Beobachtungen eines Baustellen-Kiebitzes
Der berühmte Overfly ist keine Abschussrampe für eine Rakete, auch keine Skisprungschanze, sondern die Rampe für die Überführung der kommenden S 21 vom Hauptbahnhof über die Perleberger Straße, den Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal und der Tegeler Straße zum Bahnhof Wedding. Ein Meisterwerk der Statik und Architektur. In weiser Voraussicht auch schon mit ausreichenden zukünftigen Graffitiflächen versehen. Mehr dazu, sehr detailliert, vom Baustellenkiebitz, Ehlert Puvogel.
Die südliche Betonhohlkastenbrücke für die S 21 ist fertig. Sie beginnt bei der imponierenden Rampe, die abwärts zum Berliner Hauptbahnhof führt. Dort ist das südliche Auflager. Sie endet bei der eingefahrenen stählernen Langhansschen Stabbogenbrücke, die die Perleberger Straßenbrücke überspannt, die wiederum überbrückt die Eisenbahngleise. Die graue Betonhohlkastenbrücke hat eine Länge von 265 Metern, wird von 4 Pfeilern getragen und ist an der Rampe und an dem Betonpfeiler, der auch die Stahlbrücke trägt, aufgelegt.
Die Spannweite zwischen den Pfeilern beträgt jeweils 53 Meter, also 5 mal 53 = 265 Meter. Wenn man den Hohlkasten bei der südlichen Rampe von unten betrachtet, ist nichts mehr von seinem Stahlskelett zu erkennen, nur noch die Abdrücke der Schalungsbretter sind schwach zu sehen.
Der Betonhohlkasten hat folgendes Profil: In der Betonhohlkastenbrücke wurde sowohl schlaffe Bewehrung wie auch gespannte Bewehrung verbaut. Die schlaffe Bewehrung, die aus unterschiedlich dicken, geriffelten Moniereisen (Betonstahl B 500 B) besteht, wird üblicherweise mit Drähten festgerödelt oder neuerdings auch verschweißt. Nach dem Einbringen des Betons (Druckspannung) fängt diese Bewehrung die Biege- oder Zugspannung auf. Die Bewehrung mit ihrer gespannten, horizontalen Komponente bestand aus:
- 16 bzw. 18 Hüllrohren, die in den äußeren Seiten des Hohlkasten befestigt und in Beton eingegossen wurden und
- aus jeweils 31 Stahlkabeln von bis zu 60 Meter Länge, die in die Hüllrohre hydraulisch hineingestoßen wurden.
- Die Stahlkabel wiederum sind aus 6 Litzen zusammengesetzt, die eine zentrale Litze spiralig umwinden. Die Litzen bestehen aus einem extra zugfesten Spannstahl: St 1570⁄1770. Ein solches Kabel mit den 7 Litzen sieht folgendermaßen aus:
Erst nach der Erhärtung des Brückenbetons wurden die 31 Stahlkabel hydraulisch in die Hüllrohre gestoßen und am Ende in den Ankerbuchsen eingefädelt. Möglichst soll sich keines der 31 gut 60 Meter langen Kabel auf dem Weg zur Ankerbuchse im Hüllrohr verklemmen, doch das kommt vor und erfordert neue Berechnungen. Insgesamt wurden dann also 7 mal 31 mal 18 = 3906, bzw. 7 mal 31 mal 16 = 3472 Litzen nach Erhärtung des Betons für die schlaffe Bewehrung mit einer Spezialmaschine hydraulisch gespannt ähnlich wie Klaviersaiten – und dann in den Ankerbuchsen verkeilt. Dann goss man in die Hüllrohre einen speziellen, geschmeidigen, flüssigen Zementmörtel (CEM 1, 42,5 R), der diese Horizontalspannung nach seiner Erhärtung für immer fixierte. Diese Spannbetonbrücke besteht wegen ihrer gebogenen Form aus drei Teilen, die jeweils bis zu einer Koppelungsfuge reichen. Von einem Auflager wurde bis zu den Koppelungsfugen gespannt.
Die Zusammenfügung der Brückenteile erreichte man, indem andere Hüllrohre mit Kabeln und Litzen die Koppelungsfugen verbinden. Vor und hinter den Koppelungsfugen gibt es sozusagen Zwischenankerplätze. Die gesamte Länge der Brücke von 265 Metern ist somit spannungsmäßig homogen, die Koppelungsfuge von außen nicht mehr erkennbar. Hier sieht man eine Koppelungsfuge vor Ort im Schnitt. Und hier habe ich, also der Baustellenkiebitz, einen Blick in die Auflagerkammer an der südlichen Rampe gewagt. Die Decke ist also noch nicht betoniert! Die 31 mal 18 = 558 Kabel = 3906 Litzen schauen aus den 18 Ankerbuchsen heraus, müssen noch gekürzt und verkeilt werden. Die Spannung der Litzen wird nicht direkt auf die Seitenwände des Hohlkastenträgers übertragen, sondern allmählich in die dünner werdenden Wände eingekoppelt, wie man an der Perleberger Straßenbrücke bei der noch nicht eingeschalten Decke sieht. (Die Anschlusseisen für die Decke habe ich wegen der Übersichtlichkeit weggelassen!).
Die Hüllrohre verlaufen in den Seitenwänden auch durchaus nicht strikt geradlinig sondern jeweils über den Pfeilern mit den Jochen bogenförmig nach oben und wieder nach unten. An der höchsten Stelle des Hüllrohres waren nummerierte Plastikschläuche befestigt. Dort wurde der Spezialzementmörtel für jedes Hüllrohr extra eingetrichtert. Wenn der Mörtel an der tiefsten Stelle herauslief, also bei der jeweiligen Ankerplatte mit ihrer Ankerbuchse, war das Hüllrohr voll.
Nicht außer Acht zu lassen war die Entwässerung der Brücke. Sie musste genau durchdacht werden, um eine spätere Unterspülung der Pfeiler durch Regenwasser zu verhindern. Die Pfeiler befinden sich ja alle auf jeweils acht Bohrpfählen, die 30 Meter tief in den brandenburgischen Sand reichen, auch mittels einer nachträglich eingebrachten und eindringenden Zementemulsion mit dem Sandkapillarraum quasi verzahnt sind. Auf diese Pfähle kam eine verbindende, armierte Betonplatte und erst darauf der Pfeiler. Wegen der Entwässerung wurde extra Rückhaltebecken für das Regenwasser gebaut. Jetzt steht die Vollendung des zweiten Teils der Brücke an.
Ausgehend vom nördlichen Auflager an der dann gesperrten Tegeler Straße überspannt sie den Berlin-Spandauer-Schifffahrtskanal, wird unterstützt von drei Pfeilern und erreicht das südliche Auflager, die Langhansschen-Stabbrücke. Ob man es mit der gleitenden Schalung macht, also nach dem Fly-over-Modell?
Text/Skizzen: Ehlert Puvogel
Demnächst erscheint “Alles Wedding”, ein Sprengelkiez-Fanzine gestaltet von Uwe Bressem und herausgegeben von Ehlert Puvogel. Darin findet sich auch dieser Text.
Da wird sich der Baustellenkiebitz aber freuen! Danke an die Redaktion, für den Aufwand!