Die Rentensituation in der Bevölkerung ist in gewisser Weise so vielfältig wie die eines Wohnquartiers. Ich konnte einen im Wedding verwurzelten Rentenexperten interviewen, der sich mit Forschungsfragen der Altersrente beruflich befasste. Dr. Reinhold Thiede ist Weddinger seit dem Beginn der 1980er Jahre. Er hat mit mir auch über sein Ehrenamt bei der Kirchengemeinde St. Joseph (Müllerstraße 161) gesprochen und über wesentliche Beobachtungen und Fragen zur Rentenentwicklung der vergangenen Jahrzehnte.
Weddingweiser: Herr Dr. Thiede, wie kamen Sie in den Wedding, und wie lange leben Sie schon hier?
Herr Dr. Thiede: Ich bin im Jahr 1983 hierher gezogen und habe mich von Anfang an wohlgefühlt. Meine Frau und ich haben uns deshalb auch Ende der 90er Jahre bewusst für die Anna-Lindh-Schule als staatliche Schule für unsere Tochter entschieden, da wir weder eine katholische noch eine private Schule für unser Kind bevorzugen wollten. Uns hat schon damals die Vielfalt des Weddings überzeugt, schließlich hat das Schulleben unserer Tochter ihr und uns einen bunten Bekanntenkreis gegeben und uns teilhaben lassen.
Weddingweiser: Wie sehen Sie den Wedding heute?
Herr Dr. Thiede: Ich mag nach wie vor die Vielfalt und das bunte Leben hier. Die vielen Restaurants mit unterschiedlichen Küchentraditionen, den Weddingmarkt, das Primetime-Theater und so weiter. Oder auch die Einkaufsmöglichkeiten, auch wenn die durch die Schließung des großes Real-Markts und von Karstadt leider kleiner geworden sind.
Weddingweiser: Sie engagieren sich langjährig in der St. Joseph-Kirche. Was ist Ihnen dort wichtig?
Herr Dr. Thiede: Ich engagiere ich seit meiner Jugend in der katholischen Kirche, war neulich auch auf dem 103. Katholikentag in Erfurt. Tatsächlich ist mir wichtig, dass die Kirche nach draußen geht zu den Menschen, also nicht hinter den Kirchenmauern verbleibt. Nahe am Menschen kann man direkt helfen, den Armen oder Bedürftigen eine Stütze sein, oder manchmal auch nur Ansprechpartner und einfach zuhören. Die Bettlerin, die immer vor der Kirchentür sitzt, haben wir eingeladen, zum Gemeindecafé in den Pfarrsaal zu kommen – jetzt ist sie jeden Sonntag da. Wir hatten auch lange eine Suppenküche in St. Joseph, die leider eingestellt wurde, weil die engagierte Frau die Arbeit nicht mehr tragen konnte und wir nicht genug Helfer hatten; die Räumlichkeiten werden seither von einer Flüchtlingsfamilie genutzt.
Ein Gemeindemitglied sagte mir einmal: Es ist besser sich zu entschuldigen als zu fragen. Will heißen: Sich zu entschuldigen, wenn etwas nicht gut geklappt hat oder man keine Genehmigung für sein Tun hatte, ist besser, als lange zu zögern und nichts zu tun.
Weddingweiser: Macht sich die Vielfalt des Wedding auch in St. Joseph bemerkbar?
Herr Dr. Thiede: Ganz eindeutig. Wir haben, ich glaube es war anlässlich der großen 100-jährigen Jubiläumsfeier der Kirche im Jahr 2009, in unsere Mitgliederverwaltung geschaut und waren bass erstaunt, dass unsere Gemeinde Mitglieder aus über 100 Ländern hat!
Weddingweiser: Sie erklären das Gebäude und geben Führungen. Was ist so besonders an der St. Joseph-Kirche?
Herr Dr. Thiede: Die Kirche St. Joseph und ihre Innengestaltung sind kunsthistorisch interessant – und auch einfach faszinierend. Ebenso interessant – aus ganz anderer Sicht – ist die Krypta der Kirche, die als eindrucksvolle Gedenkstätte für den Priester Max Josef Metzger gestaltet ist, der in St. Joseph lebte und in der Nazizeit wegen seines Einsatzes für Frieden und Völkerverständigung zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde.
Neben den Führungen durch Kirche und Krypta engagiere ich mich zum Beispiel im Pfarrgemeinderat. St. Joseph hat eine sehr lebendige Gemeinde, die sich auch mit anderen Gruppen der Zivilgesellschaft vernetzt. Deshalb haben wir uns seinerzeit intensiv an der Bürgerplattform Wedding-Moabit-Tiergarten beteiligt und Ende letzten Jahres auch in der Initiative „Wedding zeigt Farbe“ mitgewirkt, zuletzt auch bei der Kiez-Demo Mitte März. Das ist für mich ein Kern des Christseins: sich für die Benachteiligten in einer Gesellschaft einsetzen und jede Art von Ausgrenzung ablehnen. Wer einmal in die Bibel schaut, kann nachlesen, dass Jesus genau das auch gemacht hat.
Weddingweiser: Kommen wir auf Ihren beruflichen Schwerpunkt als Forschungsleiter der Rentenversicherung bei der damaligen Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), der heutigen DRV Bund (Deutsche Rentenversicherung, seit Oktober 2005) zu sprechen. Was war Ihnen wichtig in diesen Jahren, in denen Sie die Forschungsschwerpunkte mitbestimmen konnten?
Herr Dr. Thiede: Ein erheblicher Teil meiner Arbeit bestand darin, mit meinem Team wissenschaftlich fundierte Analysen zu Fragen der Alterssicherung zu erstellen, als Grundlage für die Diskussion in der Wissenschaft, in den Medien und auch mit Politik und Verbänden. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht in Fachzeitschriften, auf Konferenzen, aber auch in Zeitungsinterviews oder bei Anhörungen des Bundestages. Mir war immer wichtig, dass man so ein Gegengewicht setzen kann gegen jene, die undifferenziert gegen das solidarische Alterssicherungssystem agieren – und dabei oft letztlich eigene Interessen verfolgen.
Weddingweiser: Können Sie das mal an einem Beispiel konkretisieren?
Herr Dr. Thiede: Es wird immer gesagt, wegen des demografischen Wandels könne das Rentensystem künftig nicht mehr funktionieren. Immer mehr alte Menschen, immer weniger im Erwerbsalter – da sei die Rente nicht mehr bezahlbar. Wenn man etwas recherchiert, stellt man aber fest, dass genau das schon seit vielen Jahrzehnten behauptet wird, aber nie eingetreten ist: In den 1960 er-Jahren hat man gesagt, der „Rentenberg“ 1975 sei nicht finanzierbar. Und 1985 schrieb der SPIEGEL: „Wer soll im Jahr 2000 die Last der Alten tragen?“ Es hat sich jedes Mal gezeigt, dass der Anteil der älteren Menschen zwar tatsächlich größer wurde, die Renten aber trotzdem bezahlbar blieben.
Für die Finanzierung der Renten kommt es nämlich nicht nur auf die Zahl der Menschen im Renten- und im Erwerbsalter an, sondern darauf, wie viele Menschen erwerbstätig sind und Beiträge zahlen. Die Zahl der Menschen im Rentenalter, die auf einhundert Menschen im Erwerbsalter kommen, ist heute um 50 Prozent höher als vor 40 Jahren – trotzdem ist der Beitragssatz der Rentenversicherung sogar niedriger als damals.
Der Grund dafür ist ganz einfach: Es ist ein größerer Teil der Menschen im Erwerbsalter tatsächlich erwerbstätig; die Erwerbsbeteiligung von Frauen und von älteren Menschen ist enorm gestiegen.
Und nicht zu vergessen: Durch die Zuwanderung gibt es heute weitaus mehr Erwerbstätige in Deutschland, als man vor 30 oder 40 Jahren ahnen konnte; diese finanzieren die Renten mit. Die Integration ausländischer Arbeitskräfte hat problemlösend gewirkt, anderenfalls wären die Beitragssätze heute viel höher und die Renten niedriger, als es jetzt der Fall ist.
Weddingweiser: Die Altersarmut, die mit steigender Dynamik eine zunehmende Zahl von Neuberenteten erreicht: Um eine armutsfeste Rente zu bekommen, braucht man 45 ununterbrochene Erwerbsjahre mit mindestens 2.400 Euro Bruttoverdienst im Monat. Das schaffen viele nicht, gerade wenn wir an Zeitverträge, Teilzeitarbeit oder Unterbrechungen der Erwerbsverläufe denken. Wie sehen Sie das?
Herr Dr. Thiede: Einerseits muss man dabei mitdenken, dass die gesetzliche Altersrente nicht immer die einzige Einkommensquelle im Alter ist. Etwa zwei Drittel der Rentenbeziehenden haben daneben weitere Alterseinkommen, zum Beispiel aus einer Betriebsrente oder aus Ersparnissen.
Richtig ist aber auch: Ungefähr ein Drittel der Menschen ist im Alter ausschließlich auf die gesetzliche Rente angewiesen. Aktuell beziehen zwar nur etwa 3 Prozent aller Menschen im Alter Grundsicherung – aber ich befürchte schon, dass dieser Anteil in Zukunft größer wird. Studien zeigen deutlich, dass Menschen, die während des Erwerbslebens bereits auf andauernden Transferbezug von Sozialleistungen angewiesen waren, dies im Alter auch sind: Armut im Erwerbsleben wird zu Armut im Alter.
Deshalb sollte man sich nichts vormachen: Letztlich ist der Arbeitsmarkt der Schlüssel für ein gutes Alterssicherungssystem: Gute Ausbildung, gute Löhne und sichere Arbeitsverhältnisse – und das heißt eben nicht Zeitverträge oder Minijobs – sind der beste Weg zu einer armutsfesten Alterssicherung.
Weddingweiser: Ein Wort zum Abschluss dieses Gespräches. Wie sehen Sie die Erweiterung der gesetzlichen Rentenversicherung durch weitere Erwerbsgruppen? Ist es wegen der allgemeinen Rentengerechtigkeit angeraten, Beamte und Selbständige einzubeziehen?
Herr Dr. Thiede: Mittel- und langfristig ist es aus meiner Sicht unabdingbar, alle Beschäftigten – und übrigens auch die Abgeordneten – in einem einzigen Rentensystem zusammenzufassen. Das hat auch etwas mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und Wertschätzung von Berufsgruppen zu tun. Es widerspricht einfach dem Gerechtigkeitsempfinden der meisten Menschen, wenn verschiedene Erwerbsgruppen hinsichtlich ihrer Altersversorgung unterschiedlich behandelt werden. In vielen anderen europäischen Ländern gibt es seit langem ein einheitliches Rentensystem für alle Menschen. Und selbst in Österreich, wo man dem Beamtenstatus immer einen ganz besonderen Wert zugemessen hat, gilt für Beamte und Angestellte inzwischen das gleiche Rentenrecht.
Danke für diese Aufklärung zur Rentenfinanzierung. Hoffentlich führt die Veröffentlichung im Wedding-Weser auch dazu bei, dass diese Erkenntnisse in den Medien von ARD und ZDF ankommen, die immer nur wiederholen, dass immer mehr junge Menschen immer mehr Alte “ernähren” müssen. Der hohe Bundeszuschuss, der auch immer thematisiert wird„ ist auch nur auf eine Fehlkonstruktion zurückzuführen. Längst ist ein drei-Säulen-Modell errechnet, wie es in anderen Ländern funktioniert, aber die Politik wagt sich nicht an die Umstellungen. – Weiterhin viel Erfolg bei der Aufklärung von Unwissen!
Jutta Jaura (Vorstandsmitglied Senioren-Schutz-Bund “Graue Panther” Berlin e.V.)
Danke für das sehr interessante Portrait dieses engagierten Mannes und sein Insiderwissen aus der Rentenversicherung. Ich weiß nicht, ob der Weddingweiser der richtige Ort für rentenpolitische Debatten ist. Aber der Fakt, dass die gesetzliche Rentenversicherung mittlerweile jährlich mit über 100 Milliarden Euro aus Steuergeldern, einem Viertel des Bundeshaushalts, subventioniert werden muss, hätte er durchaus erwähnen können.