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Die Kolumne: Unter Nachbarn

1. Oktober 2014

Die Woh­nung oben wür­de ich gern mal sehen. Ich stel­le sie mir vor wie einen Hob­by­kel­ler – mit Schum­mer­licht und unzäh­li­gen, mit schwe­ren Appa­ra­ten voll gestell­ten Ikea-Rega­len, die nicht lasiert oder lackiert wur­den, einem Berg von Werk­zeu­gen im Zen­trum und einem klei­nen, mick­ri­gen Hibis­kus auf der Fens­ter­bank. Den Hibis­kus habe ich ein­mal aus der Nähe gese­hen, als die Frau im drit­ten Stock die Urlaubs­pfle­ge über­nahm und das Pflänz­chen durch das Trep­pen­haus getra­gen wur­de. Der Besit­zer ist ein Herr mit schüt­te­rem Haar und Bril­le. Er wirkt ruhig – wie einer, der ein­fach nichts zu sagen oder viel zu ver­ber­gen hat. Doch die schwe­ren Vibra­tio­nen und der krei­schen­de Gesang sei­ner Bohr­ma­schi­ne, die sich durch den Stahl­be­ton quält, sind stets prä­sent im gan­zen Block.

Brunnenviertel
Das Brun­nen­vier­tel von oben in den Blick neh­men. Foto: And­rei Schnell

Der älte­re Herr mit dem Hund ganz unten hat sich end­lich von sei­nem trau­ri­gen Blick befreit. Der Tod sei­nes vier­bei­ni­gen Spa­zier­freun­des vor eini­gen Jah­ren hat­te ihm schwer zuge­setzt, ich konn­te es sehen und in sei­ner Stim­me hören. Doch nun lächelt er sogar manch­mal wie­der zum Gruß, wenn ich ihm auf der Trep­pe begeg­ne. Die Woh­nung neben der Frau mit dem grü­nen Dau­men und dem schöns­ten Bal­kon der Sied­lung wird von zwei Frau­en bewohnt, an denen zwei Din­ge erwäh­nens­wert sind: Sie sind ver­hei­ra­tet und kom­men nicht los von der Fla­sche. Alle Hochs und Tiefs, aber beson­ders die Tiefs, ihrer Alko­hol­kar­rie­re wer­den öffent­lich in der hell­hö­ri­gen Platte.

Ganz oben in der 6. Eta­ge hat mal eine jun­ge Frau gewohnt, die das Amt geschickt hat. Sie hat­te zwei klei­ne Kin­der, die sie gern stun­den­lang allein mit dem kläf­fen­den Köter ließ. Sie unter­hielt sich den hal­ben Tag mit ihren Freun­din­nen – sie auf dem Bal­kon mit Kip­pe im Mund­win­kel, die Freun­din­nen brüll­ten ihre Ant­wor­ten zur Freu­de aller Mie­ter von der Stra­ße aus zurück. Nachts begeg­ne­te ich manch­mal auf den Stu­fen wech­seln­dem Her­ren­be­such auf dem Weg nach oben. So wech­selnd und von zeit­lich kur­zer Dau­er, dass ich auf merk­wür­di­ge Gedan­ken kam. Dem Vater eines der Kin­der warf die Mie­te­rin eines Tages unter lau­te­rem Gebrüll als üblich das hal­be Woh­nungs­in­ven­tar und den Inhalt eines Klei­der­schran­kes über die Bal­kon­brüs­tung ent­ge­gen. Wenig spä­ter zog sie selbst aus, still und leise.

Auch das jun­ge Pär­chen, der com­pu­ter­süch­ti­ge Mann und sei­ne ver­wöhn­te und stets unzu­frie­de­ne Frau mit dem fast schul­pflich­ti­gen Kind, das sein spär­li­ches Voka­bu­lar aus Talk­shows oder von der net­ten Blu­men­frau in der drit­ten Eta­ge hat­te, ist inzwi­schen aus­ge­zo­gen. Geblie­ben sind die, die schon immer da waren, die stil­len Alten, die Prag­ma­ti­ker, die gern zen­tral und güns­tig woh­nen, die Zuge­zo­ge­nen aus Aller­her­ren­län­der, die Uner­schro­cke­nen und die die glau­ben, der Wed­ding wer­de sich schon noch ent­wi­ckeln. Auch den Mann, der es als Beru­fung emp­fin­det, den Müll aller Nach­barn nach­zu­sor­tie­ren, um die Betriebs­kos­ten zu sen­ken, ist wohl fürs Leben ein fes­ter Teil des Hauses.

Nie­mand will heu­te eigent­lich in der Plat­te woh­nen, ins­be­son­de­re nicht die Men­schen aus dem Prenz­lau­er Berg und aus Alt-Mit­te von der ande­ren Sei­te der Stra­ße. Vor der so genann­ten behut­sa­men Stadt­sa­nie­rung war unser kom­plet­tes Vier­tel dem Erd­bo­den gleich gemacht und mit als häss­lich gel­ten­den Neu­bau­woh­nun­gen bestellt wor­den. Ein Glück, denn die­se Fas­sa­de schützt unser Vier­tel an der Gren­ze zu Mit­te vor vie­len Woh­nungs­su­chen­den und rasch stei­gen­den Mie­ten. Und so kom­men sel­ten neue Nach­barn und wir woh­nen hier alle zusam­men, in der Mit­te von Ber­lin: der Hand­wer­ker, der Rent­ner mit ohne Hund, die Blu­men­frau, das homo­se­xu­el­le Pär­chen, der Müll­sor­tie­rer und die ande­ren, deren Lebens­li­ni­en sich im der Neu­bau­block irgend­wo im Wed­ding berühren.

Wed­ding ist nicht Wed­ding. So steht es auf der Sei­te www.planet-wedding.de. Blog-Betrei­be­rin Domi­ni­que Hen­sel schreibt dort seit 2008 über ihre Erleb­nis­se im Wed­ding. Ab sofort lädt die Jour­na­lis­tin aus dem Brun­nen­vier­tel die Leser des Wed­ding­wei­ser ein Mal im Monat dazu ein, einen Blick in die Welt einer Wed­din­ger Fami­lie zu wer­fen. Die pri­va­te Kolum­ne über eine Fami­lie auf dem Pla­ne­ten Wed­ding – immer am ers­ten Mitt­woch im Monat. Heu­te: Unter Nachbarn.

Foto/Text: Domi­ni­que Hensel

Dominique Hensel

Dominique Hensel lebt und schreibt im Wedding. Jeden zweiten Sonntag gibt sie hier den Newsüberblick für den Stadtteil. Die gelernte Journalistin schreibt für den Blog gern aktuelle Texte - am liebsten zu den Themen Stadtgärten, Kultur, Nachbarschaft und Soziales. Hyperlokal hat Dominique es auf jeden Fall am liebsten und beim Weddingweiser ist sie fast schon immer.

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