tei­lig­ten in einer Gesell­schaft ein­set­zen und jede Art von Aus­gren­zung ableh­nen. Wer ein­mal in die Bibel schaut, kann nach­le­sen, dass Jesus genau das auch gemacht hat.

Wed­ding­wei­ser: Kom­men wir auf Ihren beruf­li­chen Schwer­punkt als For­schungs­lei­ter der Ren­ten­ver­si­che­rung bei der dama­li­gen Bun­des­ver­si­che­rungs­an­stalt für Ange­stell­te (BfA), der heu­ti­gen DRV Bund (Deut­sche Ren­ten­ver­si­che­rung, seit Okto­ber 2005) zu spre­chen. Was war Ihnen wich­tig in die­sen Jah­ren, in denen Sie die For­schungs­schwer­punk­te mit­be­stim­men konnten?

Herr Dr. Thie­de: Ein erheb­li­cher Teil mei­ner Arbeit bestand dar­in, mit mei­nem Team wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Ana­ly­sen zu Fra­gen der Alters­si­che­rung zu erstel­len, als Grund­la­ge für die Dis­kus­si­on in der Wis­sen­schaft, in den Medi­en und auch mit Poli­tik und Ver­bän­den. Die Ergeb­nis­se wur­den ver­öf­fent­licht in Fach­zeit­schrif­ten, auf Kon­fe­ren­zen, aber auch in Zei­tungs­in­ter­views oder bei Anhö­run­gen des Bun­des­ta­ges. Mir war immer wich­tig, dass man so ein Gegen­ge­wicht set­zen kann gegen jene, die undif­fe­ren­ziert gegen das soli­da­ri­sche Alters­si­che­rungs­sys­tem agie­ren – und dabei oft letzt­lich eige­ne Inter­es­sen verfolgen.

Wed­ding­wei­ser: Kön­nen Sie das mal an einem Bei­spiel konkretisieren?

Herr Dr. Thie­de: Es wird immer gesagt, wegen des demo­gra­fi­schen Wan­dels kön­ne das Ren­ten­sys­tem künf­tig nicht mehr funk­tio­nie­ren. Immer mehr alte Men­schen, immer weni­ger im Erwerbs­al­ter – da sei die Ren­te nicht mehr bezahl­bar. Wenn man etwas recher­chiert, stellt man aber fest, dass genau das schon seit vie­len Jahr­zehn­ten behaup­tet wird, aber nie ein­ge­tre­ten ist: In den 1960 er-Jah­ren hat man gesagt, der „Ren­ten­berg“ 1975 sei nicht finan­zier­bar. Und 1985 schrieb der SPIEGEL: „Wer soll im Jahr 2000 die Last der Alten tra­gen?“ Es hat sich jedes Mal gezeigt, dass der Anteil der älte­ren Men­schen zwar tat­säch­lich grö­ßer wur­de, die Ren­ten aber trotz­dem bezahl­bar blieben.

Für die Finan­zie­rung der Ren­ten kommt es näm­lich nicht nur auf die Zahl der Men­schen im Ren­ten- und im Erwerbs­al­ter an, son­dern dar­auf, wie vie­le Men­schen erwerbs­tä­tig sind und Bei­trä­ge zah­len. Die Zahl der Men­schen im Ren­ten­al­ter, die auf ein­hun­dert Men­schen im Erwerbs­al­ter kom­men, ist heu­te um 50 Pro­zent höher als vor 40 Jah­ren – trotz­dem ist der Bei­trags­satz der Ren­ten­ver­si­che­rung sogar nied­ri­ger als damals.

Der Grund dafür ist ganz ein­fach: Es ist ein grö­ße­rer Teil der Men­schen im Erwerbs­al­ter tat­säch­lich erwerbs­tä­tig; die Erwerbs­be­tei­li­gung von Frau­en und von älte­ren Men­schen ist enorm gestiegen.

Und nicht zu ver­ges­sen: Durch die Zuwan­de­rung gibt es heu­te weit­aus mehr Erwerbs­tä­ti­ge in Deutsch­land, als man vor 30 oder 40 Jah­ren ahnen konn­te; die­se finan­zie­ren die Ren­ten mit. Die Inte­gra­ti­on aus­län­di­scher Arbeits­kräf­te hat pro­blem­lö­send gewirkt, ande­ren­falls wären die Bei­trags­sät­ze heu­te viel höher und die Ren­ten nied­ri­ger, als es jetzt der Fall ist.

Wed­ding­wei­ser: Die Alters­ar­mut, die mit stei­gen­der Dyna­mik eine zuneh­men­de Zahl von Neu­be­ren­teten erreicht: Um eine armuts­fes­te Ren­te zu bekom­men, braucht man 45 unun­ter­bro­che­ne Erwerbs­jah­re mit min­des­tens 2.400 Euro Brut­to­ver­dienst im Monat. Das schaf­fen vie­le nicht, gera­de wenn wir an Zeit­ver­trä­ge, Teil­zeit­ar­beit oder Unter­bre­chun­gen der Erwerbs­ver­läu­fe den­ken. Wie sehen Sie das?

Herr Dr. Thie­de: Einer­seits muss man dabei mit­den­ken, dass die gesetz­li­che Alters­ren­te nicht immer die ein­zi­ge Ein­kom­mens­quel­le im Alter ist. Etwa zwei Drit­tel der Ren­ten­be­zie­hen­den haben dane­ben wei­te­re Alters­ein­kom­men, zum Bei­spiel aus einer Betriebs­ren­te oder aus Ersparnissen.

Rich­tig ist aber auch: Unge­fähr ein Drit­tel der Men­schen ist im Alter aus­schließ­lich auf die gesetz­li­che Ren­te ange­wie­sen. Aktu­ell bezie­hen zwar nur etwa 3 Pro­zent aller Men­schen im Alter Grund­si­che­rung – aber ich befürch­te schon, dass die­ser Anteil in Zukunft grö­ßer wird. Stu­di­en zei­gen deut­lich, dass Men­schen, die wäh­rend des Erwerbs­le­bens bereits auf andau­ern­den Trans­fer­be­zug von Sozi­al­leis­tun­gen ange­wie­sen waren, dies im Alter auch sind: Armut im Erwerbs­le­ben wird zu Armut im Alter.

Des­halb soll­te man sich nichts vor­ma­chen: Letzt­lich ist der Arbeits­markt der Schlüs­sel für ein gutes Alters­si­che­rungs­sys­tem: Gute Aus­bil­dung, gute Löh­ne und siche­re Arbeits­ver­hält­nis­se – und das heißt eben nicht Zeit­ver­trä­ge oder Mini­jobs – sind der bes­te Weg zu einer armuts­fes­ten Alterssicherung.

Wed­ding­wei­ser: Ein Wort zum Abschluss die­ses Gesprä­ches. Wie sehen Sie die Erwei­te­rung der gesetz­li­chen Ren­ten­ver­si­che­rung durch wei­te­re Erwerbs­grup­pen? Ist es wegen der all­ge­mei­nen Ren­ten­ge­rech­tig­keit ange­ra­ten, Beam­te und Selb­stän­di­ge einzubeziehen?

Herr Dr. Thie­de: Mit­tel- und lang­fris­tig ist es aus mei­ner Sicht unab­ding­bar, alle Beschäf­tig­ten – und übri­gens auch die Abge­ord­ne­ten – in einem ein­zi­gen Ren­ten­sys­tem zusam­men­zu­fas­sen. Das hat auch etwas mit gesell­schaft­li­chem Zusam­men­halt und Wert­schät­zung von Berufs­grup­pen zu tun. Es wider­spricht ein­fach dem Gerech­tig­keits­emp­fin­den der meis­ten Men­schen, wenn ver­schie­de­ne Erwerbs­grup­pen hin­sicht­lich ihrer Alters­ver­sor­gung unter­schied­lich behan­delt wer­den. In vie­len ande­ren euro­päi­schen Län­dern gibt es seit lan­gem ein ein­heit­li­ches Ren­ten­sys­tem für alle Men­schen. Und selbst in Öster­reich, wo man dem Beam­ten­sta­tus immer einen ganz beson­de­ren Wert zuge­mes­sen hat, gilt für Beam­te und Ange­stell­te inzwi­schen das glei­che Rentenrecht.

Renate Straetling

Jg 1955, aufgewachsen in Hessen; ab 1973 Studium an der FU Berlin, Sozialforschung, Projekte und Publikationen.
Selfpublisherin seit 2011
www.renatestraetling.wordpress.com
Im Wedding seit 2007.
Mein Wedding-Motto:
Unser Wedding: ein großes lebendiges Wimmelbild ernsthafter Menschen!

2 Comments Schreibe einen Kommentar

  1. Dan­ke für die­se Auf­klä­rung zur Ren­ten­fi­nan­zie­rung. Hof­fent­lich führt die Ver­öf­fent­li­chung im Wed­ding-Weser auch dazu bei, dass die­se Erkennt­nis­se in den Medi­en von ARD und ZDF ankom­men, die immer nur wie­der­ho­len, dass immer mehr jun­ge Men­schen immer mehr Alte “ernäh­ren” müs­sen. Der hohe Bun­des­zu­schuss, der auch immer the­ma­ti­siert wird„ ist auch nur auf eine Fehl­kon­struk­ti­on zurück­zu­füh­ren. Längst ist ein drei-Säu­len-Modell errech­net, wie es in ande­ren Län­dern funk­tio­niert, aber die Poli­tik wagt sich nicht an die Umstel­lun­gen. – Wei­ter­hin viel Erfolg bei der Auf­klä­rung von Unwissen!
    Jut­ta Jau­ra (Vor­stands­mit­glied Senio­ren-Schutz-Bund “Graue Pan­ther” Ber­lin e.V.)

  2. Dan­ke für das sehr inter­es­san­te Por­trait die­ses enga­gier­ten Man­nes und sein Insi­der­wis­sen aus der Ren­ten­ver­si­che­rung. Ich weiß nicht, ob der Wed­ding­wei­ser der rich­ti­ge Ort für ren­ten­po­li­ti­sche Debat­ten ist. Aber der Fakt, dass die gesetz­li­che Ren­ten­ver­si­che­rung mitt­ler­wei­le jähr­lich mit über 100 Mil­li­ar­den Euro aus Steu­er­gel­dern, einem Vier­tel des Bun­des­haus­halts, sub­ven­tio­niert wer­den muss, hät­te er durch­aus erwäh­nen können.

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