Der Künstler Franz Albert lebte in den späten Siebzigern am Gesundbrunnen, einem toleranten Stadtteil im Schatten der Mauer, aber durchaus mit alternativer Subkultur. Das alte Berlin mit seinen dem Abriss preisgegebenen Altbauten war auch noch zu erleben. Hier seine Erinnerungen:
1976 entfloh ich mit siebzehn der sozialen Enge einer saarländischen Kleinstadt und landete bei Freunden im weltoffenen und auch damals schon kunterbunten Wedding, wo es egal war, ob die Haare lang, der Bart zerzaust oder später die Hosen zerrissen und die Haare buntscheckig gefärbt waren. Wer keinen Unfug erzählte, war akzeptiert und niemand wurde wegen seines Äußeren schief angesehen, wenn man von den gelegentlichen Hetzjagden rechtsradikaler Skinheads auf Punks absieht.
Foto: Armin Burgard
Nach kurzer Station in der Seestraße bezog ich 1977 eine kleine Wohnung in der Stettiner Straße, eineinhalb Zimmer mit Ofen und Außenklo für anfangs unter hundert Mark im Monat, wenige hundert Meter vom gerade neu eröffneten U‑Bahnhof Pankstraße. Ein U‑Bahn-Ticket kostete 90 Pfennige, und es gab noch Raucherabteile! Zwischen U‑Bahn und Stettiner war in der Badstraße ein altes, sehr heruntergekommenes Kino, an dessen Namen ich mich nicht erinnere, wohl aber an das exklusive Vergnügen, mit meiner späteren, ersten Ehefrau dort mutterseelenallein, nur wir beide, einen Film gesehen zu haben. An der Ecke Badstraße/Stettiner Straße, direkt gegenüber Woolworth, gab’s in einem winzigen Kellerlokal Independent-Vinyl zu kaufen; Platten von Stiff Little Fingers, Psychedelic Furs, Ultravox!, Silicon Teens, Dead Kennedys, U.K.Subs, Generation X und The Damned kaufte ich dort, kaum 300 Meter von da, wo ich wohnte.
Auf halbem Weg in der Stettiner gab’s das „Café Froese“, den ultimativen Vorläufer aller Spätis, in dem die über 90-jährige Seniorchefin, allenthalben nur „Oma Froese“ genannt, ein strenges, aber auch herzliches Regime führte. Neben Brot, Brötchen und Kuchen (Blechkuchen, zwei Sorten, eine Torte) und Getränken, in der Kiste und flaschenweise, gab’s verpackte Wurst, Käse, Nudeln, Milch und andere grundätzliche Notwendigkeiten, auch abends spät – und sonntags auch mal zwei lose Eier fürs Frühstück und all das sogar zum Anschreiben, wenn man öfter kam und Oma Froese eine/n kannte. Sie war die gute Seele der Stettiner Straße, ihr gebührte ein Denkmal! Meine Frau schwor Stein und Bein, beim Brötchenkauf Maren Kroymann wiedererkannt zu haben, die gerade im Alhambra ihr erstes großes Soloprogramm spielte: „Auf Du und Du mit dem Stöckelschuh“.
Wenige Schritte weiter gab es beim damals noch nicht rassistisch konnotierten „Chinesen“ Tabakwaren, Zeitschriften und Lotto. Dr. Kim Soundso, ein aus Korea geflohener Intellektueller, rechnete mit seinem Abakus unter leisem Murmeln den Preis für zwei mal Tabak, drei mal Blättchen, den Stern, Spiegel und eine MoPo, einen Lottoschein mit drei Reihen ohne Zusatzlotterien, eine Cola und eine Caprisonne und wasweißichnochalles schneller als KI das jemals können wird.
Foto: Armin Burgard
Außerdem reihten sich in der Stettiner Trödler an Trödler; es gab eine türkische Bäckerei, türkische Gemüsehändler, eine Zoohandlung, eine Tierarztpraxis und die Schultheiss-Kneipe „Zur Stettiner Klause“, die auch als Wahllokal fungierte, ohne dass deswegen am Wahlsonntag der Ausschankbetrieb pausierte. Die fleißig trinkenden Thekensteher und ‑sitzer kommentierten launig das Kommen und Gehen der Wähler – „bizarr“ ist kein Ausdruck für die Szenen, die sich da abspielten.
Schräg gegenüber der „Stettiner Krug“: In dessen Hinterzimmer wurde 1977 unter dem bei Kleist entliehenem Namen „Zerbrochener Krug“ ein Speakeasy mit ambitioniertem Musikprogramm betrieben, mit Ausschank ohne Konzession, dafür, mit Haschisch über die Theke, diskret und nicht zum Verzehr im Haus und ein paar Monate lang, wenigstens an den Wochenenden, war’s brechend voll und einfach toll.
Ein An- und Verkauf besonderer Art befand sich in der Bastianstraße 2: Ein „Spezialgeschäft für Kurzromane, Sex- und Comichefte“. Bedrucktes Papier aus zweiter und dritter Hand lockte Kund:innen aus der ganzen Stadt, die hier ihre Sammlungen unterschiedlichster Fachbereiche vervollständigten.
Wer erinnert sich noch an die „Sumpfblüte“, die im Kollektiv betriebene Musik-Kneipe im Flachbau der Schererstraße 6 ? Auf rund 200 Quadratmetern gab es anfangs bis zu drei Mal die Woche Konzerte für offiziell maximal 250 Besucher, und neben lokalen Größen wie CCCP, TV-War, Fury & die Abdecker gaben sich auch bekanntere Akteure die Ehre wie Interzone, die Humpe-Sisters mit den Neonbabies, Extrabreit, Rotzkotz, aus Frankfurt die Straßenjungs und sogar internationale Acts wie aus der Schweiz die Bucks, Jack & The Rippers und Grauzone („Ich möchte ein Eisbär sein”), aus dem United Kingdom Shoes for Industry („The Invasion Of The French Boyfriends“, „War Of The Potatoes“), die allen Anwesenden mit dem nicht angekündigten Überraschbungsgast Nick Cave einen unvergesslichen Abend bescherten. Im Keller probten zuerst ‚Teller Bunte Knete“, und später neben ‚Fury‘ und ‚Elend‘ auch Max Goldt mit ‚Aroma Plus‘, und die Erinnerung an die beflügelnden Gespräche mit ihm am Tresen beim Bier nach der Probe lässt mich heute noch schmunzeln.
Fury und die Abdecker auf der Swinemünder Brücke, Foto: Armin Burgard
Im Publikum mischten sich an Punk und New Wave Interessierte aus ganz Berlin mit Anwohnern aus der Nachbarschaft. Unter ihnen der im Hinterhaus wohnende Kontaktbereichsbeamte Peter, der gern noch in Uniform sein Feierabendbier trank, – eindeutig geschäftsschädigend, drehten doch nicht nur die Punks aus den bestzten Häusern in der Tür um, wenn sie ihn in voller Montur an der Theke sitzen sahen.
Nachbarn störte der Lärm, und so wurde nach und nach unter Androhung des Konzessionsentzugs das Veranstalten von Konzerten unmöglich gemacht und auch ein aufwändiger Umbau zur new-waveigen Cocktail-Lounge „Café-Bar Cheerio“, samt roten Glastischen und verspiegeltem Brunnen von der Decke bis zum Boden, konnte den Niedergang nicht aufhalten. Wer erinnert sich noch an Sumpfblüte und Cheerio und an Bands, die dort auftraten?
Im Haus nebanan unterhielten Margot und Harold einen Secondhand-Laden für Kleidung. Harold saß sommers gern mit einem frisch gezapften Pils vom Fass aus der „Blüte“ vor seinem Ladenlokal in der Sonne und wartete auf Kundschaft.
Um die Ecke, in der Reinickendorfer Straße, gab’s ein uriges Irish Pub mit dem gar nicht irischen Namen „Tralje“, die Cafés „Cralle“ und „Barrikade“ wurden gegründet und 1981 gab’s im Zuge des Tuwat-Festivals ein großes, nicht genehmigtes Konzert auf dem Brunnenplatz vor’m Amtsgericht, das die Rosenrabatten vor dem Eingang leider nicht überlebten. Strom kam illegal aus der Asylbewerber-Unterkunft in der Schönstedtstraße, wo direkt nebenan damals auch der gegen Schwule hetzende schwule Neonazi-Anführer Michael Kühnen wohnte. Der ganze Brunnenplatz mit einigen tausend Konzertbesuchern war von Polizei-„Wannen“ umstellt, und den Jungs von „Abwärts“, neben „Slime“ Top-Act des Tages, war derart unwohl angesichts der gespenstischen Szenerie, dass sie gleich gegen 15 Uhr, unmittelbar nach dem Opening Act, den nicht ganz zu Unrecht ausgebuhten „Fury und die Abdecker“, einen überraschend kurzen Gig spielten und danach umgehend gen Hamburg abreisten. Das großartige Fest blieb friedlich bis spät in die Nacht, aber der Brunnenplatz wurde nie wieder so, wie er vorher war.
Wer erinnert sich noch an’s „Nowawes“? – Ich weiß nicht mal mehr, wo es war. War das überhaupt im Wedding? Oder in Reinickendorf? Und wo genau war nochmal das „Taxemoon“, gar nicht weit vom Leo, wo nicht nur Taxifahrer:innen rund um die Uhr ganz prima frühstückten?
Fragen über Fragen, wer erinnert sich noch an den Wedding, der Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre noch bis zur Mauer an der Bernauer Straße reichte? Wer erinnert sich an seine Geschichten, seine Kneipen und Läden?
Illustration der Redensart “Pferde kotzen vor Apotheke” von Franz Albert
Text, Bilder (wenn nicht anders angegeben): Franz Albert
Hallo Herr Albert,
toller Artikel, wunderbare Zeitreise.
Ich erinnere mich an eine Bar/Kneipe in der Utrechter Straße “Der Schneckentempel” Ende 70iger.
Damals eher noch sehr gediegen, die Eingangstür eher unauffällig und keine Fenster zum reingucken.
Der Laden war dann ca. Mitte der 80’iger ein Treffpunkt von Rockern, die mit ihren Choppern extrem laut
und beindruckend waren.Ich wohnte ab 1975 in der Malplaquetstrasse.
Herzliche Grüße
Was für eine geile, nostalgische Reise!👍
Taxemoon war auf der Reinickendorferstr vor dem Platz an der modernen Kirche gegenüber vom Schering ‚später wurde das zu Autoteile Tip
Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab es das Kino TIVOLI in der Weddinger Triftstraße. Es war ein sog. “schmales Handtuch” mit ca. 20 bis 30 Reihen, bestehend aus etwa jeweils max. 8 Klapp- Holzsitzen. Die einzigen 6 gepolsterten Stühle standen in einer Reihe direkt vor dem Projektionsraum.
Zu dieser Zeit wurde das Kino mit einem Ofen, der seitlich im Kino stand, beheizt. Das geschah sogar während der Filmvorführung. Beim Öffnen der Ofenklappe zur Koksschüttung wurde der vordere Bereich des Kinos stark erhellt, was zu erheblichen Missfallensäußerungen bei den Zuschauern führte.
Kinokarten wurden von der Rolle verkauft. Sitzplätze wurden von der Kartenverkäuferin mit Bleistift in einem Belegungsplan angekreuzt und auf der Eintrittskarte notiert.
Die bekannte Schauspielerin KARIN BAAL hat einige Häuser weiter Richtung Torfstraße gewohnt. Vielleicht hat sie das
beschriebene “Flohkino” damals auch besucht.
Wann das TIVOLI geschlossen wurde, weiß ich nicht.
Immer in Wedding lebe und leben lassen vielen Dank fuer neues
Ich habe in der Liebenwalder Str. gewohnt. Das Schraders an der Ecke. Damals war es noch eine Kneipe. Ich habe gerne da gewohnt. Tolle Nachbarn. Festgequatscht auf der Strasse, die Männer brachten uns Stühle raus. Meine türkische Nachbarin lud mich zu gefüllten Auberginen ein. Wir feierten auf dem Hof. Where the good times gone?
Hallo
das Kino in der Badstraße könnten die Humboldt-Lichtspiele gewesen sein ….. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Kinos_in_Berlin-Gesundbrunnen
Die Gruppe Ultravox hab ich ebenfalls gehört und live im Kantkino erlebt !!
Die Fotos der Abrisshäuser mögen im Wedding sein , aber soll das so noch Ende der 70er dort ausgesehen haben??
Sieht für mich eher nach 50er Jahre aus….
Gruß
Als ich 1973 meiner damaligen Partnerin aus Wessiland meine alte Heimat zeigen wollte,stand ich entsetzt vor den Trümmern des gesundbrunnens
Hallo, die Fotos der Abrisshäuser sind tatsächlich von 1981. Es waren die letzten im Sanierungsgebiet; entlang der Brunnenstraße standen schon die Neubauten… Und ja, „Humboldt-Lichtspiele“ klingt irgendwie vertraut. Schöne Grüße
Hallo
bin zwar im Wedding geboren und erst 1976 zurück gezogen, aber an solche Abrisshäuser kann ich mich partout nicht mehr zurück erinnern . Auch nicht bei den vielen Besuchen in der Zeit dazwischen bei der Familie , die zw. Nettelbeckplatz und Soldiner gewohnt hat.… liegt dann wohl daran das ich kaum im “Grenzgebiet” Brunnen bis Voltastr gewesen bin
Gruß
Hallo Reinhard, die Abrissbirne “regierte” zwischen 1976–1981 auch “tief im Zentrum” vom Wedding, sozusagen mitten-drinne:
Oudenarder Straße Hinterhof-Häuser zur Liebenwalder Straße.
Ich habe in der Malplaquetstrasse ab 1975 gewohnt und war Zeitzeuge
von Hinterhaus Sprengungen, bei dem o.g., das war als “kleena Piepel” janz
großet Kino.
Gleiches galt für den Häuserblock Ruheplatzstraße, zwischen Antonstraße
und Gerichtstraße ggü. der Wedding Grundschule.
Man muss sich nicht an alles erinnern, dafür gibt es auch die “Spätgeborenen”,
die wissen ooch wat und waren ooch dabei.Wa?
Bis denne.
Ich lebe seit den 70 ern im Wedding.
In der Badstraße war Ende der 70 er ein Kino. Dort habe ich als 8 Jähriger Apokalypse Now und viele Zombifilme gesehen.
Die größte Kneipe war der Runde Tresen am Bahnhof Gesundbrunnen.
Jugendliche haben sich gerne im Faß getroffen, daß war eine Musikkneipe mit viel Hardrockmusik, sie hat sich auch in der Badstraße befunden.War super da!!!
Die 70 er und 80 er im Wedding waren echt eine wilde Zeit.
Ich lebe heute im Soldiner Kiez und bin dem Wedding treu geblieben.
Hallo zusammen und vielen Dank für die profunden Antworten!
Die Abrisshäuser standen zwischen Brunnen- und Graunstraße, Ramler- und Voltastraße, den WASSERMANN hatte ich tatsächlich vergessen und das SPUTNIK war mein Lieblingskino! Ja, das CAFE BARRIKADE und die besetzten Häuser in der Buttmannstraße wären einen eigenen Beitrag wert…
(65 for ever!)
Ich suche noch immer Fotos von der Graunstr.vor der Sanierung,und würde mich riesig freuen wenn da was gefunden würde
das NOWAWES war anton/ecke ruheplatzstr. direkt neben andys bierstuben. nach abriss baute dort die steglitzer wohnungsbaugenossenschaft seniorenwohnungen.
TRALJE hiess übrigens nach den holzgeländerteilen in berliner wohnhäusern, gern entwendete raritäten.
WASSERMANN torfstr gabs noch, erste kneipe mit altbier vom fass.
und SPUTNIK kino in der reinickendorfer nicht zu vergessen.
aNNO 1900 triftstr, VOM FEINSTEN türkenstr., VIRGINIA WOOLF malplaquetstr, – sehenswertes secondhand.
SCHRIPPENKIRCHEbesetzung 79⁄80 samt räumung auch erwähnenswert und die PUTTE natürlich
BARRIKADE und besetzte buttmannstr. wäre ein extra kapitel.
also jede menge los gewesen – danke für den netten artikel, lässt erinnerungen zu
Ein sehr lesenswerter Beitrag,gerne hätte ich noch gewusst wo die Fotos der Abrisshäuser entstanden sind,da auch ich einen großen t
Teil meiner Kindheit im Gesundbrunnen bei meiner Oma verbracht habe.
Das Taxemoon war am Weddingplatz. Nach meiner Taxischicht bin ich gelegentlich in dieser besonderen Atmosphäre gelandet.
Genau. Im Taxemoon war danach viele Jahre dieses riesige Autozubehörgeschäft (“tip”?)