Das Seniorenwohnheim Domizil am Gartenplatz, das soziale Wohn-Projekt Sophia in der Ackerstraße und der Kieztreff Waschküche in der Feldstraße haben an einem Tag Anfang Dezember an einen ungewöhnlichen Ort eingeladen. Zusammen mit der Weddinger Gitarrengruppe „Wildkraut“ erlebten die Teilnehmer:innen etwas Besonderes in der Corona-Zeit – an einer Supermarkt-Baustelle im Brunnenviertel. Pfarrer Thomas Jeutner berichtet davon und erzählt uns somit eine echte Weddinger Weihnachtsgeschichte.
Susanne zieht sich ihren dicken Schal noch enger um den Hals. Hier an der Baustelle vor dem Supermarkt in einem Plattenbaugebiet vom Brunnenviertel zieht es wie Hechtsuppe. Es ist die stille weihnachtliche Zeit, und nichts besonderes los. Früh ist es dunkel geworden, und die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt.
„Hmmm… The wind whistles down, the cold dark street tonight“, summt Susanne vor sich hin. Der tolle Song von Amy McDonalds ist wie geschaffen für diesen zugigen Ort. Keiner will bleiben. Alle wollen schnell nach Hause. Aber erst hat Susanne, die ab und an auch ein Lied schreibt, noch was vor. Sie ist Kindergärtnerin und noch gestresst, weil sie nicht pünktlich in den Feierabend kam. Gerade heute – wo sie sich mit den anderen von der Gitarren-Band vor dem Supermarkt verabredet hat, zum Musizieren.
Auch wenn der Kiez-Laden seit Monaten wegen Umbau geschlossen hat, ist seine Baustelle das Zentrum vom Quartier. Alle treffen sich hier, ob es die Kundschaft ist vom palästinensischen Apotheker gegenüber oder der harte Kern der Gäste vom ukrainischen Backshop. Es ist der heimliche Dorfplatz, und gerade jetzt zu Weihnachten die Kommunikationszentrale der Einsamen und Single.
Schon als Susanne ihren Notenständer aufbaut, im Tunnel unter dem sechsstöckigen Block vom sozialen Wohn-Projekt, strömen sie herbei: Waltraut, die sich im Ruhestand als Schwäbin erstmal eingewöhnen musste im rauen Berlin. Klausi, mit seinem Gehwagen, der in den 70er Jahren von Ost-Berlin nach West-Berlin floh und dafür ins Gefängnis kam, bis er freigekauft wurde. Neves aus Angola, der vor 40 Jahren als DDR-Vertragsarbeiter nach Deutschland gekommen war. Martina ist da, die mit ihrer motorischen Unruhe nie sitzen kann, aber auch nicht gut laufen. Manche kommen mit Einkaufstüten (woher eigentlich, der Laden ist doch zu?). Jemand steigt neugierig von seinem Fahrrad ab, weil die Menschenmenge immer größer wird.
Susanne stimmt in aller Ruhe ihre Gitarre, und gibt ihren Ton den anderen aus der Band. Gerade als sie ans Mikrofon tritt und die Zuhörenden begrüßt, biegt eine Kolonne von Rollstuhlfahrern um die Ecke und steuert die Baustelle an. Es sind die wirklich Alten, aus dem Heim nebenan. Sie haben gehört, dass heute Abend was los sein soll. „Aber macht nicht so lange“, ruft eine, „es ist saukalt im Frost!“
Susanne singt : „Sag, wo ist der Weihnachtsstern, ist er nahe oder fern? Kannst du ihn schon leuchten sehn. Oder musst du weitergehn, zum Weihnachtsstern?“ Für ihr Stern-Lied haben sie in der Band eine extra lange Verlängerungsschnur mitgebracht. Von der Steckdose im Hausflur neben dem Supermarkt führt das Kabel direkt zu dem gelben Herrnhuter Stern. Er leuchtet ganz oben an einem hoch aufgerichteten Mikrofonständer und weht im Wind. Susanne singt: „Was hat dieser Stern gebracht, aus der ersten Heilgen Nacht? Vielen einen Hoffnungsschein – leuchtet in das Herz hinein, der Weihnachtsstern“.
Der alte Ecki, der seit dem Tod seiner Mutter in ihren Kleidern geht und ihren Schmuck trägt, zeigt auf den wehenden Stern. Normalerweise trägt er ihn beim Krippenspiel in der kleinen Kapelle an einem Besenstiel. Wegen Corona gab es das alles nicht. Kein Krippenspiel in der Gemeinde, keine Weihnachtsfeier im Clubraum vom Seniorenprojekt. Auch das Altersheim hat seine Feier abgesagt, es ist zu gefährlich. Letztes Jahr ist in der Pandemie mehr als die Hälfte der Bewohner gestorben. Deshalb sind die Zuhörenden nun alle hier draußen: mit Abstand und Masken, und leuchtenden Augen. Denn aus dem Nachbarschaftsraum von nebenan bringen sie Glühwein!
Während die Thermoskannen herum gereicht werden, summt Susanne eine Zwischenstrophe von ihrem Lied, vom Stern. Die Leute wärmen sich ihre klammen Hände an den heißen Tassen. Und Susanne singt weiter: „Ist er nur zur Weihnacht da, ist er ferne, oder nah? Wenn ich ihn nicht sehen kann, kommt das Licht doch bei mir an, vom Weihnachtsstern“. Die Leute nehmen es ihr ab. Sie klatschen, und winken Susanne zu. Auf einmal fühlen sie sich hier in der vertrauten Runde an der Supermarkt-Baustelle nicht mehr wie das Ensemble der Mühseligen. Sondern wie die Hirten von Bethlehem.
Da schiebt sich Gibrael mit seinem Rollstuhl nach vorne, mitten vor das Mikrofon. Er lacht und jubelt und klatscht, und steckt alle anderen an mit seiner Ausgelassenheit. Manche die das sehen, haben Tränen in den Augen. Denn in dem Moment haben sie die Botschaft der Weihnachtsfreude verstanden. Gibrael ist Ende 30 und konnte noch nie laufen oder sprechen. Er kommt aus einer aramäischen Familie: Von jenem Volk im Süden der Türkei und Nord-Syrien, das immer noch mit der Sprache lebt, die Jesus von Nazareth gesprochen hat. Den stummen Gibrael hat seine Familie genannt nach dem biblischen Gabriel! Nach dem Engel, aus der alten Geschichte jener ersten Heiligen Nacht, von der Susanne gesungen hat.
Sie reibt sich die froststarren Finger warm, und spürt sie wieder: Die Kraft der Lieder. Sie ahnt, dass Singen zwar nicht alle Probleme der Welt löst, und auch nicht im Nu die Sorgen der hier an der Baustelle feierlich versammelten Kiez-Bewohner vertreiben kann. Aber Musik macht die Seele stark, weiß Susanne. Gibrael hat das gezeigt. Gibri, wie ihn hier alle nennen, Gibri, der nicht sprechen kann, hat wie ein Engel sein „Fürchtet Euch nicht“ den Leuten verkündigt! Wir ahnten in diesem Moment etwas vom Frieden auf Erden, durch Gibri’s Lachen, durch seine leuchtenden Augen!
Text und Foto: Thomas Jeutner