Bettina Pinzl arbeitet in der Fabrik Osloer Straße beim Projekt Demokratie in der Mitte. Die großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, bei denen sich in Berlin im Januar und Februar mehrmals Hunderttausende versammelten, sind der Anlass für ein Interview mit der Projektleiterin.
Die Internationalen Wochen gegen Rassismus, das hört sich in diesem Jahr nach etwas besonders Notwendigem an. Was ist das für eine Veranstaltungsreihe?
Bettina Pinzl: Die Internationalen Wochen gegen Rassismus werden hier bei uns organisiert vom Bündnis „Zusammen gegen Rassismus – Wedding & Moabit“. Das Bündnis plant die Veranstaltungsreihe seit 2017. In diesem Jahr gibt es vom 11. bis 24. März Lesungen, Aktionen, Workshops und vieles mehr. Jetzt, Anfang Februar, sind wir dabei, das Programm zusammenzustellen. Ende Februar, Anfang März werden wir das digitale Programmheft auf der Webseite www.demokratie-in-der-mitte.de online stellen und auch über Instagram verbreiten.
Gibt es Veranstaltungen, die jetzt schon feststehen?
Bettina Pinzl: Beispielsweise wird es am 21. März um 19.30 Uhr in der Fabrik Osloer Straße eine Lesung mit Gespräch geben. Ozan Zakariya Keskinkilic wird aus seinem Buch „Muslimaniac“ lesen. Darin geht es um antimuslimischen Rassismus in unserer Gesellschaft. Vor der Lesung gibt es ab 18.30 Uhr ein Iftar (Abendessen). Eine Anmeldung ist unter [email protected] möglich. Am 23. März bietet das August-Bebel-Institut in der Müllerstraße einen Stadtrundgang zu den Deportationen jüdischer Mitmenschen aus dem Wedding in der NS-Zeit an.
Was ist die Aufgabe von Demokratie in der Mitte. Kann sich an das Team wenden, wer jetzt etwas für die Demokratie zu will?
Bettina Pinzl: Wir sind keine Börse für politisches Engagement. Wobei eine Demokratie-Börse ein schöne Idee ist. Zu einem solchen Mittler zwischen Möglichkeiten des Engagements und Bürger:innen zu werden, ist eine Frage von Ressourcen und Kapazitäten. Aktuell sind wir eine Anlauf- und Fachstelle für Beratung und Vernetzung. Wer sich konkret engagieren möchte und schon eine Idee im Kopf hat, dem können wir mit unserem Inititativfonds mit bis zu 500 Euro unterstützen.
Organisiert Demokratie in der Mitte Demos?
Bettina Pinzl: Nein, unser Auftrag ist es vielmehr, Menschen zu begleiten und zu unterstützen. Unser Konzept ist, Menschen zu befähigen, selbst aktiv zu sein. Dabei wirken wir auf der lokalen Ebene.
Was kann man im Alltag für die Demokratie tun?
Bettina Pinzl: Zuerst muss man wissen: Die Demokratie zu verteidigen, ist ein Marathon, kein Sprint, wir brauchen da jetzt einen langen Atem. Und dafür ist die Frage wichtig: Wer bin ich darin? Ein Beispiel: Viele sind erschrocken, treibt die Frage um: Was kann ich tun? Da ist es gut, für sich erst einmal die Fragen zu beantworten: Was will ich? Ein Zeichen setzen? Geht es mir um das Gefühl, wir sind mehr? Will ich mich langfristig engagieren? Weiter geht es dann mit Fragen wie: Was ist meine Motivation? Will ich Menschen von der Demokratie überzeugen? Oder bin ich wirklich interessiert zu hören, warum Menschen das System kritisch sehen? Oder will ich Gleichgesinnte finden? Und natürlich geht es um Selbsterkenntnis: Aus welcher Perspektive schaue ich drauf? Welche anderen Perspektiven gibt es?
Sollten wir alle viel mehr über Demokratie nachdenken?
Bettina Pinzl: Ich denke, wir leben in einer Zeit, in der wir wahnsinnig viele Informationen anhäufen. Aber wir haben oft nicht mehr die Zeit, wirklich darüber nachzudenken, welchen Platz nehme ich da ein? Das erfordert Zeit für Selbstreflexion. Und daran anschließend braucht es Zeit, sich mit anderen auszutauschen. Auch dafür fehlt oft die Zeit. Und dadurch, glaube ich, wird alles so komplex, einfach weil alles nur noch ganz viel Information ist. Beispiel Antisemitismus. Fühle ich als Nachfahre der Täter des NS eine besondere Verantwortung? Was bedeutet der Holocaust für mich und warum? Wie kommen wir aus unterschiedlichen Perspektiven in einen Dialog und werden handlungsfähig gegen jede Form von Hass und Ausgrenzung? Oder antischwarzer Rassismus? Profitiere ich von kolonialen/rassistischen Strukturen? Wie bewusst mache ich mir meine Privilegien?
Demokratie in der Mitte beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Demokratiethemen. Könnte das Team die Bundesregierung beraten, was wäre der erste Vorschlag an die Politik?
Bettina Pinzl: Ich würde empfehlen, der Demokratiebildung in der Schule eine viel höhere Priorität einzuräumen. Ich würde die Aufmerksamkeit darauf richten, dass Demokratie das Gesellschaftsmodell ist, das wir uns ausgesucht haben und das wir leben und verteidigen müssen.
Vor einem Jahr haben wir ein Interview geführt. Damals war der Tenor des Gesprächs, dass die Rechtsextremen im Wedding nicht mehr, aber lauter geworden sind. Wie ist das heute?
Bettina Pinzl: Rechte Debatten haben sich verankert, die AfD ist zu einer Größe geworden. Das ist schon eine neue Dimension, auch über Deutschland hinaus. Das Anwachsen des Rechtsextremistmus, das ist ja europaweit so. Mit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg gibt es auch bei uns einen wahnsinnig stark steigenden Antisemitismus UND gleichzeitig wachsenden antimuslimischen Rassismus. Viele Menschen fühlen sich hier nicht mehr sicher und überlegen das Land zu verlassen. Eine Demokratie muss für alle Bürger:innen Sicherheit und Chancengleichheit ermöglichen.
Kommen wir noch mal zurück in den Wedding. Wer jetzt etwas mehr tun möchte als zu einer Demonstration zu gehen, was kann er oder sie tun?
Bettina Pinzl: Sie/er kann bei uns vorbeikommen und Aufkleber abholen, unsere Inhalte auf Social Media teilen oder unseren Newsletter abonnieren, in dem wir auf Fortbildungen und Workshops hinweisen. Da geht es zum Beispiel um Arguentationsschulungen: Wie rede ich mit der Nachbarin? Man kann bei den Veranstaltungen im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus mit den auf dem Gebiet aktiven Vereinen und Initiativen im Stadtteil ins Gespräch kommen und so ein Engagement finden. Und natürlich kann man – morgen ist ja auch in Teilen unseres Bezirks die Wiederholungswahl – demokratisch wählen gehen.
Mehr über die Arbeit von Demokratie in der Mitte gibt es online unter www.demokratie-in-der-mitte.de. Mehr zum Netzwerk „Zusammen gegen Rassismus – Wedding & Moabit“ ist auf der Seite www.zusammen-gegen-rassismus.de zu finden. Gut zu wissen: Am 3. März startet der Weddingweiser zusammen mit Demokratie in der Mitte eine neue Demokratie-Kolumne. Monatlich geht es darin um Demokratiethemen.