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Ein geschichtsträchtiger Ort: Müllerstraße 143

14. Februar 2013
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AOK Müllerstr.An der Mül­lerstra­ße errich­te­te der Braue­rei­be­sit­zer Wil­helm Bönn­hoff, im Jah­re 1886 einen Bier­gar­ten. Der Wed­ding war damals noch für sei­ne klei­nen hüb­schen Häus­chen, Gar­ten­wirt­schaf­ten und Fuhr­manns­knei­pen sowie sei­nen schnat­tern­den Gän­se bekannt. Auf dem Gelän­de, das bis dahin der Abla­ge­rung mensch­li­cher Exkre­men­te dien­te, ent­stand unter dem Namen “Feld­schlöss­chen” ein Schank­lo­kal in Form einer klas­si­zis­ti­schen Vil­la. Bei den vor­neh­men Damen, die hier auch ohne männ­li­che Beglei­tung erschie­nen, war der gro­ße Gar­ten beson­ders beliebt: Er erstreck­te sich von der Mül­lerstra­ße aus über mehr als 600 Meter bis zum heu­ti­gen Cha­ri­té Cam­pus Virch­ow- Klinikum.

 

In den Pharussälen wurde Geschichte geschrieben

Als im Jah­re 1905 die stür­mi­sche Ent­wick­lung Ber­lins auch den Wed­ding erreich­te – die Bewoh­ner­zahl hat­te sich zwi­schen 1900 und 1905 fast ver­dop­pelt –, ver­kauf­te Bönn­hoff das Grund­stück und die Gebäu­de. Dort wur­de dann ein Teil des Brüs­se­ler Kiezes sowie der Gen­ter, Ant­wer­pe­ner und Lüt­ti­cher Stra­ße ange­legt. Mit dem Bau der Pha­rus­sä­le im Hof der Mül­lerstra­ße 143 knüpf­te der neue Besit­zer an die Tra­di­ti­on der Aus­flugs­lo­ka­le an. In den “Pracht­sä­len des Nor­dens”, die 2500 Mensch fass­ten, traf sich zum Bei­spiel die SPD unter dem im Wed­ding poli­tisch täti­gen Karl Lieb­knecht, wäh­rend gleich­zei­tig die angren­zen­de Kaper­na­um-Gemein­de fröh­lich zum Geburts­tag von Kai­ser Wil­helm Sol­da­ten­lie­der anstimm­te. Nach dem Ers­ten Welt­krieg ent­wi­ckel­te sich der Wed­ding zu einer Hoch­burg der Kom­mu­nis­ten. Die KPD hielt in den Sälen an der Mül­lerstra­ße zahl­rei­che Ver­an­stal­tun­gen ab, so auch ihren 12. Par­tei­tag im Jah­re 1929, auf dem sich u.a. Ernst Thäl­mann, Wal­ter Ulb­richt und Wil­helm Pieck wie­der ins Zen­tral­ko­mi­tee wäh­len lie­ßen. Zwei Jah­re zuvor hat­te die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Orts­grup­pe Ber­lin-Bran­den­burg die Säle für eine poli­ti­sche Ver­an­stal­tung ange­mie­tet. Aus der anschlie­ßen­den Saal­schlacht mit den Kom­mu­nis­ten ging sie mit der der zu die­ser Zeit übli­chen Zahl an Leicht- und Schwer­ver­letz­ten als Gewin­ner her­vor. Für die­se medi­en­wirk­sam insze­nier­te Pro­vo­ka­ti­on hat­te der dama­li­ge Gau­lei­ter und spä­te­re Reichs­pro­pa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goeb­bels die Pha­rus­sä­le als sym­bol­träch­ti­ge Kulis­se ausgesucht.

Nach der Macht­er­grei­fung der Natio­nal­so­zia­lis­ten – dem jüdi­schen Päch­ter war gekün­digt wor­den – ging es in den Sälen betu­lich zu. Das Pro­gramm reich­te von Klein­tier­aus­stel­lun­gen bis zu Ope­ret­ten­aben­den. Dass die Säle ab 1940 als Groß­kan­ti­ne zur Ver­pfle­gung von täg­lich bis zu 500 hilfs­be­dürf­ti­gen Men­schen dien­te und der Kel­ler zu einem behelfs­mä­ßi­gen Luft­schutz­raum aus­ge­baut wor­den war, soll Jugend­li­che nicht dar­an gehin­dert haben, hier nach dem in Deutsch­land ver­bo­te­nen ame­ri­ka­ni­schen Swing zu tanzen.

In den Nach­kriegs­jah­ren wan­del­te sich die Mül­lerstra­ße zur moder­nen Ein­kaufs­mei­le. Her­tie ließ 1955 das Eck­grund­stück zur Brüs­se­ler Stra­ße vom Trüm­mer­schutt befrei­en und gleich­zei­tig die Res­te der Pha­rus­sä­le abrei­sen. Der Haus­ar­chi­tekt des Kauf­haus­kon­zerns, Hans Soll, des­sen Bau­ten heu­te bun­des­weit unter Denk­mal­schutz ste­hen, errich­te­te hier das Kauf­haus Bil­ka, das im Jah­re 1998 wie­der­um einem Neu­bau wei­chen muss­te, dem Cit­ti­point.

Ein unscheinbares, aber besonderes Gebäude: die AOK

AOK Müllerstr.Am Stand­ort der eins­ti­gen Pha­rus­sä­le fand 1960, im Jahr vor dem Mau­er­bau, eine Insti­tu­ti­on einen neu­en Platz, das selbst schon his­to­risch gewor­den war: das “Ambu­la­to­ri­um” der AOK. Ein Magis­trats­be­schluss aus dem Jah­re 1948, also aus der Zeit vor der Tei­lung der Stadt, hat­te die flä­chen­de­cken­de Ver­sor­gung Ber­lins mit ambu­lan­ten Fach­arzt­zen­tren vor­ge­se­hen. Aus Angst vor einer zu schlech­ten Ent­loh­nung sowie dem Argu­ment, es hand­le sich um eine “rus­si­sche Erfin­dung”, setz­te jedoch spä­ter die West­ber­li­ner Ärz­te­schaft die Schlie­ßung aller 90 Ambu­la­to­ri­en und Poli­kli­ni­ken im West­teil der Stadt durch. Das 1949 zunächst in den Hal­len der Osram-Wer­ke an der See­stra­ße unter­ge­brach­te Ambu­la­to­ri­um, das 1956 fast 60.000 Pati­en­ten ver­sorg­te, über­leb­te als ein­zi­ge die­ser Ein­rich­tun­gen im West­teil der Stadt, denn es befand sich in der Obhut der AOK. Dort wur­den aus­schließ­lich Pati­en­ten die­ser Kran­ken­kas­se behan­delt – das ist bis heu­te noch so. Für den 1960 von Robert Schöff­ler errich­te­ten schlich­ten Neu­bau erwarb die AOK das bereits abge­räum­te Gelän­de der Mül­lerstra­ße 143. Der gro­ße Hof mit sei­ner zen­tra­len Lage bot sich damals für die Ansied­lung eines Ärz­te­zen­trums an. Heu­te nennt es sich AOK-Ser­vice­cen­ter Berlin-Wedding.

Autor: Eber­hard Elfert

zuerst erschie­nen in: Ecke Mül­lerstra­ße Nr. 1 Febru­ar 2013 

 

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