Wie wurde der Wedding eigentlich „rot“? Was war der „Blutmai 1929“?
Und wer war Walter Nicklitz?
Das August-Bebel-Institut (ABI) lud am „Tag der Deutschen Einheit“ zu einer Führung zur Geschichte des sozialen Wandels und politischer Auseinandersetzungen im Wedding ein.
Die Führung wurde von Mitarbeiter*innen und Besucher*innen des Tagungszentrums in der Wiesenstraße 30 (TAZ), die vom gemeinnützigen KBS e.V. betrieben wird, gestaltet. Unsere Autorin war dabei.
Sozialer Wandel – Von der Mietskaserne zur Wohnung
Der Rundgang begann am Nettelbeckplatz. Nicht weit von hier haben Archäologen die Ursprünge des Wedding in Gestalt menschlicher Siedlungsspuren festgestellt, die etwa 2.000 Jahre zurückreichen. Doch erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als mehr und mehr Fabrikanten den Wedding zum Standort für ihren Industriebetrieb wählten, entstand hier städtisch zu nennendes Leben: Aus Äckern und Wiesen wurden Werksgelände und Chausseen. Arbeitssuchende strömten aus der Umgebung herbei. Die wenigen, niedrigen Häuschen der alteingesessenen Bewohner wichen vielgeschossigen Mietshäusern. Diese ragten nicht nur rechts und links der Straßen in großer Zahl auf, sondern standen auch dicht an dicht hintereinander. Die berüchtigten „Mietskasernen“ mit winzigen Räumen, dunkel und ohne Toiletten waren geboren.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Forderungen, die Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien zu verbessern. Neubauten durften nur noch eine geringere Geschosszahl aufweisen, Innenhöfe wurden entkernt und Grünzonen zwischen den Häusern eingerichtet. Diese Praxis behielten auch die Nationalsozialisten bei. Der Grund war nun kein sozialpolitischer mehr, sondern ein ideologischer. Im „Arbeiterbezirk“ mit einer großen Anhängerschaft „linker“ Parteien sollte die Bevölkerung reduziert und damit ein „Unruheherd“ beseitigt werden. Heute lebt im Wedding nur noch die Hälfte der Menschen, die in den 1920er Jahren hier wohnten. Die Wohnfläche pro Person hat sich hingegen erhöht.
Politische Radikalisierung – „Blutmai 1929“
Das Leben im Wedding war trotz schwerer Arbeit von großer Armut und Unsicherheit geprägt. Die sozialdemokratische Partei erzielte hier im späten 19. Jahrhundert hohe Wahlergebnisse. Das von den Sozialisten gewählte Rot für Fahnen und Banner symbolisierte die soziale Revolution und die politische Emanzipation der Arbeiterschaft. Nach dem Ersten Weltkrieg, als die wirtschaftliche Not der Menschen durch Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise immer größer wurde, wählten mehr und mehr Einwohner die kommunistische Partei. Der Wedding wurde zur Hochburg der KPD, ihre Parteizeitung hieß „Der Rote Wedding.“ Die Partei-Druckerei lag in der Wiesenstraße 29.
Ende der 1920er Jahre gab es wiederholt tätliche Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, insbesondere in der Kösliner Straße. 1928 führte dies zum Verbot aller Demonstrationen; auch die traditionelle 1.-Mai-Kundgebung des Jahres 1929 war davon betroffen. Doch die Menschen gingen, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, trotzdem auf die Straße; auch an den Tagen danach.
Die Polizei reagierte mit großer Gewalt – mehr als 30 Todesopfer und etwa 200 Verletzte waren zu beklagen, 1.200 Menschen wurden festgenommen. Die SPD wertete die Demonstrationen der Arbeiter als Putschversuch. Durch diese Wertung sahen sich die Kommunisten in ihrer Sozialfaschismusthese, die die Sozialdemokratie dem Nationalsozialismus gleichsetzte, bestätigt. Die als „Blutmai“ in die Geschichte eingegangenen Geschehnisse vertieften noch einmal den Riss innerhalb der Arbeiterbewegung, der seit der Spaltung der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg entstanden war.
Orte des Gedenkens in der Wiesenstraße
Wir erreichten den Endpunkt des Rundgangs in der Wiesenstraße, auf der Höhe der Walter-Röber-Brücke an der Walter-Nicklitz-Promenade. Die Brücke und der Grünzug entlang der Panke erinnern an zwei sozialdemokratische Nachkriegspolitiker.
Röber (1894−1964) war der erste frei gewählte Bezirksbürgermeister des Wedding nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In seiner 10-jährigen Amtszeit bestimmte er den Wiederaufbau des Wedding entscheidend mit. Der Architekt Nicklitz (1911−1989) war von 1951 bis 1971 Baustadtrat im Wedding. Um die Wohnqualität im Bezirk zu erhöhen, initiierte er die Einrichtung von Grünflächen und Mietergärten sowie den Bau von Kindertagesstätten und Schulen.
An der Röber-Brücke steht der 1991 erstmals enthüllte und mit einer kurzen Inschrift versehene Gedenkstein für die Opfer des „Blutmais“. Mitarbeiter*innen und Besucher*innen des TAZ setzten sich dafür ein, neben dem Gedenkstein eine Tafel aufstellen zu lassen, die die Unruhen und ihre Hintergründe erläutert. Als Ergebnis der mehrjährigen Bemühungen wurde im Mai 2019 eine Metallstele mit einem QR-Code aufgestellt, der Interessierte zu einer Internetseite führt, die Informationen zu den damaligen Ereignissen enthalten.
Zum Abschluss der Veranstaltung erhielten alle Teilnehmenden eine vom ABI herausgegebene und den TAZlern verfasste Broschüre, die die Stationen des Rundganges beschreibt. Sie kann auch hier heruntergeladen werden.