Schwester Heike* stellt sich den Wecker auf eine frühere Zeit als es der Dienstplan für diesen Tag verlangt – denn es ist Streik. Statt um 10 Uhr trifft sie bereits um 8 Uhr im Virchow-Krankenhaus ein. Ihre erste Station heute ist der Streikposten. Sie spricht mit den Kollegen und setzt sich anschließend um 9 Uhr in den kleinen Bus-Shuttle der Gewerkschaft. Sie fährt vom Wedding nach Mitte, um ihren kleinen Teil zu den Tarifverhandlungen beizutragen. Es wird ein langer Tag für sie.
Im Fernsehen bestehen Streiks aus Bildern von Streikposten, die vor einer Eingangstür Zelte aufgestellt haben und auf ein Signal hin in Trillerpfeifen pusten. Am Ende eines Streiks kehren die Fernsehteams zurück, um die Verhandlungspartner zu filmen. Ein Ergebnis wird verkündet, das Wort Kompromiss wird fallen. In der Welt der knappen Nachrichten wird Schwester Heike nicht vorkommen. Ihre Tage als Streikende ereignen sich in einem Hörsaal. Sie wirkt hinter den Kulissen mit. Frei hat sie durch den Streik nicht, eher investiert sie noch mehr Zeit als an einem Arbeitstag. Streik als Arbeit.
Gestern, am Dienstag (5.10.), hat die Gewerkschaft Verdi den Ferdinand-Sauerbruch-Hörsaal auf dem Charité-Gelände an der Luisenstraße gebucht. Der Name verspricht altes Holz und steile Ränge wie in der Serie Charité zu sehen. Der Saal ist tatsächlich wie im Film wie eine riesige Ohrmuschel geformt, doch das Holz ist hell und neu. Wegen Corona sind die meisten Klappsitze mit schwarz-gelben Absperrband verklebt. Jemand hat Kaffee und Kringelkuchen die fünf Etagen zum obersten Rang hinaufgeschleppt. In der Mitte des Ovals schwebt ein schwerer Beamer. Und ganz unten im Saal steht Dirk* und sagt “Morjen”. Er ist ein Typ, wie man ihn sich wünscht, wenn man ins Krankenhaus muss. Einerseits locker und aufmerksam, doch gleichzeitig macht seine tiefe Stimme klar, dass er sagt, wo es lang geht. Und heute geht es da lang: die eigene Tarifkommission unterstützen. Die Tarifkommission, das sind die Verhandler der Gewerkschaft verdi. Sie werden im Laufe des Tages in den Pausen zwischen dem Armdrücken mit der Charitéleitung in den Hörsaal kommen. Sie werden nachfragen, wie die Belegschaft das neueste Ergebnis bewertet. Wobei es in den letzten Wochen nicht oft Ergebnisse gab. Seit dem 9. September streiken die Angestellten der Krankenhäuser, weil ihre Forderungen bislang unerfüllt blieben.
Schwester Heike ist sehr daran interessiert in dieser Tarifrunde mitzuarbeiten. Deshalb ist sie auch bereit mit dem Weddingweiser zu reden. “Es muss bekannt werden, wie es uns OP-Schwestern geht”. Sie ist erst vor kurzem extra in die Gewerkschaft eingetreten. Jung und frisch von der Ausbildung ist sie nicht, arbeitet seit langem in ihrem Beruf. Gestreikt hat sie bislang noch nie. Es ist eine Premiere. “Es geht um die Personalbemessung”, sagt sie. Sie findet Worte wie “totarbeiten”, sagt: “Wir schaffen es nicht mehr.” Zwei Kollegen in ihrem Umfeld sind an Burnout erkrankt. Sie arbeitet im Virchow-Klinikum. Weil das ein Universitätskrankenhaus ist, “kommen Patienten, die andere Kliniken nicht mehr behandeln können”. Die Fälle sind komplex, die Operationen schwieriger als im Durchschnitt. Ihr Anliegen auf den Punkt bringt dieser Satz: “In unserer Abteilung haben wir acht freie Stellen”. Offene Stellen bedeuten Arbeit, die die vorhandenen Schwestern mitmachen müssen.
Im Hörsaal beginnt der Streiktag nun damit, dass ein Orga-Team den Stand der Verhandlungen verkündet. Das sind interne Dinge. Bis jetzt ist von diesen Informationen noch nichts nach außen gedrungen. “Ich finde es unvermessen, dass Sie sich hier einschleichen”, spricht mich, den Reporter, prompt ein Mitglied des Orga-Teams an. Ich nenne den Namen des Gewerkschafters, der den Weddingweiser angesprochen und eingeladen hat. Hektisches Telefonieren folgt, dessen Ausgang zu bedeuten scheint, dass ich sitzen bleiben dürfte; doch ich verlasse kurz darauf den Hörsaal. Offenkundig liegen die Nerven bei den Organisatoren blank. Sie stehen zwischen Verhandlungsteam und Belegschaft. Und der Bote ist stets eingeklemmt zwischen Sender und Empfänger. Kein gemütlicher Ort. Zudem ist es jetzt der Moment, an dem Informationen gefährlich sind wie eine Pistole. Gelangen sie in die falschen Hände, geht der Schuss schnell nach hinten los.
Denn wie werden die 60 Vertreter der verschiedenen Abteilungen des Charitè-Konzerns diese neuen, heißen Informationen aufnehmen? Es ist zu spüren, dass das Orga-Team vermitteln möchte, dass viel herausgeholt wurde. Zahlen mit Nachkommastellen, Begriffe wie Belastungspunkt und Abkürzungen wie VK werden im Schnelldurchlauf präsentiert. Möglicherweise bewerten die Menschen im Hörsaal das alles als ein Erfolg. Möglicherweise sehen sie vor allem die Nachteile. Reagieren sie zu begeistert oder zu enttäuscht? Obendrauf ist nicht ausgeschlossen, dass die weiteren Verhandlungen an anderen Punkten Nachteile bringen. Vielleicht aber auch kann die Tarifkommission in den Verhandlungen hinter verschlossenen Türen noch ein Quentchen mehr herausholen. Entschieden ist noch lange nichts.
Dafür ist nun erst einmal Heike an der Reihe, sie hatte sich gemeldet. Wie viele andere im Saal hat sie Fragen. Es sind Detailfragen, deren Auswirkungen auf ihren Alltag als OP-Schwester vor allem die anderen OP-Schwestern richtig einschätzen können. In einem Live-Dokument wird ihre Frage für alle sichtbar notiert. Das Orga-Team fragt, ob die schriftliche Formulierung ihr Anliegen korrekt trifft. So sehe ich es beim Hinausgehen. Später sollen die gesammelten Fragen an die Gewerkschafter am Verhandlungstisch gesendet werden.
Den ganzen Tag über kann Heike nicht im Hörsaal bleiben. Nicht, dass ihr die Stunden des Wartens zwischen den Programmpunkten an diesem Dienstag zu lang werden würden. Der Grund für ihren Aufbruch ist der Notbetrieb. Denn sie streikt und arbeitet gleichzeitig. Damit die Versorgung der Patienten nicht über Gebühr heruntergefahren werden muss. Um 14 Uhr tritt sie ihre Schicht an. Zumindest die zweite Hälfte der acht Stunden arbeitet sie trotz Ausstand. Sie berichtet am Nachmittag den Kollegen, was ihr am Vormittag vom Orga-Team im Hörsaal berichtet wurde. Die Kollegen stellen ihr Fragen, die sie dann morgen in den Hörsaal mitnehmen wird.
Schließlich ist es Abend. Heike war an diesem Dienstag länger von Zuhause weg als an einem normalen Arbeitstag. Hinter ihr liegt einer ihrer Streiktage – hinter den Kulissen, als ein Teil der streikenden Belegschaft.
*Name geändert
Krankenhauspersonal streikt
Die Gewerkschaft Verdi hat die Mitarbeiter des Vivantes-Krankenhausgesellschaft und der Charité-Krankenhäuser am 9. September zum unbefristeten Streik aufgerufen. Die Pflegekräfte fordern personelle Entlastung und für die Beschäftigten in den Tochterunternehmen der Krankenhäuser die Angleichung der Einkommen an den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes.
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