An der Müllerstraße errichtete der Brauereibesitzer Wilhelm Bönnhoff, im Jahre 1886 einen Biergarten. Der Wedding war damals noch für seine kleinen hübschen Häuschen, Gartenwirtschaften und Fuhrmannskneipen sowie seinen schnatternden Gänse bekannt. Auf dem Gelände, das bis dahin der Ablagerung menschlicher Exkremente diente, entstand unter dem Namen “Feldschlösschen” ein Schanklokal in Form einer klassizistischen Villa. Bei den vornehmen Damen, die hier auch ohne männliche Begleitung erschienen, war der große Garten besonders beliebt: Er erstreckte sich von der Müllerstraße aus über mehr als 600 Meter bis zum heutigen Charité Campus Virchow- Klinikum.
In den Pharussälen wurde Geschichte geschrieben
Als im Jahre 1905 die stürmische Entwicklung Berlins auch den Wedding erreichte – die Bewohnerzahl hatte sich zwischen 1900 und 1905 fast verdoppelt –, verkaufte Bönnhoff das Grundstück und die Gebäude. Dort wurde dann ein Teil des Brüsseler Kiezes sowie der Genter, Antwerpener und Lütticher Straße angelegt. Mit dem Bau der Pharussäle im Hof der Müllerstraße 143 knüpfte der neue Besitzer an die Tradition der Ausflugslokale an. In den “Prachtsälen des Nordens”, die 2500 Menschen fassten, traf sich zum Beispiel die SPD unter dem im Wedding politisch tätigen Karl Liebknecht, während gleichzeitig die angrenzende Kapernaum-Gemeinde fröhlich zum Geburtstag von Kaiser Wilhelm Soldatenlieder anstimmte. Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich der Wedding zu einer Hochburg der Kommunisten. Die KPD hielt in den Sälen an der Müllerstraße zahlreiche Veranstaltungen ab, so auch ihren 12. Parteitag im Jahre 1929, auf dem sich u.a. Ernst Thälmann, Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck wieder ins Zentralkomitee wählen ließen. Zwei Jahre zuvor hatte die nationalsozialistische Ortsgruppe Berlin-Brandenburg die Säle für eine politische Veranstaltung angemietet. Aus der anschließenden Saalschlacht mit den Kommunisten ging sie mit der der zu dieser Zeit üblichen Zahl an Leicht- und Schwerverletzten als Gewinner hervor. Für diese medienwirksam inszenierte Provokation hatte der damalige Gauleiter und spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Pharussäle als symbolträchtige Kulisse ausgesucht.
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten – dem jüdischen Pächter war gekündigt worden – ging es in den Sälen betulich zu. Das Programm reichte von Kleintierausstellungen bis zu Operettenabenden. Dass die Säle ab 1940 als Großkantine zur Verpflegung von täglich bis zu 500 hilfsbedürftigen Menschen diente und der Keller zu einem behelfsmäßigen Luftschutzraum ausgebaut worden war, soll Jugendliche nicht daran gehindert haben, hier nach dem in Deutschland verbotenen amerikanischen Swing zu tanzen.
In den Nachkriegsjahren wandelte sich die Müllerstraße zur modernen Einkaufsmeile. Hertie ließ 1955 das Eckgrundstück zur Brüsseler Straße vom Trümmerschutt befreien und gleichzeitig die Reste der Pharussäle abreißen. Der Hausarchitekt des Kaufhauskonzerns, Hans Soll, dessen Bauten heute bundesweit unter Denkmalschutz stehen, errichtete hier das Kaufhaus Bilka, das im Jahre 1998 wiederum einem Neubau weichen musste, dem Cittipoint.
Ein unscheinbares, aber besonderes Gebäude: die AOK
Am Standort der einstigen Pharussäle fand 1960, im Jahr vor dem Mauerbau, eine Institution einen neuen Platz, das selbst schon historisch geworden war: das “Ambulatorium” der AOK. Ein Magistratsbeschluss aus dem Jahre 1948, also aus der Zeit vor der Teilung der Stadt, hatte die flächendeckende Versorgung Berlins mit ambulanten Facharztzentren vorgesehen. Aus Angst vor einer zu schlechten Entlohnung sowie dem Argument, es handle sich um eine “russische Erfindung”, setzte jedoch später die Westberliner Ärzteschaft die Schließung aller 90 Ambulatorien und Polikliniken im Westteil der Stadt durch. Das 1949 zunächst in den Hallen der Osram-Werke an der Seestraße untergebrachte Ambulatorium, das 1956 fast 60.000 Patienten versorgte, überlebte als einzige dieser Einrichtungen im Westteil der Stadt, denn es befand sich in der Obhut der AOK. Dort wurden ausschließlich Patienten dieser Krankenkasse behandelt – das ist bis heute noch so. Für den 1960 von Robert Schöffler errichteten schlichten Neubau erwarb die AOK das bereits abgeräumte Gelände der Müllerstraße 143. Der große Hof mit seiner zentralen Lage bot sich damals für die Ansiedlung eines Ärztezentrums an. Heute nennt es sich AOK-Centrum für Gesundheit.
Autor: Eberhard Elfert
zuerst erschienen in: Ecke Müllerstraße
In der Müllerstraße 143 hatte auch der Steinmetz C. Weltring (evtl. Clemens Weltring – jüngerer Bruder vom bekannteren Bildhauer Heinrich Weltring) seine Werkstatt. Die Werkstatt ist später an die Ollenhauerstraße 127 gezogen. Meines Wissens hat die Familie dort in der Nähe auch ein etwas größeres Familiengrab. Da gab es mal was online, was ich jetzt aber nicht mehr finde.
Eine Skizze zu den Pharussälen in den 30er Jahren:
https://www.directupload.eu/file/d/8662/pfbz7dv3_jpg.htm
Angesichts der Krise des Hausarztsystems sind Ambulatorien eine interessante Alternative für die Zukunft. Gut zu wissen, dass die West-Berliner Ärzteschaft die Überlastung, die sie jetzt beklagt in den 50er Jahren aus ideologischen Gründen durch die Abschaffung der Ambulatorien selbst herbei geführt hat. Es gab in den 1920er Jahren übrigens bereits einen Versuch einer SPD-Regierung, Ambulatorien deutschlandweit einzuführen. Darauf reagierten die Ärzte mit einem (standeswidrigen) Streik, bis die Pläne zurückgezogen wurden.
Werden m AOK Gebäude tatsächlich weiterhin angestellte Ärztinnen und Ärzte von der AOK zur Behandlung von Patienten beschäftigt? Ich mag es fast nicht glauben.
Ich, Jahrgang 1949, bin sehr oft im Bilka gewesen. Meine Schwester hat dort ihre Lehre gemacht. Geboren bin ich in der Togostr. 77, 1956 sind wir in die neue Siedlung Schillerhöhe gezogen, in die Ungarnstr. , direkt am Schillerpark. War eine tolle Kindheit. Die Müllerstr war immer unser Einkaufsweg. Von Woolworth mit den Bretterbuden daneben, wo allerlei Händler waren, bis zur geliebten Müllerhalle waren wir unterwegs. Eine schöne Zeit mit schönen Erinnerungen.
Hallo Herr Eifert, danke für die Recherche. Haben Sie vielleicht ein Bild von dem Bilka Kaufhaus?
Ich hätte da einige Fotos von 1997 wie kann ich diese übermitteln?
Sehr gerne per Mail an [email protected]
[…] zu den Vergessenen Orten: Pharussäle, Telefunkenhaus, […]