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Ein besonderes Fest in Zeiten von Corona:
Eine Weddinger Weihnachtsgeschichte

24. Dezember 2021

Das Senio­ren­wohn­heim Domi­zil am Gar­ten­platz, das sozia­le Wohn-Pro­jekt Sophia in der Acker­stra­ße und der Kiez­treff Wasch­kü­che in der Feld­stra­ße haben an einem Tag Anfang Dezem­ber an einen unge­wöhn­li­chen Ort ein­ge­la­den. Zusam­men mit der Wed­din­ger Gitar­ren­grup­pe „Wild­kraut“ erleb­ten die Teilnehmer:innen etwas Beson­de­res in der Coro­na-Zeit – an einer Super­markt-Bau­stel­le im Brun­nen­vier­tel. Pfar­rer Tho­mas Jeut­ner berich­tet davon und erzählt uns somit eine ech­te Wed­din­ger Weihnachtsgeschichte.

Weihnachten in Coronazeiten am Ackerplatz
Bei­sam­men­sein am Acker­platz in Coro­na-Zei­ten. Foto: Tho­mas Jeutner

Susan­ne zieht sich ihren dicken Schal noch enger um den Hals. Hier an der Bau­stel­le vor dem Super­markt in einem Plat­ten­bau­ge­biet vom Brun­nen­vier­tel zieht es wie Hecht­sup­pe. Es ist die stil­le weih­nacht­li­che Zeit, und nichts beson­de­res los. Früh ist es dun­kel gewor­den, und die Tem­pe­ra­tur liegt um den Gefrierpunkt.

„Hmmm… The wind whist­les down, the cold dark street tonight“, summt Susan­ne vor sich hin. Der tol­le Song von Amy McDo­nalds ist wie geschaf­fen für die­sen zugi­gen Ort. Kei­ner will blei­ben. Alle wol­len schnell nach Hau­se. Aber erst hat Susan­ne, die ab und an auch ein Lied schreibt, noch was vor. Sie ist Kin­der­gärt­ne­rin und noch gestresst, weil sie nicht pünkt­lich in den Fei­er­abend kam. Gera­de heu­te – wo sie sich mit den ande­ren von der Gitar­ren-Band vor dem Super­markt ver­ab­re­det hat, zum Musizieren.

Foto: Til­man Vogler

Auch wenn der Kiez-Laden seit Mona­ten wegen Umbau geschlos­sen hat, ist sei­ne Bau­stel­le das Zen­trum vom Quar­tier. Alle tref­fen sich hier, ob es die Kund­schaft ist vom paläs­ti­nen­si­schen Apo­the­ker gegen­über oder der har­te Kern der Gäs­te vom ukrai­ni­schen Back­shop. Es ist der heim­li­che Dorf­platz, und gera­de jetzt zu Weih­nach­ten die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­zen­tra­le der Ein­sa­men und Single.

Schon als Susan­ne ihren Noten­stän­der auf­baut, im Tun­nel unter dem sechs­stö­cki­gen Block vom sozia­len Wohn-Pro­jekt, strö­men sie her­bei: Wal­traut, die sich im Ruhe­stand als Schwä­bin erst­mal ein­ge­wöh­nen muss­te im rau­en Ber­lin. Klau­si, mit sei­nem Geh­wa­gen, der in den 70er Jah­ren von Ost-Ber­lin nach West-Ber­lin floh und dafür ins Gefäng­nis kam, bis er frei­ge­kauft wur­de. Neves aus Ango­la, der vor 40 Jah­ren als DDR-Ver­trags­ar­bei­ter nach Deutsch­land gekom­men war. Mar­ti­na ist da, die mit ihrer moto­ri­schen Unru­he nie sit­zen kann, aber auch nicht gut lau­fen. Man­che kom­men mit Ein­kaufs­tü­ten (woher eigent­lich, der Laden ist doch zu?). Jemand steigt neu­gie­rig von sei­nem Fahr­rad ab, weil die Men­schen­men­ge immer grö­ßer wird.

Susan­ne stimmt in aller Ruhe ihre Gitar­re, und gibt ihren Ton den ande­ren aus der Band. Gera­de als sie ans Mikro­fon tritt und die Zuhö­ren­den begrüßt, biegt eine Kolon­ne von Roll­stuhl­fah­rern um die Ecke und steu­ert die Bau­stel­le an. Es sind die wirk­lich Alten, aus dem Heim neben­an. Sie haben gehört, dass heu­te Abend was los sein soll. „Aber macht nicht so lan­ge“, ruft eine, „es ist sau­kalt im Frost!“

Susan­ne singt : „Sag, wo ist der Weih­nachts­stern, ist er nahe oder fern? Kannst du ihn schon leuch­ten sehn. Oder musst du wei­ter­gehn, zum Weih­nachts­stern?“ Für ihr Stern-Lied haben sie in der Band eine extra lan­ge Ver­län­ge­rungs­schnur mit­ge­bracht. Von der Steck­do­se im Haus­flur neben dem Super­markt führt das Kabel direkt zu dem gel­ben Herrn­hu­ter Stern. Er leuch­tet ganz oben an einem hoch auf­ge­rich­te­ten Mikro­fon­stän­der und weht im Wind. Susan­ne singt: „Was hat die­ser Stern gebracht, aus der ers­ten Heil­gen Nacht? Vie­len einen Hoff­nungs­schein – leuch­tet in das Herz hin­ein, der Weihnachtsstern“.

Weihnachten Dekoration an zwei Fenstern

Der alte Ecki, der seit dem Tod sei­ner Mut­ter in ihren Klei­dern geht und ihren Schmuck trägt, zeigt auf den wehen­den Stern. Nor­ma­ler­wei­se trägt er ihn beim Krip­pen­spiel in der klei­nen Kapel­le an einem Besen­stiel. Wegen Coro­na gab es das alles nicht. Kein Krip­pen­spiel in der Gemein­de, kei­ne Weih­nachts­fei­er im Club­raum vom Senio­ren­pro­jekt. Auch das Alters­heim hat sei­ne Fei­er abge­sagt, es ist zu gefähr­lich. Letz­tes Jahr ist in der Pan­de­mie mehr als die Hälf­te der Bewoh­ner gestor­ben. Des­halb sind die Zuhö­ren­den nun alle hier drau­ßen: mit Abstand und Mas­ken, und leuch­ten­den Augen. Denn aus dem Nach­bar­schafts­raum von neben­an brin­gen sie Glühwein!

Wäh­rend die Ther­mos­kan­nen her­um gereicht wer­den, summt Susan­ne eine Zwi­schen­stro­phe von ihrem Lied, vom Stern. Die Leu­te wär­men sich ihre klam­men Hän­de an den hei­ßen Tas­sen. Und Susan­ne singt wei­ter: „Ist er nur zur Weih­nacht da, ist er fer­ne, oder nah? Wenn ich ihn nicht sehen kann, kommt das Licht doch bei mir an, vom Weih­nachts­stern“. Die Leu­te neh­men es ihr ab. Sie klat­schen, und win­ken Susan­ne zu. Auf ein­mal füh­len sie sich hier in der ver­trau­ten Run­de an der Super­markt-Bau­stel­le nicht mehr wie das Ensem­ble der Müh­se­li­gen. Son­dern wie die Hir­ten von Bethlehem.

Da schiebt sich Gibra­el mit sei­nem Roll­stuhl nach vor­ne, mit­ten vor das Mikro­fon. Er lacht und jubelt und klatscht, und steckt alle ande­ren an mit sei­ner Aus­ge­las­sen­heit. Man­che die das sehen, haben Trä­nen in den Augen. Denn in dem Moment haben sie die Bot­schaft der Weih­nachts­freu­de ver­stan­den. Gibra­el ist Ende 30 und konn­te noch nie lau­fen oder spre­chen. Er kommt aus einer ara­mäi­schen Fami­lie: Von jenem Volk im Süden der Tür­kei und Nord-Syri­en, das immer noch mit der Spra­che lebt, die Jesus von Naza­reth gespro­chen hat. Den stum­men Gibra­el hat sei­ne Fami­lie genannt nach dem bibli­schen Gabri­el! Nach dem Engel, aus der alten Geschich­te jener ers­ten Hei­li­gen Nacht, von der Susan­ne gesun­gen hat.

Sie reibt sich die frost­star­ren Fin­ger warm, und spürt sie wie­der: Die Kraft der Lie­der. Sie ahnt, dass Sin­gen zwar nicht alle Pro­ble­me der Welt löst, und auch nicht im Nu die Sor­gen der hier an der Bau­stel­le fei­er­lich ver­sam­mel­ten Kiez-Bewoh­ner ver­trei­ben kann. Aber Musik macht die See­le stark, weiß Susan­ne. Gibra­el hat das gezeigt. Gibri, wie ihn hier alle nen­nen, Gibri, der nicht spre­chen kann, hat wie ein Engel sein „Fürch­tet Euch nicht“ den Leu­ten ver­kün­digt! Wir ahn­ten in die­sem Moment etwas vom Frie­den auf Erden, durch Gibri’s Lachen, durch sei­ne leuch­ten­den Augen!

Text und Foto: Tho­mas Jeutner

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